Dr. Andreas M. Walker

Dr. Andreas M. Walker

Dr. Andreas M. Walker, 1965, studierte in Basel und Zürich Geographie, Geschichte und Germanistik. Als ehemaliges Direktionsmitglied einer schweizerischen Grossbank sammelte er operative Führungserfahrung im internationalen Business und betätigte sich auch als Autor. Walker ist Mitglied diverser Verwaltungsräte und hat sich in den Medien immer wieder prägnant zu Themen der Zukunft geäussert, mit dem er sich auf professioneller Ebene seit vielen Jahren intensiv auseinandersetzt. Der vierfache Familienvater lebt in Basel, ist Co-Präsident von swissfuture und Initiator und Mitglied des Kernteams des Hoffnungsbarometers und von Hoffnungskompetenz. Im Interview mit Christian Dueblin nimmt Dr. Andreas M. Walker kritisch Stellung zu Fragen der Zukunft der Menschheit und der Gesellschaft. Walker spricht aus dem Leben und zeigt auf, dass Suizide in Management-Kreisen, aber auch eine jüngere Generation, bei der der Horizont nicht beim Bonus aufhört, sondern bis zum Lebensglück reicht, einen Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft bewirken. Pubertäts- und Adoleszenz-Phasen von bis zu 20 Jahren sowie das Abdriften in den Cyber Space hält er für problematische Tendenzen. Walker bezweifelt, dass sich mit materialistischen Modellen und den Regeln der Naturwissenschaften allein das menschliche Dasein erklären lässt und zeigt aufgrund der Resultate des Hoffnungsbarometers Veränderungstendenzen auf. Er empfiehlt, weiter als nur bis zum Horizont des eigenen Jahresbonus zu denken und stellt fest, dass wir irgendwann unseren Kindern Rechenschaft abgeben werden, nicht in Form von Rechenmodellen, sondern in Form von Geschichten, an denen wir selber beteiligt sind.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Dr. Walker, der Zukunftsforscher und Interviewpartner Matthias Horx zitiert in einem Buch Mark Twain. Twain sagte treffend, dass sich die Geschichte nicht wiederhole, sondern sich lediglich reime. Das kann einen zuversichtlich oder bedenklich stimmen. Man könnte aus dieser Aussage lesen, dass der Mensch nicht lernfähig ist. Worin besteht dieser „Reim“ Ihres Erachtens und wie steht es Ihres Erachtens mit unserer Lernfähigkeit?

Dr. Andreas M. Walker: Leider beobachte ich tatsächlich mit Wehmut, dass die Werte und Tugenden der intellektuellen Bildung und Aufklärung wohl ihren Zenit überschritten haben. Der Blick in Social Media, Fantasy Filme und virtuelle Games gleicht häufig einem Blick ins tiefste abergläubische und irrationale Barbarentum und ich frage mich, wohl wie Mark Twain zu seiner Zeit, was die Menschheit eigentlich gelernt hat. Dabei muss ich immer wieder feststellen, dass der Rationalismus an Grenzen gestossen zu sein scheint und auf breiter Front erodiert. Gerade im Umgang mit zukünftigen Weichenstellungen und Entscheidungen geht es darum, zuerst zu denken, Daten und Emotionen aus der Vergangenheit und der Gegenwart zu sammeln, zu analysieren und zu interpretieren und diese dann mit den Annahmen zur Zukunft zu kombinieren, um so schliesslich eine reife Zukunftsentscheidung fällen zu können. Hier reimt sich, wenn man genau analysiert tatsächlich einiges. Zu erkennen, was sich verändert, ist das Faszinierende, das Spektakuläre, das „Gewürz“ in der Zukunftsberatung. Zu erkennen, was gleich bleibt, ist für den politischen und wirtschaftlichen Erfolg aber häufig wichtiger. Wir stehen heute aber auch vor Fragestellungen, die wirklich neuartig sind und bei denen wir in den alten Religionen, Mythen und Historien keine Erfahrungen und Muster finden, also kein Reim zu erkennen ist.

