In der Zeitschrift «Illustrierte Welt» aus dem Jahr 1888 (Sechsundreissigster Jahrgang, 11. Heft, Seite 251) wird das Mädchen «Krao» beschrieben. Zu dieser Zeit wird in Berlin in Satans Panoptikum ein vollkommen bahaartes Kind präsentiert, «welches von nicht geringem anthropologischem Interesse ist.», so der Redakteur. Das Mädchen, vom Impressario Farini «Krao» genannt, was offenbar übersetzt Affenmensch bedeutet, zieht viel Publikum an und beschäftigt auch die Wissenschaft. Krao, aus Bangkok stammend, gemäss Zeitungsartikel 10 Jahre alt, «teilt nicht nur Ähnlichkeit, sondern auch andere Eigentümlichkeiten mit besagten Vierfüsslern. Die Hände sind in gleichem Masse beweglich wie die Pfoten der Schimpansen, die einzelnen Glieder lassen sich vollständig nach oben umbiegen, ohne dass Krao Schmerz empfindet.» Die Beschreibung des Mädchens, das an einem genetischen Defekt litt, ist wenig menschlich. Der Redakteur ist der Meinung, dass «der Anblick, den Krao bietet» gemildert werde «durch den Umstand, dass das Kind verhältnismässig zivilisiert ist und ein nettes, freundliches Wesen zeigt.» Die Wortwahl ist bezeichnend. Das freundliche Wesen, ein Kind, das offenbar schon mit sieben Jahren nach Europa kam oder verschleppt wurde, scheint dem Redakteur doch leid zu tun, jedoch beschleicht den Lesenden des Artikels heute ein zwiespältiges Gefühl, was den Redakteur und seine Gefühle anbelangt. Er verabschiedet sich 1888 von der Leserschaft mit der Aussage, dass «den Beschauer (!) ein aufrichtiges Gefühl des Bedauerns, gemischt mit lebhaftem Interesse für das ihm gebotene interessante Naturschauspiel» beschleicht.
Menschen wie Krao waren damals auch Objekt der Wissenschaft. Zu dieser Zeit suchten Forscher das fehlende Glied zwischen Affen und Menschen. Viele Wissenschaftler waren der Meinung, mit Krao den Nachweis erbringen zu können, dieses fehlende Glied in der Evolution des Menschen gefunden zu haben. Natürlich gab es auch Wissenschaftler, die diese Meinung nicht teilten. Menschen wie Krao, in diesem Fall ein kleines Kind, halt eben mit einem behaarten Körper, wurden an Messen und im Zirkus ausgestellt und von den Zuschauern gegen Bezahlung begafft, eine frühe Art von Freakshow für die Öffentlichkeit.
Grossväter und Grossmütter, wissen von ähnlichen Fällen zu erzählen. Sie erinnern sich, Menschen mit besonderen Merkmalen oder anderer Hautfarbe selber zusammen mit ihren Eltern gesehen zu haben, auch in der Schweiz, beispielsweise an der Herbstmesse. Im Zoo Basel wurden insgesamt 21 Völkerschauen durchgeführt, nachzulesen auf der Website des Zoo Basel, der sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzt.
Wer denkt, dass sich das heute geändert hat, geht natürlich fehl. Das Panoptikum, wie damals in Berlin, gibt es nicht mehr, Völkerschauen im Zoo sind heute undenkbar – jedoch scheinen Fernsehshows, wie bspw. «Mein Leben mit 300 kg» und «Dschungelcamp», immer noch ein Millionenpublikum anzuziehen. Diverse TV-Formate, sie dürfen problemlos als «Freakshows» deklariert werden, überbieten sich mit der Ausstellung und Erniedrigung von Menschen, die heute freiwillig ihre privaten Türen öffnen und alles erdenkliche preisgeben und tun, was zur Befriedigung des Marktes beiträgt, selbstverständlich gegen Bezahlung und mit der Hoffnung auf ein bisschen Ruhm, um den Voyeurismus der Zuschauer in ihren Stuben befriedigen zu können. Ein Millionengeschäft und ein Panoptikum der besonderen Art, an dem der Impressario Farini sicher Gefallen gehabt hätte.
© 2023 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.
Das könnte Sie auch interessieren:
- Die schöne Schifferin vom Brienzersee – die Loreley des Berner Oberlands
- Lockdown im Berner Oberland – ein Blick zurück in die Zeit der Pest
- Wie ein Bündner Lyon zur Weltstadt machte
- Die steilste Drahtseil-Zahnradbahn der Erde – «Nil mortalibus arduum est»
- Die Rigieisenbahn 1870 – ein begeisterter Redakteur über das Wunder menschlichen Erfindungsgeistes
- Edison’s Phonograph – ein „Zauberschlag“
- Elektrischer Motorwagen – vor 115 Jahren durch die deutsche Reichspost eingeführt
- Lesenswerte journalistische Fehleinschätzung aus dem Jahr 1893 – „Die Geschichte des Panzers – Panzergeschichten“
- Blick in die Vergangenheit, als ein Redakteur 100 Jahre in die Zukunft schaute