Dr. Andres Furger, 1948, studierte frühgeschichtliche Archäologie, Geschichte sowie Anthropologie an der Universität Basel. Schon als Kind wollte Dr. Andres Furger Archäologe werden und er las wie viele Jugendliche damals das Buch „Götter, Gräber und Gelehrte“ von C. W. Ceram, der darin auf sehr anschauliche Art und Weise die wichtigsten archäologischen Ausgrabungen der letzten 200 Jahre beschrieb. Seit seiner Zeit als Schüler und später als Student war Dr. Andres Furger an Ausgrabungen beteiligt. Die Ausgrabungen im Rahmen des Baus einer neuen Turnhalle in der Rittergasse 5 in Basel sowie im Basler Münster lieferten den Stoff für seine Lizenziatsarbeit und später für seine Dissertation an der Universität Basel. Dr. Furger war Konservator und Vizedirektor am Historischen Museum Basel und leitete von 1987 bis 2006 als Direktor die Museengruppe Schweizerisches Landesmuseum mit Hauptsitz in Zürich.
Im Interview mit Xecutives.net geht Dr. Andres Furger auf Fragen zu den Römern und Kelten im Raume der heutigen Schweiz ein. Er zeigt auf, was die beiden Völker unterschied, was sich bei der Schlacht von Bibracte im Jahr 58 v. Chr. und später in der Schlacht von Alesia (52 v. Chr.), dem heutigen Alise-Sainte-Reine, zwischen den Kelten und den Römern abspielte, als die Helvetier und andere Kelten-Völker endgültig von den Römern geschlagen wurden. Sein Buch über die Kelten „Die Helvetier – Kulturgeschichte eines Keltenvolkes im NZZ Buchverlag Neue Zuercher Zeitung“ aus dem Jahr 1984 wurde zu einem Longseller und Dr. Andres Furger beschreibt darin nicht nur die Geschichte der Kelten, die auf dem Gebiet der heutigen Schweiz lebten, sondern auch deren Nachhall. Dr. Andres Furger ist ein Pferde- und Kutschenspezialist. Er ist aktiver Gespannfahrer und internationaler Richter an „Concours International d’Attelage de Tradition“ (CIAT), was natürlich auch Fragen rund um die Rolle von Napoleon III. aufdrängt, der sich Zeit seines Lebens, auch im Thurgau, wo er aufwuchs und dessen Sprache er beherrschte, sehr intensiv mit Julius Cäsar und „la Gaule“ auseinandersetze.
Xecutives.net: Herr Furger, Sie blicken auf eine interessante Karriere als Historiker und Archäologe zurück. Zeit Ihres Lebens haben Sie sich u.a. mit den Römern und Kelten auseinandergesetzt und waren an interessanten Ausgrabungen beteiligt, so auch bei Bibracte, dem Ort, wo die Helvetier von Cäsar geschlagen und zurück in das Gebiet der heutigen Schweiz geschickt wurden. Wie kam es zu Ihrer Begeisterung für die Archäologie?
Andres Furger: Es war bereits mein Kinderwunsch, Archäologe zu werden. Als ich 12 Jahre alt war, las ich das Buch «Götter, Gräber und Gelehrte». Es wurde von Kurt Wilhelm Marek unter dem Pseudonym C. W. Ceram geschrieben und veröffentlicht. Er beschreibt auf sehr anschauliche Art und Weise die wichtigsten archäologischen Ausgrabungen der letzten 200 Jahre. In der Schule lernte ich Latein und Griechisch und bestand das Abitur in Basel. Ich fing zunächst an, Biologie und Verhaltensforschung zu studieren. Auch nahm ich Kurse in Philosophie. Der Gedanke, Archäologe zu werden, liess mich jedoch nicht los und ich wechselte nach kurzer Zeit zum Fach Ur- und Frühgeschichte.
Xecutives.net: Wie kam es zu Ihrem besonderen Interesse für die Römer und die Kelten?
Andres Furger: 1971 konnte ich bei der Ausgrabung an der Rittergasse 5 in Basel mitmachen. Die alte Turnhalle, unweit des Basler Münsters gelegen, wurde abgerissen und man wollte eine neue moderne Halle bauen. Das war der ideale Zeitpunkt für die Kantonsarchäologie, unter der damaligen Halle Ausgrabungen vorzunehmen. Ich war damals Student und verdiente bei diesen Ausgrabungsarbeiten etwas Geld. Wir stiessen schnell auf Kies und darin hatte es Löcher. Frau Prof. Dr. Elisabeth Schmid, eine Spezialistin für Urgeschichte, kam vorbei und nahm einen Augenschein. Sie war nicht nur Urgeschichtlerin, sondern auch Sedimentologin und meinte, wir befänden uns bereits im natürlich gewachsenen Boden.