Erkenntnis erlangen, fordert einem jeden aktives Tun ab. Aber Lernen und Denken waren noch zu keiner Zeit selbstverständlich und einfach. Das sind anstrengende Ideale, die immer wieder gepflegt und hoch gehalten werden müssen. In unserer Zukunftsbranche wird kontrovers und emotional diskutiert, ob deshalb das Denken und Entscheiden zukünftig nicht lieber der Artificial Intelligence, Computern und Maschinen überlassen werden soll, da diese von rationalen Algorithmen ausgehen. Aber wollen wir wirklich, dass diese unmenschliche Science Fiction-Vision Realität wird?

Dueblin: Erich von Däniken, mit dem ich das Vergnügen hatte ein längeres, erfrischendes und sehr tiefgehendes Gespräch zu führen, vertritt die Ansicht, dass in den menschlichen Genen ein Ziel verankert ist, ähnlich einer Saat, die aufgehen wird. Wie auch immer man darüber denkt, so ist dieser Gedanke doch faszinierend und exotisch. Was halten Sie als Historiker und Zukunftsforscher von solchen Thesen?

Dr. Andreas M. Walker: Diese These ist ein interessanter Paradgimenwechsel, weg vom heute als politisch korrekt geltenden liberalen Individualismus und Wertepluralismus, hin zu einem gemeinsamen Sinn und höherem kollektiven Ziel der Menschheit. Die Saat im Menschen soll quasi auf einer subkutanen Ebene des Unterbewussten der kollektiven Menschheit aufgehen, auf die wir als Individuum gar keinen rationalen Zugriff haben. Das entspricht einem fatalistischen Schicksalsglauben in Bezug auf den Makrokosmos der Menschheit. Es fragt sich, was dieser Glaube für die Freiheit des einzelnen menschlichen Individuums und den persönlichen Mikrokosmos für eine Bedeutung hat.

Das jüdische und christliche Denken sind stark vom Modell einer Herkunft und einer Zukunft geprägt, eine Denkweise, die sowohl das gesellschaftliche wie auch das persönliche Leben miteinbezieht und betrifft. Mikrokosmos und Makrokosmos sind miteinander verschränkt – vom Sündenfall zu Urzeiten hin zur zukünftigen Erlösung in einem himmlischen Paradies. Nicht die Entwicklung einer Saat, aber das Bild des Weges, wird in der europäischen Erbauungs- und Entwicklungsliteratur immer wieder gerne für den Lebensweg verwendet – der Pilger, der durch die Welt wandert und eine Heimat sucht.

Bei diesen philosophischen Fragen erkennen wir, dass wir auf einem historischen Höchststand von Wohlstand und Sicherheit wieder beginnen, die Frage nach einem tieferen Lebenssinn zu diskutieren. Die Moderne, in der wir aufgewachsen sind, war sehr rationalistisch und materialistisch geprägt. Die Postmoderne, an deren Ende wir wohl bald stehen werden, hat Emotionales und Spirituelles wieder zurückgebracht.

Unser jährlich erhobenes Hoffnungsbarometer zeigt, wie wichtig die Frage nach dem Sinn der Arbeit für viele Menschen ist. Die junge Generation Y fordert uns in unseren betriebswirtschaftlichen Modellen heraus, indem sie nicht primär nach Karriere und Bonus strebt, sondern nach Glück und Sinn im Leben. Die aktuellen Selbsttötungsfälle von Spitzenmanagern zeigen uns, dass diese zwar punkto Macht und Kapital auf der Karriereleiter ganz oben standen, aber letztlich an Problemen im Privat- und Familienleben scheitern, die wir nur schwer ökonomisch, aber viel besser emotional oder spirituell, erklären können. Und wir erkennen, dass die Debatte über Menschen-, Welt- und Gottesbilder wieder spannend wird. Das stimmt mich zuversichtlich.

Hat der Mensch und die Menschheit nicht eine viel tiefere, archaische Dimension, die wir nur spirituell erklären können, so dass wir dem „Phänomen Mensch“ mit materialistischen Modellen und den Regeln der Naturwissenschaften nie wirklich gerecht werden? Ist dem so, käme die einseitige massive Förderung der MINT-Disziplinen letztlich einer kostspieligen Sackgasse gleich. Leider haben unsere Universitäten und auch unsere Kirchen in den letzten 50 Jahren nur wenige „Though Leaders“ aus Theologie, Religions- und Geisteswissenschaften hervorgebracht, die uns breit akzeptierte Modelle und Visionen zur zukünftigen Entwicklung der Menschheit liefern. Dafür staune ich immer wieder, wie viele Menschen, auch erfolgreiche Unternehmer und Wissenschaftler, in ihrem letzten Lebensdrittel plötzlich bereit sind, an Welt- und Menschenmodelle aus Esoterik und New Age zu glauben.

