Im Jahr 1870 schreibt ein Redakteur der «Illustrierte Zeitung» über das «bevorzugteste Jahrhundert der Wunder menschlichen Erfindungsgeistes, seit unsere Mutter Erde besteht» (Illustrierte Zeitung», Nr. 1407. 18. Juni 1870, 471 ff.). 20 Jahre sei es her, also 1850, als Professor Albrecht in Winterthur das Projekt einer Luftbahn auf den Rigi, von Arth aus bis auf den Kulm, bekannt machte und ein Modell dazu fertigen liess. Statt einer Dampfbahn sei ein Luftballon für die Triebkraft vorgesehen, beschreibt der Redakteur August Feierabend. Offenbar funktionierte diese Idee nur mit dem Modell und das Projekt des Professors wurde nicht weiterverfolgt.
Drei eidgenössische Verbündete hätten nun vor einem Jahr ein «Concessionsbegehren» gestellt, führt der Schreibende aus. Es ging um das Projekt einer «Bergeisenbahn» bis zum Kaltbad. Das Projekt wurde in der Folge von Zeitungen als «Humbug», «Zeitungsente» und «ein Bär aus dem Land dahinten» abgetan. Dieses Mal war es aber anders. Der Berg Rigi sollte mit einer «Eisenkrone» geschmückt werden. Zehn Jahre zuvor gab es im Kurort Vitznau noch keine Strasse. Gegen viel Widerstreben wurde dann doch eine Strasse von Weggis her nach Vitznau gebaut. Der «Maschinenmeister der schweizerischen Centralbahn» namens Riggenbach aus Olten (Anm.d.R.: Es handelt sich um Niklaus Riggenbach, der im Elsass zur Welt kam und die Bahnindustrie in der Schweiz revolutionierte, eine Art frühe Version von Elon Musk) fuhr nach Amerika, um dort die Bergeisenbahn auf den Mount Washington zu begutachten.
Riggenbach kennen die geneigten Lesenden hier aufgrund der Bahn zum Hotel Giessbach am Brienzersee (in Zusammenarbeit mit seinem Ingenieur Roman Abt) und der Standseilbahn Territet–Glion (siehe dazu Xecutives.net-Beitrag: Die steilste Drahtseil-Zahnradbahn der Erde – «Nil mortalibus arduum est»).
Die Rigibahn sollte gleich funktionieren wie die Bahn auf den Mount Washington, was Riggenbach mit den beiden Ingenieuren Näff und Zschokke besprach. Im Frühjahr 1869 sah man bei Vitznau am Rigi die ersten Ingenieure mit Messstangen und anderen Instrumenten zur Vermessung des Berges. Offenbar erzählte man der kritischen Bevölkerung Vitznaus, dass es um einen neuen Pferdeweg gehen würde. Erst nach Abschluss der Messarbeiten wurde das Vorhaben einer Bergeisenbahn verkündet und die drei Pioniere stellten auch gleich die Hälfte des nötigen Aktienkapitals. Bei der zweiten Hälfte des Kapitals handelte es sich offenbar um 1,5 Millionen (!). Das Interesse war sehr gross. Es gab aber auch bedeutenden Widerstand von Seiten des Naturschutzes und der einheimischen Bevölkerung.
Der Redakteur beschreibt die Schwierigkeiten des Baues der Bahn und stellt fest: «Die Länge der Bahn von der Dampfschifflandestelle von Vitznau bis auf die Höhe des Kaltbades beträgt 18 -19,000 Schweizer Fuss, und die Steigung wechselt von 18 – 25 Proc.» Es mussten diverse Sprengungen gemacht werden, für die man «Nitrodynamit» verwendete. Wie beim Mount Washington bediente man sich eines Zahnstangensystems. In der Mitte wurde eine dritte Schiene aus Stahleisen mit Vertiefungen eingebaut, in die die Zahnräder passten, die von einer Dampfmaschine (mit Pferdekraft 120) angetrieben wurden. Der Redakteur spricht von der «Genauigkeit eines Uhrwerkes». Eine Bergfahrt, wie Europa keine zweite bietet, bemerkt er weiter.
Eine Testfahrt am 21. Mai 1870 bestätigte Riggenbachs vorhaben. Offenbar verlief der Test problemlos. Die Testfahrt wurde von rund 40 Personen, darunter mehrere Damen von Basel und Bern, begleitet. Auf einer zweiten Testfahrt beförderte die neue Bahn 30 Schwellen und 72 Arbeiter, begleitet von Böllerschüssen und hundertstimmigen Hurrarufen der Bahnarbeiter, ein vollendetes Spektakel. Bundesrat Näff (Wilhelm Matthias Naeff), der Bruder eines der Ingenieure, war ebenfalls «zufällig» anwesend.
Ob der Redakteur selber auch mit dabei war, lässt sich dem Text nicht entnehmen. Seine Ausführungen auf alle Fälle bezeugen seine Begeisterung für die Technik und seinen Respekt den drei Pionieren gegenüber, denen die Schweiz bis heute viel zu verdanken hat (s. dazu auch das Interview mit Kurt H. Illi aus dem Jahr 2009).
© 2022 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.
Das könnte Sie auch interessieren:
- Die steilste Drahtseil-Zahnradbahn der Erde – «Nil mortalibus arduum est»
- Kurt H. Illi über seinen Werdegang, über Destinationenmarketing und den Schweizer Tourismus
- Elektrischer Motorwagen – vor 115 Jahren durch die deutsche Reichspost eingeführt
- Blick in die Vergangenheit, als ein Redakteur 100 Jahre in die Zukunft schaute
- Lockdown im Berner Oberland – ein Blick zurück in die Zeit der Pest
- Die schöne Schifferin vom Brienzersee – die Loreley des Berner Oberlands
- Wie ein Bündner Lyon zur Weltstadt machte
- Edison’s Phonograph – ein „Zauberschlag“