Zwischendurch muss ich erwähnen, dass es einen archäologischen Leitsatz gibt: Man findet, was man sucht. Sucht man nach den Römern, dann findet man sie. Sucht man nach den Kelten, dann findet man sie ebenfalls, wenn sie es gegeben hat. Ausgrabungen im vorrömischen Bereich sind deshalb etwas heikler, weil die Kelten nicht wie die Römer mit Stein, sondern vor allem mit Holz gebaut haben.
Wir gruben also in der Turnhalle etwas enttäuscht weiter, bis eines Tages ein Kollege von mir in einem der Löcher auf einen grossen Nagel stiess. Uns wurde schlagartig klar, dass es sich um einen keltischen Wall handelte, der mit vernagelten Balken kreuzweise „armiert“ war. Cäsar beschreibt den «Murus Gallicus» in seinem «De bello Gallico» sehr genau. Was wir vorfanden, entsprach exakt seinen Beschreibungen. Wir legten die Hohlräume frei und fanden das Gitterwerk. Die Stadtbefestigung in der Art des «Murus Gallicus» besteht aus einer Holzarmierung, die mit Kies aufgefüllt und schliesslich mit Kalkstein verblendet wurde.
Ich war damals 23 Jahre alt und suchte nach einem Thema für meine Lizenziatsarbeit, dem ersten Abschluss meines Studiums an der Universität Basel. Die Ausgrabung der alten keltischen Mauer passte hierfür perfekt. Diese Entdeckung als Student und das Aufarbeiten der Erkenntnisse in meiner Arbeit an der Universität Basel führten mich somit zu den Kelten, die mich bis heute beschäftigen.
Xecutives.net: Was waren damals die Erkenntnisse rund um die Ausgrabungen?
Andres Furger: Ich untersuchte, was man schon über die Kelten wusste und konnte mit meiner Arbeit belegen, dass die Keltensiedlung auf dem Münsterhügel von Basel jüngeren Datums war als die damals bereits bekannte Keltensiedlung auf dem Gebiet der alten Gasfabrik, dort wo heute das Unternehmen Novartis in Basel seinen Hauptsitz hat, gleich am Rhein gelegen. Dabei gelang der Beweis, dass die ältere Siedlung unten am Rhein aufgegeben wurde und die Rauraker, also die Kelten in der Umgebung von Basel, dem heutigen Süddeutschland und dem Elsass, auf dem Münsterhügel eine neue Siedlung bauten. Die Gründe für diese Umsiedlung sind bis heute nicht vollends klar. Ich datierte die Umsiedlung auf ca. 58 v. Chr., also auf den Zeitpunkt des Auszugs der Helvetier und der Schlacht bei Bibracte. Heute nimmt man an, dass diese Umsiedlung wohl schon einige Jahre früher passierte.
Xecutives.net: Was waren die Gründe, dass sich die Rauraker damals entschieden, ihren angestammten Platz zu verlassen, um auf den Münsterhügel zu ziehen?
Andres Furger: Es gibt eine Theorie, dass der Druck der von Norden zugewanderten Germanen und ihrem Chef, Ariovist, von den Raurakern als Gefahr eingestuft worden sei. Die neue Siedlung auf dem Münsterhügel bot besseren Schutz vor den Germanen. Die genauen Gründe sind jedoch weiterhin unklar. Sicher hing der Wechsel auch mit dem wachsenden Einfluss Roms auf Gallien zusammen.
Xecutives.net: Sie waren später auch im Münster an Ausgrabungen beteiligt, die nicht weniger spektakulär waren. Wie kam es dazu?
Andres Furger: Wenige Jahre nach Abschluss meiner Studien an der Universität Basel kam es zu einer grossen Ausgrabung im Basler Münster. Das war in den Jahren 1973/74. Dieses Projekt stand unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Rudolf Sennhauser. Er war ein bekannter Mittelalterspezialist und Ausgräber von Kathedralen. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Kantonsarchäologen war jedoch nicht optimal. Man stellte mich in der Folge als Leiter des vorchristlichen Forschungsteils an. Ich wurde somit sehr rasch Leiter einer recht grossen und monatelangen Grabung.
Das ganze Mittelschiff des Basler Münsters wurde aufgrund eines Bodenheizungsprojektes freigelegt. Dabei zeigte sich bald, dass hier frührömische und spätkeltische Schichten gut erhalten waren. Basel ist diesbezüglich ein grosser Glücksfall. Der Untergrund der Stadt ist auf dem Münsterhügel wie eine Crèmeschnitte mit verschiedenen Schichten durchsetzt. Man kann von oben nach unten durch teilweise sehr dünne Schichten durchstossen und diese gewissermassen wie bei einem Buch aufblättern. Das war im Münster erstmals überhaupt auf einer grösseren Fläche möglich.