Dr. Andreas M. Walker: weiterdenken.ch

Dr. Andreas M. Walker: weiterdenken.ch

Dueblin: Als Initiator von www.hoffnungsbarometer.com erkunden Sie seit Jahren, welche Hoffnungen Menschen hegen und beschäftigen. Welche Erkenntnisse können Sie heute aus diesem Barometer ziehen? Hat er sich in den sechs Jahren seit seinem Bestehen verändert?

Dr. Andreas M. Walker: Die Diskussionen über Zukunftsängste und Zukunftssorgen nehmen in Politik, Medien und Kirche einen grossen Platz ein. Für Risikoforschung und Risikomanagement sind sehr grosse Budgets vorhanden. Seit 2009 erheben wir systematisch Zukunftshoffnungen, anfangs in der Schweiz, mittlerweile aber auch in Deutschland, Frankreich und Tschechien. Wir waren über die Tatsache, dass das Phänomen Hoffnung in den letzten Jahrzehnten in Europa kaum wissenschaftlich untersucht wurde sehr überrascht. Wir sind die ersten, die derart breit, interdisziplinär und empirisch arbeiten, primär in Form von Eigenleistung in unserer Freizeit.

Die vielfältigen Ergebnisse werden von uns laufend auf der Website www.hoffnungsbarometer.com publiziert. Gerne möchte ich hier einige Aspekte aufzählen: Hoffnung existiert und ist wichtig für uns Menschen, nicht etwa nur für die Frommen und die Ungebildeten, sondern gerade auch für Führungskräfte und Entscheidungsträger. Gesunde zwischenmenschliche Beziehungen sind wichtig, sowohl als Ziel der Hoffnung aber auch als Grundlage von Hoffnungskompetenz. Hoffnung ist nicht einfach ein naiver Schicksalsoptimismus, sondern ist insbesondere in der Schweiz sehr stark mit Eigenverantwortung und Selbstkompetenz verknüpft. Im Berufsleben ist die Hoffnung auf eine sinnvolle Arbeit mittlerweile grösser als auf die Karriere oder die Arbeitsplatzsicherheit.

Schockiert hat uns, dass der Arbeitgeber als Hoffnungsstifter und der Arbeitsplatz als Ort der Hoffnung weit unten rangieren. Das erlaubt die Frage, wie unter solchen Umständen eine zukunftsfähige und innovative Wirtschaft gesund wachsen soll.

Dueblin: Hoffnung hat auch einen religiösen Charakter. Oft geht es bei ihr darum, die Verantwortung für sein Tun abzugeben, in die Hände Dritter oder an irgendeine höhere Instanz. Mir selber behagt der Begriff Zuversicht besser.

Dr. Andreas M. Walker: Hoffnung ist ein mehrdeutiger Begriff und Zuversicht ist tatsächlich ein sehr schöner Begriff, der aber in der Schweizer Umgangssprache kaum bekannt ist. Die Definitionen von Hoffnung sind unterschiedlich und das Sprachempfinden, insbesondere in der Umgangssprache ausserhalb der Universitäten und in den schweizerischen Dialekten, liegt nochmals woanders. Ihre Definition von Hoffnung entspricht eher meinem Verständnis von Optimismus. Denn gerade der Optimist glaubt an ein nebulöses Schicksal, daran, dass sich dann schon alles irgendwie zum Guten wenden wird. Tatsächlich wurde Hoffnung als Begriff und Phänomen in früheren Jahrhunderten primär von Theologen und Philosophen untersucht. Unser breit aufgestelltes Hoffnungsbarometer basiert aber nicht auf einer ideologischen oder religiösen Theorie, sondern will das Phänomen Hoffnung empirisch untersuchen.

Die verschiedenen Definitionen von Hoffnung und unsere empirischen Resultaten kann ich folgendermassen zusammenfassen: Hoffnung ist ein positiv besetzter Begriff, der auf eine bessere Zukunft ausgerichtet ist. Für den Hoffenden ist die Erfüllung seiner Hoffnung durchaus realistisch, etwa im Gegensatz zu Träumen, Visionen und Utopien, auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering ist und zudem sehr grosses eigenes Engagement oder Hilfe von aussen nötig ist.

Grosse Unterschiede bestehen bezüglich der Frage, welche Kräfte für die Erfüllung der Hoffnungen zuständig sind. Ist Hoffnung eher eine zwar ausdauernde aber eigentlich passive Haltung, die auf positive Veränderungen und Hilfe von aussen wartet? Also ganz im Sinne Ihres Verständnisses. Oder soll eigenverantwortliche Hoffnung als Selbstkompetenz die Quelle eigener grosser Anstrengungen sein? Soll also das Individuum selbst in der Lage sein, und ist es gar explizit aufgefordert, sich für die Erfüllung seiner Hoffnungen zu engagieren? Interessanterweise stehen diese verschiedenen Ebenen in den jüdischen und christlichen Modellen nicht in einem sich ausschliessenden Widerspruch. Vielmehr ist die jüdisch-christliche Hoffnung eine lebens- und zukunftsbejahende Spannung, die aus einer Mischung von Gottvertrauen und Eigenverantwortung entsteht. Die katholische Kirche nennt das „ora et labora“.

Dueblin: Wir sprechen heute von Megatrends, die unsere Welt verändern. Es gab schon früher solche Trends. Was waren solche Trends in den letzten Jahrzehnten?

Dr. Andreas M. Walker: Megatrends sind die grossen strukturellen Veränderungen, die das Leben der Grosseltern, Eltern und Kinder unterscheidet. Dabei kann es durchaus regionale Unterschiede oder zeitliche Verzögerungen geben. Viele Megatrends laufen schon lange bevor sie genau beschrieben und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen erkannt werden. Sie wirken langfristig und nachhaltig über Jahrzehnte.

Reformation, Aufklärung, Kolonialisierung und Industrialisierung sind Beispiele von Megatrends des letzten Jahrtausends. Die Nutzung der Dampfmaschine für Verkehr und Produktion oder der Elektrizität sind weitere Beispiele. Wichtige technische oder medizinische Fortschritte, Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur oder ein grundlegender Wertewandel können Auslöser solcher Trends sein.

Dueblin: Welche Megatrends beschäftigen die Menschen heute?

Dr. Andreas M. Walker: Die Individualisierung unserer Lebensmuster und Ansprüche sowie der neoliberale Wertepluralismus werden im Zuge von Globalisierung, Urbanisierung und Modernisierung weiter voranschreiten. Solange „Black Swans“, wie bspw. kontinentale Grosskatastrophen, Weltkriege oder der Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystems, ausbleiben, ist ein Rückfall in kollektive oder religiöse Muster, wie im ehemals kommunistischen Russland, im maoistischen China oder im islamistischen Raum, für Mitteleuropa kaum denkbar.

Starke Veränderungen der Gegenwart und Zukunft bringen uns die demografischen Veränderungen, zusammengesetzt aus Langlebigkeit und dem freiwilligem Verzicht auf Fortpflanzung, ermöglich durch grosse medizinische Fortschritte und die verschiedenen Varianten der Familienplanung. Gegenwärtig sprechen alle über die Krise der Finanzierbarkeit des dritten Lebensalters. Wir haben aber erst wenig Vorstellungen, wie Wirtschaft und Politik in einer „senioren Gesellschaft“ konkret funktionieren sollen, in der das dritte Lebensalter der Rente bald gleich lange dauert wie das zweite Lebensalter der Erwerbsphase. Die Rentner bilden die grösste und kaufkräftigste Kundenschicht und können für jeden politischen Entscheid die demokratische Mehrheit stellen. Es werden grosse Fragen und Herausforderungen diesbezüglich auf uns zukommen.