Wir konnten vor allem vier Schichten nach und nach in der Fläche freilegen, zwei aus frührömischer und zwei aus spätkeltischer Zeit. In der Mitte befand sich eine Strasse und Spuren eines keltischen Tempels aus Holz. Diese Ausgrabung und deren Auswertung wurden zu meinem Dissertationsthema. Basel wurde damals aufgrund der Tatsache, dass die Stadt eine schöne Stratigraphie aufwies, zu einer international bekannten Schlüsselstelle für die Übergangszeit von den Kelten zu den Römern.
Xecutives.net: Basel und sein Münster sind sehr bekannt und im Münster befindet sich das Grab von Erasmus von Rotterdam!
Andres Furger: Während der Ausgrabung mit Mittelschiff im Basel Münster schrie plötzlich ein Mitarbeiter auf und zeigt uns eine handgrosse Medaille, die auf der Brust eines Skeletts lag. Die Bronze zeigte das Portrait von Erasmus. Es war sofort klar, dass es sich um die Gebeine von Erasmus von Rotterdam handelte. Man wusste schon länger vom Grab des Erasmus im Münster, jedoch war der genaue Ort nicht bekannt. Das Skelett wurde ausgegraben und die Knochen sorgsam in eine Kiste gelegt. Später kam der Münsterpfarrer mit weiteren Personen vorbei und Erasmus wurde noch einmal rituell bestattet.
Ich erinnere mich, dass eines Tages eine Japanerin vor der Türe des Münsters erschien. Sie wollte das Grab von Erasmus besuchen. Als ein Mitarbeiter ihr sagte, dass das aufgrund der aktuellen Ausgrabungsarbeiten nicht möglich sei, brach die Dame in Tränen aus. Das zeigt schön, dass Erasmus und seine Basler Wirkungsstätte bis heute weiterleben und viele Menschen diesen humanistischen Gelehrten kennen und verehren.
Xecutives.net: Im Jahr 1984 erschien Ihr Buch Die Helvetier – Kulturgeschichte eines Keltenvolkes im NZZ Buchverlag Neue Zuercher Zeitung. Ich habe das Buch unlängst gelesen und finde das Werk sehr beeindruckend, da es Ihnen gelungen ist, die Kelten auch für ein Laienpublikum umfassend zu beschreiben, mit vielen Hinweisen und Quellenmaterial. Sie zeigen aber gleichzeitig auch den Nachhall der Kelten bis in unsere Zeit auf, was einen interessierten Lesenden in Erstaunen versetzen kann. Vielen Menschen dürfte nicht bewusst sein, wie nahe uns die alten Kelten, bei uns die Helvetier, noch sind. Wie kam es zu diesem besonderen Buch über unsere «Schweizer Vorfahren»?
Andres Furger: Ich wurde schon mit 25 Jahren Vater und nahm in der Folge eine feste Stelle am Historischen Museum in Basel an. Als einer der vier Konservatoren des Museums musste ich zunächst lernen, populärer zu kommunizieren. Mir war neben der Archäologie auch die Allgemeine Abteilung des Historischen Museums zugeteilt. In dieser Funktion organisierte ich nicht nur Sonderausstellungen über den Silberschatz von Kaiseraugst, sondern etwa auch eine über Erasmus von Rotterdam. An solchen Projekte fand ich immer mehr Gefallen. Ich sehe und sah es als mit Staatsgeldern bezahlter Forscher immer als eine Verpflichtung an, ein breites Publikum in die Arbeit miteinzubeziehen
In meiner Funktion als Konservator der Allgemeinen Abteilung des Historischen Museums forderte mich der Museumsdirektor auf, in Brüglingen bei Münchenstein ein historisches Kutschenmuseum zu eröffnen. Das war die Zeit der Grün 80, der 2. Schweizerischen Ausstellung für Garten- und Landschaftsbau, die gerade zu Ende ging. Ich hatte 1981 wenige Monate Zeit, das Kutschenmuseum in einer Scheune der Merian-Gärten einzurichten, was mich zu einem zweiten Forschungsgebiet führte, das mich heute noch intensiv beschäftigt.
1982 kam der Leiter des Buchverlages der NZZ auf mich zu und fragte mich, ob ich ein Buch über die alten Helvetier schreiben könnte. Ich überlegte mir, ob ich das tun wollte und sagte einige Zeit später zu. Das Buch wurde zu einem Glücksfall. Das Interesse für das Thema Helvetier war sehr gross, was in sechs oder sieben Auflagen des Buches resultierte. Der Verlagsleiter meinte gar, es handle sich um einen Best- und Longseller.