Auch das Bevölkerungswachstum wird uns weiter beschäftigen, sowohl global wie auch regional. Aufgrund wachsender Abfall-, Energie-, Umwelt- und Klimaprobleme sowie der grossen globalen Unterschiede, was Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit angeht, wird Mitteleuropa auch in der kommenden Generation Ziel von weltweiten Bevölkerungswanderungen bleiben. Völkerwanderungen waren Realität in der Geschichte und sie werden es auch in Zukunft sein. Die Globalisierung wird fortschreiten: Handelsströme, Verflechtungen des Eigentums der Grossfirmen, aber auch Tourismus und Geschäftsreisen werden anhalten und zunehmen.

Die laufende Globalisierung und die Cyber-Revolution ermöglichen uns zudem die Überwindung der Grenzen von Raum und Zeit. Oder müssen wir sogar von einer Revolution sprechen, die schützende Grenzen zerstört? Denn auf das Arbeiten und Leben an einem 24-Stunden-Tag in einer 7-Tage-Woche in einem 365-Tage-Jahr sind wir körperlich, sozial und ethisch noch nicht vorbereitet. Der Mensch ist kein biologischer Roboter. Wir werden das Verständnis von Arbeitsmoral, das Verhältnis von Arbeit und Erholung und die Formen der Zusammenarbeit weiterentwickeln müssen.

Dies ist nur ein kurzer Einblick in ein paar ausgewählte Megatrends, wobei ich persönlich von rund zwanzig solcher Megatrends ausgehe. Dabei gibt es keinen absoluten und abschliessenden Katalog, der in einer Industrienorm verbindlich definiert wäre. Auch in der Nomenklatura finden wir Überlagerungen und Widersprüchlichkeiten. Insbesondere haben früher als Journalisten tätige Zukunftsexperten ein erfolgreiches Geschäftsmodell daraus gemacht, jedes Jahr neue Begriffe für neue Megatrends zu erfinden.

Dr. Andreas M. Walker Präsentation

Dr. Andreas M. Walker Präsentation

Dueblin: Vieles scheint trotz ausgefeilten, rationalen Methoden und wissenschaftlichen Erkenntnisverfahren absolut unvoraussehbar und unplanbar, auch in Unternehmen oder in Familien. Sie sprechen von „Black Swans“. Nun könnte man sagen, dass eine Zukunftsplanung gar keinen Sinn macht und sich gerade die Politik besser nur mit dem Hier und Jetzt befassen sollte.

Dr. Andreas M. Walker: Tatsächlich ist die „Zukunftsforschung“ aufgrund fehlender Ressourcen und wenig Transparenz immer noch eine relativ unreife Disziplin in ihrer Wissenschaftlichkeit. Ich kenne viele Studien und Gutachten, die auf der methodischen Metaebene und der Frage nach den Paradigmen in ihrem Umgang mit Veränderungen, Überraschungen und nicht erkannten Vernetzungen mangelhaft und angreifbar sind.

Eines der Probleme liegt ja gerade darin, dass viele Studien einseitig, zu ausgefeilt, zu rational und zu zahlenfixiert sind, so dass unser Verständnis von Wissenschaftlichkeit zu sehr von den Paradigmen der MINT-Disziplinen dominiert wird und dem Charakter von Komplexität und offenen Systemen eben nicht gerecht wird. Wir kennen verschiedene Methoden für den Umgang mit „weak signals“ oder „Black Swans“. Die Studien zur Früherkennung sind zahlreich. Relativ schlecht ist die Erfolgsquote bei der Abschätzung, ob eine Veränderung überraschend schnell kommt oder sie sich doch noch lange verzögert. Häufig suchen wir eine trügerische Sicherheit im technischen Detail, statt dass wir unsere Kompetenz im Umgang mit Veränderungen und Überraschungen ausbauen.

Wie häufig übertragen wir Denkweisen und Modelle aus einem naturwissenschaftlichen Labor oder einem industrialisierten technischen Grossbetrieb vorschnell auf komplexe politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragestellungen. Der „Faktor Mensch“ bleibt „Faktor Mensch“ und die Frage nach dem zukünftigen Kunden, Mitarbeiter und Bürger wird in vielen Planungen unterschätzt. Vielleicht müssen wir wieder mehr über das Menschenbild sprechen. Aber wir haben ja schon früher kritisiert, dass die Sozial- und Geisteswissenschaften seit Jahren im Hintertreffen sind.

Dueblin: Aber es gibt immer wieder Menschen, die etwas mehr wissen und voraussehen. Mir kommt spontan Jules Verne in den Sinn, der auf seine Weise Szenarien beschrieben hat, die eintreffen könnten, aber auch viele UnternehmerInnen, die erfolgreich sind und die richtige Nase für gesellschaftliche Entwicklungen haben. Was unterscheidet solche Menschen von anderen Menschen?

Dr. Andreas M. Walker: Vielleicht ist der Umgang mit der Zukunft eben manchmal weder eine Technik noch eine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Diese genannten Menschen haben den Mut zu denken, weiterzudenken, ihre Gedanken schliesslich zu formulieren und sie können es sich finanziell leisten, ihre Gedanken auszuprobieren und weiterzuentwickeln, obwohl diese regelmässig jahrelang in ihrem Umfeld als irrational und ökonomisch zu riskant abgetan werden. Sie sind bereit, Reputations- und Finanzrisiken auf sich zu nehmen, über Grenzen hinwegzusehen und schliesslich auch Grenzen zu überschreiten. Diese Menschen zeichnet ein reichliches Mass an mentaler Stärke aus. Sie sind alles andere als realitätsfremde Träumer, sondern gute Beobachter, die Zusammenhänge und Nischen erkennen und diese kreativ nutzen können.

Dueblin: Professor Fredmund Malik machte in einem Interview zu Beginn der Wirtschaftskrise schon sehr früh auf die Komplexität unseres Daseins aufmerksam. Es sei sehr schwierig, Zusammenhänge zu erkennen. Ist Ihres Erachtens unsere Welt komplexer geworden, oder ist das ebenfalls lediglich Teil des Reims, wie von Mark Twain festgestellt?

Dr. Andreas M. Walker: Für unsere Vorfahren in der „guten alten Zeit“ war es nicht einfacher, das Wirken der Könige, astronomische Phänomene, Naturkatastrophen oder die Verbreitung von Krankheiten zu verstehen. Sie behalfen sich damals mit magischen oder religiösen Modellen.

Der Menschheit standen noch nie so viel Fachwissen und Modelle, Rechnerkapazitäten und Kommunikationsmöglichkeiten derart schnell und billig zur Verfügung wie heute. Und trotzdem stehen wir heute wieder an einer Grenze. Wir haben in den letzten zwei Jahrhunderten in Wissenschaft, Technik und Medizin mehr Grenzen überwunden als in der ganzen Menschheitsgeschichte zuvor und somit viel Wohlstand, Gesundheit und Sicherheit ermöglicht.

Seien wir also ehrlich, viele unserer aktuellen Probleme sind gar nicht so komplex. Noch immer geht es meistens nur darum, dass wir uns über das Ziel nicht einig sind und darüber, wer den Preis für die Lösung bezahlen soll.

Dueblin: Was spielt bei der Auseinandersetzung mit der Zukunft das Glück für eine Rolle, das einige Menschen anstreben, einige erfolgreich, andere weniger erfolgreich?

Dr. Andreas M. Walker: Für mich ist Glück ein zwar sehr populärer aber zugleich auch zwiespältiger Begriff. Viele verstehen darunter, dass alle ihre Träume in Erfüllung gehen und alle ihre Bedürfnisse möglichst schnell und billig befriedigt werden, zur Freude der Industrie und grosser Konzerne. Vielleicht sollten wir vermehrt danach fragen, wie Zufriedenheit erreicht werden kann. Wobei wir aber auch gleich bei der Frage landen, ob nicht gerade Unzufriedenheit der grosse, notwendige Motor ist, der uns den ganzen Fortschritt in Technik und Medizin ermöglicht hat und uns Wohlstand bringt, von dem wir heute profitieren. Viele Fragen nach Zukunftsängsten und Zukunftshoffnungen führen uns zum Phänomen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das sich nach vertrauensvollen Beziehungen sehnt und den Lebenssinn sucht, der wiederum häufig aus Beziehungen heraus entsteht. Schliesslich hat der Mensch auch transzendente Bedürfnisse.