1986 wurde am Landesmuseum in Zürich dann die Stelle eines Direktors frei. Ich bewarb mich auf diese Stelle. Das genannte Buch sowie meine Arbeiten und Ausstellungen hatten einen Einfluss auf meine Wahl als Direktor.
Xecutives.net: Was hatte Sie an diesem Job gereizt, weg von den Ausgrabungsstätten hin zu einer mehr organisatorischen und kommunikativen Tätigkeit?
Andres Furger: Das Buch über die Helvetier wurde sehr gut aufgenommen. Grund hierfür war nicht nur das Thema an sich, sondern die Art und Weise, wie man diese Themen aufarbeitet. Museumsarbeit ist letztlich wie das Verfassen eines Buches reine Kommunikationsarbeit. Lange Zeit wurde in Museen vor allem gesammelt und geforscht. In den 1970er Jahren begann man in Europa wieder mehr Menschen in die Museen zu locken. Das ging aber nur mit zeitgemässer Kommunikation; die Forschungserkenntnisse mussten attraktiv zusammengefasst und präsentiert werden. Als Museumsmensch steht man zwischen der Fachforschung und einem grösseren Publikum. Als ich im Landesmuseum als Direktor anfing, war dieser Prozess von einer Innenorientierung zur Aussenorientierung von Museen in Ländern wie Frankreich und Deutschland voll im Gange und begann auch die Schweizer Museumslandschaft zu erneuern.
Xecutives.net: Wir wissen auch heute nicht sehr viel über die alten Kelten. Sie haben ihre Traditionen mündlich weitergegeben und es besteht keine keltische Schrift, die uns weiterhilft. Wer waren die alten Kelten und was unterschied sie von den Römern, über die wir heute doch sehr viel wissen?
Andres Furger: Die Römer haben lange besser in unsere Zeit gepasst. Vergangenheit ist nicht einfach pure Vergangenheit, sondern es gibt immer nur eine bestimmte Gegenwart von Vergangenheit. Bei den Römern beeindruckte ihre Ingenieurskunst oder etwa die Fähigkeit, ein grosses Weltreich von Rom aus beherrschen zu können. Ihr Organisationstalent spiegelte sich auch in einer hochdisziplinierten Armee und einem weit gespannten Handelsnetz über die Grenzen hinaus, bis zu den Kelten. Die Kelten hingegen waren nicht übergeordnet organisiert, funktionierten vor allem im Stammesverband mit Regionalfürsten, die auch gleichzeitig Druiden, eine Art Priester und Gelehrte, sein konnten. Letztere gaben ihr Wissen nur mündlich an die nächste Generation weiter. All dies begann vor 50 Jahren mehr zu faszinieren, wohl auch parallel zu neuen Strömungen, bis hin zur Esoterik.
Xecutives.net: Ein grosser Keltenforscher war sicher schon Napoleon III., der sich sehr intensiv mit den Kelten, den Gaulois, auseinandersetzte. Er hat viele Ausgrabungen ermöglicht und dafür gesorgt, dass finanzielle Mittel für die Kelten-Forschung zur Verfügung standen. Er dürfte damals mit seiner Forschungstätigkeit das Interesse von weiten Bevölkerungsteilen geweckt haben.
Andres Furger: Es ist interessant, dass Sie Napoleon III. erwähnen. Ich arbeite zurzeit an einem Buch über ihn. Es geht um seine Pferde und Kutschen. Napoleon III. fuhr fast jeden Nachmittag aus, wenn es aber regnete, blieb er im Tuilerienpalast und rezitierte gerne aus Cäsars „De bello Gallico“, seinem Lieblingswerk. Er arbeitete lange Jahre an seiner „Histoire de Jules César“ und spielte tatsächlich eine wichtige Rolle bei der Erforschung der Gallier, wie die Kelten Frankreichs auch genannt werden. Sein spezieller Fokus lag auf den Schlachtfeldern Caesars und damit auch auf dem bei Bibracte, dort, wo beim Mont Beuvray Cäsar die Helvetier im Jahre 58 v. Chr. besiegte.
Xecutives.net: Warum hat sich Napoleon III. so sehr mit den Gaulois auseinandergesetzt?