Dueblin: Planungshorizonte gab es immer, so auch im kommunistischen System, wo auf Jahre hinaus strategisch geplant worden ist, immer mit grossen Zielen vor Augen, die schliesslich nie erreicht werden konnten. Der Planungshorizont 2050 scheint zurzeit ein Trend zu sein, auch in der Politik. Was sind die politischen Chancen und Risiken solcher Horizonte, wenn man doch so vieles nicht voraussehen kann?

Dr. Andreas M. Walker: Die Angst vor der zentralistischen Planwirtschaft im Kommunismus ist aus meiner Sicht einer der unbewussten mentalen Gründe, weshalb so viele Schweizer Unternehmer und Politiker grosse Mühe mit einem professionellen Umgang mit dem Thema Zukunft haben. In der Schweiz sind wir sehr pragmatisch und die Skepsis gegenüber zentralistischer Steuerung ist gross. Unser typisches Milizverständnis in Politik und Armee und unsere Bereitschaft zur Eigenverantwortung führt zu einer breiten Ablehnung von Lösungen von zentral gesteuerten Beratern und staatlichen Experten. Wir wollen unser Schicksal selbst gestalten. Der Schweizer glaubt zutiefst an die Stärke, die Resilienzfähigkeit, der kleinen Systeme.

Der Planungshorizont 2050 stammt im Übrigen aus der Klimadebatte und wird von der UNO an die EU und von dort an die nationale Ebene nach unten weitergeben. Wir sprechen also tatsächlich auch von staatsähnlichen Systemen und Institutionen, die hier breit wirken. Viele Angehörige dieser Behörden und Institutionen, aber auch die Universitäten, stehen dem sozialistischen Welt- und Menschenbild sehr nahe. Die Klimadebatte hat den Hinkefuss, dass 2020, 2025 oder 2030 in Mitteleuropa in Sachen klimatischer Veränderungen noch immer sehr wenig spürbar sein wird, wir also auf Modellrechnungen angewiesen sind, die nur schwer nachprüfbar sind.

Aber vielleicht sollen wir ja gar nicht allzu sehr über das Kalenderjahr hinaus spekulieren. Vielleicht sollten wir einfach lernen, weiter als der Horizont des eigenen Jahresbonus zu denken. Etwas, was übrigens in den 70er- und 80er-Jahren durchaus noch üblich war, gerade auch in der Wirtschaft. Wir sollten uns fragen, wie die Welt aussehen wird, wenn unsere Söhne und Töchter selbst Väter und Mütter sein werden und was wir als Grossväter und Grossmütter unseren Enkeln in Sachen Entwicklung der Welt und in Bezug auf unser eigenes Tun alles erklären wollen. Wahrscheinlich werden wir unseren Enkeln keine Modellrechnungen erklären, sondern Geschichten erzählen.

Dueblin: Ich würde gerne noch einmal Mark Twain bemühen, der sehr gute Geschichten erzählt hat. Er sagte: „Als ich 14 Jahr alt war, war mein Vater für mich so dumm, dass ich ihn kaum ertragen konnte. Aber als ich 21 wurde, war ich doch erstaunt, wieviel der alte Mann in sieben Jahren dazu gelernt hatte.“ Mir scheint auch diese Aussage sehr treffend. Wie nehmen Sie unsere Elterngeneration wahr und wo erkennen Sie grosse Unterschiede zu unserer Generation? Wird sich Twain’s Reim auch in Bezug auf das Verhältnis zu unseren Kindern bemerkbar machen?

Dr. Andreas M. Walker: Wir erleben heute eine Generation von jungen Vätern, die sehr viel Freiheiten und Möglichkeiten hat, über ihre Aufgaben und Rollen als Männer und Väter zu reflektieren und diese zu gestalten. Ich begegne vielen jungen Vätern, die diese Chance sehr bewusst und verantwortungsvoll wahrnehmen. Dies war unseren Vätern und Grossvätern im 20. und 19. Jahrhundert wohl weniger vergönnt, da einerseits die Normierung stark zunahm und zugleich der politische Druck durch die grossen Kriege und der wirtschaftliche Druck sehr gross waren. Wie der Alltag eines Vaters vor der Industrialisierung und Verbürgerlichung aussah, darüber wissen wir relativ wenig. Ich selbst empfinde es als grosse Bereicherung, dass mein eigenes „Vater-Sein“ nicht nur auf die eindimensionale Aufgabe des finanziellen Versorgers beschränkt ist, sondern dass ich die Beziehung zu meinen Söhnen viel ganzheitlicher und emotionaler leben darf als es meinem eigenen Vater möglich war.