Andres Furger: Napoleon III. war wie sein berühmter Onkel, Napoleon I., ein grosser Bewunderer von Julius Cäsar. Dabei spielten sicher mehrere Faktoren mit. Er war einerseits sicher fasziniert vom ersten römischen Kaiser und erfolgreichen Feldherrn. Andererseits wollte er seinem Volk auch die ältere Geschichte Frankreichs nahe bringen. Dafür finanzierte er nicht nur das Museum für antike Altertümer im Schloss von Saint-Germain-en-Laye, sondern auch Ausgrabungen im ganzen Land. Dafür brauchte er fähige Leute. Mit der Lokalisierung des Schlachtfeldes bei Bibracte betraute er seinen aus der Ostschweiz stammenden Ordonanzoffizier Eugène Stoffel. Dieser lange in Berlin tätige Offizier und Diplomat spielte im Krieg 1870/71 übrigens eine recht zentrale Rolle. Er blieb auch nach dem Sturz von Napoleon III. weiter am Thema Helvetier bei Bibracte dran, zumal er mit der Lokalisierung des Ex-Kaisers nicht einverstanden war. So fing er an, an weiteren Orten zu graben und publizierte seine Erkenntnisse in einem eigenen Buch. Ich setzte 1986/87 mit neuen Ausgrabungen bei Bibracte eben dort an, wo Stoffel tätig gewesen war. Unsere Equipe konnte schliesslich mit einigen Funden und einem freigelegten Verteidigungsgraben die Lokalisierung bestätigen.
Xecutives.net: Napoloen III. wuchs im heutigen Thurgau auf und sprach offenbar sehr gut Thurgauisch. Das dürfte heute vielen Menschen nicht mehr bewusst sein und das war auch der Grund, warum ihn die Thurgauer sehr gut mochten.
Andres Furger: Er wuchs mehrere Jahre am Bodensee auf und sprach den örtlichen Dialekt. Nach seiner Gefangenschaft in Deutschland schickte er 1871 seine besten Pferde und Wagen auf den Arenenberg, weil er das Schloss seiner Mutter und seiner Kindheit in der Gemeinde Salenstein als Exilort vorsah. Er kehrte jedoch nicht in die Schweiz zurück und starb in England. Seine Kutschen sind heute noch vor Ort auf dem Arenenberg.
Xecutives.net: Herr Furger, ich würde gerne diesen Kelten etwas auf den Zahn fühlen. Wir müssen zurückgehen ins Jahr 58 v. Chr. Damals zogen die Helvetier aus dem Gebiet der heutigen Schweiz aus, mit dem Ziel, sich im Süden Frankreichs niederzulassen. Cäsar beschreibt diesen Tross in seinem Buch. Was waren damals die Gründe, dass die Helvetier, die immerhin unser ganzes heutiges Mittelland bewohnten, mit Kind und Kegel Richtung Südfrankreich aufbrachen, ein für die damalige Zeit gigantisches logistisches Unterfangen?
Andres Furger: Das Problem ist, dass wir nur von Seiten der Römer Schriftliches haben zu diesem Grossereignis. Die Sicht der Kelten müssen wir wie ein Puzzle aus allgemeinen Überlieferungen und vor allem archäologischen Befunden und Funden zusammensetzen. Wir wissen, dass die Kelten immer wieder Wanderungszüge durchgeführt haben. Der berühmteste Auszug war der der Kimbern und Teutonen. Damals haben ganze Stämme, oder Teile von Stämmen, neue Wohngebiete gesucht. Dazu können klimatische Gründe oder Bedrohungs-Szenarien beigetragen haben. Wenn man etwas nicht sicher erklären kann, stecken meist mehrere Faktoren dahinter. Man weiss etwa von den Kelten, wie von anderen Völkern auch, dass Jungmannschaften bei Übernutzung der angestammten Terrains organisiert zu neuen Ufern aufbrachen.
Der Auszug der Helvetier war jedenfalls, egal, ob es sich dabei um 300 000 oder um weniger Personen handelte, die Zahl ist höchst umstritten, eine logistische Meisterleistung. So viele Menschen auf eine so lange Reise zu bringen, zeigt, dass die Kelten wussten, wie man so ein Unterfangen von langer Hand vorbereitet und managt. Dabei stiessen sie aber auf neue Grenzen. Bislang hatte Gallien den Galliern gehört. Jetzt aber schränkte ein Römer den alten Spielraum ein, der ambitiöse Caesar. Dieser taktierte geschickt mit regionalen Bündnissen, so etwa mit den keltischen Häduern. Solche Koalitionen und die Stärke seiner Truppen waren seine Trümpfe. Die römischen Heere waren ausgezeichnet organisiert. Die Legionäre galten nicht als besonders tapfer, waren auch nicht sehr gross, aber sie waren auf Disziplin getrimmt. Die Römer haben ihre Siege mit koordiniert auftretenden Massenheeren errungen. Die Kelten hingegen setzten gerne auf persönliche Tapferkeit und agierten in kleineren Verbänden. Die Kriegstechnik hatte sich schlagartig verändert, das bekamen die Helvetier als erste zu spüren.
Xecutives.net: Wie waren die Kelten denn organisiert, wer entschied, was es zu tun galt?
Andres Furger: Die religiöse und auch politische Macht war in den Händen von Druiden. Vielleicht könnte man diese Druiden mit den heutigen Ajatollahs im Iran, den man auch „Gottesstaat“ nennt, vergleichen. Politik, Militär und Religion liegen dort ebenfalls in derselben Hand. Man weiss auch, dass die Kelten keine politische Überorganisation hatten, dass jeder Stamm autonom organisiert war. Beim Auszug der Helvetier handelt es sich jedenfalls um ein Phänomen, das bei den Kelten nicht unbekannt war. Sie haben wohl auch noch nicht so territorial bezogen gelebt, wie das heute bei uns der Fall ist, oder schon bei den Römern der Fall war. Sie hatten einen gewissen Bewegungsraum beansprucht. Dann kam das Jahr 58 v. Chr.: Die Helvetier treffen mit ihren traditionellen Vorstellungen auf einen Cäsar, der geopolitisch denkt und ein gut durchstrukturiertes Imperium hinter sich weiss, das klare und feste Grenzen hat und diese erweitern will.
Xecutives.net: Was waren Cäsars Gründe, sich den Helvetiern entgegenzustellen?
Andres Furger: Rom war damals auf Expansionskurs. Die römischen Handelsrouten und das Handelsnetz waren dabei eine Art Speerspitze, dem das Militär folgte. Die in Bewegung geratenen keltischen Völker drohten diese Situation zu destabilisieren. Das sind für mich Faktoren innerhalb des grossen Rahmens. Dazu kommen personelle Faktoren. Cäsar ist 58 v. Chr. ein junger aufstrebender Politiker, der nach Profil sucht und bereits die Provincia Narbonensis anführt. Er ist auch knapp bei Kasse, braucht Geld für die ihn in Rom unterstützende Klientel. Jede gewonnene Schlacht bringt nicht nur Ruhm, sondern auch Geld. Das Resultat der ersten Schlacht des Gallischen Kriegs kennen wir: Die Helvetier müssen zurück ins Gebiet der heutigen Schweiz, von wo sie herkamen. Darauf folgten viele weitere Schlachten mit anderen keltischen Stämmen, bis schliesslich Gallien sechs Jahre später unterworfen war.
Cäsar machte dieser Krieg sehr reich. Die Kelten horteten oft ihre Kriegsbeuten an besonderen Orten in der Natur, versenkten zuweilen die Waffen der Gegner in einem Fluss oder Moor. Kein Kelte getraute sich, sich diesen heiligen Orten zu nähern. Diese Schätze hat dann Cäsar systematisch geplündert. Er nahm aus Gallien so viel keltisches Silber und Gold nach Rom mit, dass die Preise dieser Edelmetalle ins Wanken gerieten. Ein weiterer grosser Faktor war der Sklavenhandel. Die Römer machten auch bei diesem Krieg sehr viele Sklaven und Sklavinnen. Wehrte sich etwa eine keltische Stadt, konnte nach der Eroberung die Zivilbevölkerung rigoros versklavt werden. Hinter den römischen Truppen marschierten römische Sklavenhändler mit. Nach einer Schlacht erhielt etwa jeder tafper kämpfende Legionär als Zusatz-Sold einen Sklaven, den er noch „sur place“ gegen gutes Geld verkaufen konnte.
Xecutives.net: Was hat es mit den sagenumwobenen keltischen Goldschätzen auf sich, von denen Sie sprechen? Sie haben ein Buch über diese Goldschätze und Goldkunst der Kelten geschrieben mit dem Titel «Gold der Helvetier Keltische Kostbarkeiten aus der Schweiz» und Sie haben auch den Goldschatz von Erstfeld untersucht.
Andres Furger: Der Goldschatz von Erstfeld wurde 1962 entdeckt. Der Schatz befand sich unterhalb eines Hanges am Fuss eines grossen Felsens. Man weiss bis heute nicht, warum die sieben Goldringe, die man dort fand, genau dort niedergelegt worden sind. Für mich die beste Erklärung ist der besondere Ort. Dort, tief im Tal der Reuss, beginnt der Anstieg in die Alpen. Nach früherem Verständnis sind die rauen Alpen gefährlich, dort ist zuoberst der Sitz der Alpengötter. Viele Kulturen siedeln ihre Götter auf den höchsten ihnen bekannten Bergen an, dort, wo die Spitze den Himmel berührt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Olymp der alten Griechen. Der Gotthard wurde im Altertum als höchster Berg von Europa wahrgenommen, für mich ist er der Olymp der Helvetier. Auch in anderen Tälern, die ins Alpeninnere führen, finden sich keltische Heiligtümer. Dort, wo der Anstieg beginnt und der Kulturraum endet. Die Alpen galten lange als von Naturgewalten besetztes, unwirkliches Territorium, wie wir es auch noch von Sagen her kennen. In Thun/Allmendingen ist das genauso. Auch dort ist eine grosse Kultstädte entdeckt worden, die auch noch in römischer Zeit weiter bestand. Man fand dort auch Gold und eine Inschrift mit einer Weihung an die „alpibus“, was so viel heisst wie «an die Alpengötter». Das Wort «Alp» ist im Übrigen auch keltischen Ursprungs.