Zugleich erleben wir aber auch, dass sehr viele junge Männer aufgrund unserer multioptionalen Gesellschaft und der Gender Mainstreaming-Programme sehr verunsichert sind, was es denn nun heisst, Mann und Vater zu werden. Pubertät und Adoleszenz dauern scheinbar rund zwei Jahrzehnte lang und mancher scheint Mühe zu haben, neben dem Cyber Space auch das Abenteuer von realen Beziehungen mit realen Frauen zu riskieren.

Übrigens zeugen die griechischen Sagen davon, dass die Mann-Werdung schon in mythologischen Urzeiten ein Abenteuer war und dass schon damals die Abfolge von Generationen ein Wechselspiel zwischen Ablösung, Verdrängungskampf und Vererbung war. Das wird wohl auch zukünftig so bleiben. Ich gehe davon aus, dass auch meine Söhne wieder Söhne zeugen werden und dieses Spannungsfeld neu erleben werden. Es wird wohl noch viel Zeit verstreichen, bis man sich stattdessen mit dem Robotersetzkasten einen Androiden an Stelle eines Sohnes selbst bastelt und seine Lebenserfahrung und Altersweisheit per Computerchip implantieren wird.

Dueblin: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Was stimmt Sie zuversichtlich und wo haben Sie Ihre Zweifel?

Dr. Andreas M. Walker: Zukunft bedeutet Leben und Leben bedeutet Entwicklung, Veränderung, Herausforderung und Überraschung. Menschliches Leben ist eben nicht das Funktionieren einer technischen Maschine. Ich bin überzeugt, dass keine frühere Generation derartige Freiheiten und Möglichkeiten hatte, die eigene Zukunft zu planen, wie wir das heute tun können. Deshalb bin ich hoffnungsvoll, oder mit Ihren Worten gesagt „zuversichtlich“, dass ich mit einer gute Balance zwischen Eigenverantwortung und Gottvertrauen noch viele erlebnisreiche Jahre meistern werde.

Neben meinem beruflichen Engagement für meine Mandanten aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik beschäftigt mich die Frage am meisten, wie sich die menschlichen Beziehungen zwischen den Generationen, in den Ehen und Familien, entwickeln werden. Denn alle Umfragen zeigen immer wieder, dass das menschliche Bedürfnis nach solchen vertrauten und verbindlichen Formen gross ist. Die Veränderungen in der Arbeitswelt und der Freizeit eröffnen uns dabei neue Chancen und Herausforderungen, wie wir unsere Beziehungen leben.

In geopolitischer Hinsicht frage ich mich manchmal besorgt, wie lange der 70-jährige Frieden in Mitteleuropa noch anhalten wird, da der globale Wettbewerb um die immer knapper werdenden Ressourcen härter werden wird. Naturkatastrophen, globale soziale Ungleichheiten und regionale Kriege werden auch im 21. Jahrhundert wieder globale Völkerwanderungen auslösen. Europa ist und bleibt eine Zieldestination. Zudem bringt uns die Globalisierung der Wirtschaftswelt heute schon mit anderen Kulturen und Mentalitäten zusammen, mit denen wir leider noch keinen Konsens über die Regeln friedlicher Nachbarschaft und über Grundwerte haben, da diese Kulturen keine Christianisierung, Reformation und Aufklärung durchlebt haben. Hier werden wir mit anderen Welt- und Menschenbildern konfrontiert werden.

Wie wir angesichts von Cyber Space und 24-Stunden-Tagen körperlich und mental gesund bleiben und einen zufriedenen persönlichen Charakter entwickeln können, ist für mich eines der grössten Bedenken auf menschlicher Ebene.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Dr. Walker, ich bedanke mich für dieses Interview und wünsche Ihnen bei Ihren Projekten weiterhin viel Erfolg!

(C) 2014 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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