Xecutives.net: Cäsar war anfänglich nicht ganz frei. Er brauchte vom Senat in Rom Geld für den Feldzug in Gallien. Offenbar «twitterte» er dann in regelmässigen Abständen nach Rom und versuchte, die Gelder für den Feldzug zu erhalten. Viele Aussagen von Cäsar sind darum wohl mit grosser Vorsicht zu geniessen. Er musste die Situation in Gallien ja als höchste Gefahr für das römische Volk darstellen, ansonsten er die Gelder nicht gesprochen bekommen hätte.
Andres Furger: Cäsar hat diese Kommunikation sicher blendend beherrscht. Er war ein grossartiger Schriftsteller. De Bello Gallico wurde nicht umsonst zur Grundlektüre aller Lateinschüler. Das Werk bietet viel Inhalt und es zeigt, dass Cäsar glänzend und präzis beschreiben konnte. Dass er das in seinem Sinne tat, ist nicht bestritten. Er dürfte seine kommunikativen Fähigkeiten so eingesetzt haben, dass er seine Ziele verfolgen konnte. In diesem Zusammenhang ist aber auch die Schlacht bei Agen im Jahr 107 v.Chr. zu nennen, als die Kelten unter der Leitung des Helvetiers Divico die Römer besiegten und die Römer durchs Joch gehen liessen. Derselbe Divico verhandelt nun 58 v. Chr. mit Cäsar. Cäsar hat diese alte Schmach der Römer natürlich bestens für seine Zwecke einzusetzen gewusst. Er hat die Stimmung deshalb geschickt aufgebaut, indem er auch diese alte Niederlage richtig einzusetzen wusste und aufzeigte, dass man diese Schmach nun tilgen könne. Er war sich im Klaren, dass sich die Kelten untereinander nicht einig waren und spielte sie gegeneinander aus.
Xecutives.net. Kann man das mit den Indianern in Amerika vergleichen? Auch dort wurden verschiedene Indianerstämme gegeneinander ausgespielt. Die Indianer waren in Bezug auf die Anzahl Menschen weitaus überlegen. Trotzdem wurden sie vernichtend geschlagen.
Andres Furger: Sie haben natürlich Recht, das ist in Amerika ähnlich abgelaufen, vor allem auch in Südamerika. Wir kennen die Geschichten rund um Pizarro, der mit einer Handvoll Soldaten ganze Indianervölker besiegen konnte. Die keltische Elite war auch durch die römischen Luxusgüter sehr verführbar. Dem war sich Cäsar absolut bewusst. Wenn man so will, haben die Römer die keltische Elite konstant mit Drogen versorgt. Dazu gehörte vor allem der italische Wein, dem die Kelten sehr zugetan waren, und der in grossen Amphoren angeliefert wurde. In der von mir ausgegrabenen Schichten unter dem Basler Münster fanden sich im Strassenkies zahlreiche Amphorenscherben. Offenbar wurden auch nach Basel so viele römische Amphoren geliefert, dass man die Amphoren zusammenschlug und sie als Wegmaterial einsetzte. Noch mehr Amphorenfunde kennen wir aus der älteren Siedlung Basel-Gasfabrik der Zeit um 100 v. Chr.
Ich glaube, dass diese Rauriker mit Sklavenhandel reich geworden sind. Basel war wohl ein wichtiger Umschlagplatz in Sachen Sklavenhandel mit den Römern. Ich habe kürzlich digital einen Artikel zu diesem Thema veröffentlicht. Darin erkläre ich den massenhaften Import von römischem Wein in die Siedlung Basel-Gasfabrik mit der Funktion dieses Ortes als Umschlagplatz auch von Sklaven. Die Formel „eine Amphore voll Wein gegen einen jungen Sklaven“ ist literarisch überliefert.
Xecutives.net: Was Cäsar machte, gleicht ein bisschen dem Seidenstrassenprojekt der Chinesen in unserer Zeit. Es geht darum, grosse Handelsräume für das eigene Land zu erschliessen. Die Helvetier treffen nun 58 v.Chr. auf die perfekt organisierten Römer und schätzen die Lage wohl falsch ein.
Andres Furger: Einige Stämme der Kelten, wie bspw. die Häduer, waren Partner der Römer. Viele Stämme waren sich uneinig und Cäsar war sich dessen absolut bewusst. Er nutzte diese Uneinigkeit geschickt aus. Es haben also nicht nur die römischen Legionäre die Kelten besiegt. Cäsar hatte Alliierte bei den Kelten, besonders Reiterabteilungen, ohne die er nicht erfolgreich hätte sein können. Die Kelten des heutigen Frankreichs, auch Gallier genannt, brauchten fünf Jahre, um sich endlich gegen Cäsar zusammenzufinden.
Xecutives.net: 52. v. Chr. versuchen also die Kelten ein letztes Mal, sich gegen Rom zu erheben. Der Keltenführer Vercingetorix muss aber im heutigen Alise-Sainte-Reine die Waffen strecken. Heute steht dort ein interessantes Museum des Schweizer Architekten Bernard Tschumi.
Andres Furger: Das war offenbar ein letztes Aufbäumen der autonomen keltischen Stämme. Die Kelten hatten in der Zwischenzeit den Ernst der Lage verstanden. Verschiedenste Stämme sendeten Truppenkontingente ins heutige Alise-Sainte-Reine im Burgund. Dort befand sich nicht nur eine grössere befestigte Stadt, sondern darin auch ein wichtiges keltisches Heiligtum. Dort verschanzten sich die Truppenverbände. Das zeigt, wie wichtig den Kelten ihre Religion war. Es half aber alles nichts. Die Kelten wurden systematisch von den Römern belagert und mussten sich schliesslich geschlagen geben. Das Oppidum Alesia wurde von Cäsar erobert. Ab diesem Moment setzte die Romanisierung im Gebiet der Kelten stärker ein. Politisch war die Sache gelaufen.
Xecutives.net: Die Helvetier mussten 58 v. Chr. zurück in die Schweiz und es kam zu einem langen Prozess der Romanisierung. Wie muss man sich diese römische Präsenz auf dem Gebiet der heutigen Schweiz damals vorstellen? Viele Alpentäler scheinen weniger romanisiert worden zu sein, als andere Gegenden in der Schweiz, wie bspw. die Regionen um Vindonissa oder Augst. In den Alpentälern haben sich alte keltische Traditionen offenbar länger halten können.
Andres Furger: Die römische Präsenz war auf dem Gebiet der Schweiz nie flächendeckend, wir sprechen deshalb seit dem 1. Jahrhundert von der gallo-römischen Kultur. Die Römer waren am Handel und den Handelsrouten von Süden nach Norden und quer durch das Mittelland interessiert und besiedelten mit ihren Leuten vor allem die fruchtbaren Böden im Flachland mit einem Netz von Villen, Dörfern und wenigen Städten. Es brauchte offensichtlich aber auch Truppenpräsenz, sonst hätte es das grosse Römerlager in Vindonissa über Jahrzehnte nicht gegeben. Die Alpentäler wurden, wie Sie sagen, zu einem Rückzugsgebiet, wo sich viel keltisches Kulturgut erhalten hat. Das ist jedoch ein schwieriges Forschungsgebiet. Der Inhalt von heutigen Sagen kann, wie der Ursprung von in Erinnerung gebliebenen Brauchtum samt ihren Riten, nicht lückenlos in die Zeit der Antike zurückgeführt werden. Hier fehlen ganz einfach sichere Quellen. Es gibt sicher einzelnen Elemente und Indizien für den keltischen Ursprung mancher Phänomene, aber es bleibt stets ein grosser Interpretationsspielraum.
Xecutives.net: Wir kennen heute aber viele Wörter, die auf die Kelten zurückgeführt werden können, auch Ortschaften und bei vielen Brauchtümern ist man der Meinung, dass sie auf die Kelten zurückzuführen sind, bspw. das Scheibenschlagen, Höhenfeuer, das Verbrennen von Puppen, Vogel Gryff usw. Auch Wörter wie «Gufe», «Zeine», «Zaun» und «Anken», um nur ein paar Beispiele zu nennen, scheinen keltischen Ursprungs zu sein. Sie beschreiben das sehr schön in Ihrem Buch über die Helvetier. Was steckt dahinter?
Andres Furger: Es sind vor allem Fluss- und Flurnamen, die keltischen Ursprungs sind. Auch Geländeformationen, Fischnamen, aber auch sonstige Wörter, die wir für den alltäglichen Gebrauch in unserem Wortschatz haben, sind oft keltischen Ursprungs. Das hängt mit der genannten gallo-römischen Kultur zusammen. Ein Erfolgsrezept der Römer bestand darin, nicht einfach mutwillig alles Bestehende zu zerstören. Sie haben andere leben lassen, einen Vielvölkerstaat akzeptiert. Die Römer tolerierten viel, so lange es nicht ihr System bedrohte, so auch andere Religionen.
Xecutives.net: Wir wissen heute sehr genau, was mit den Römern passiert ist. Sie werden von Germanen überrannt, die Rom brandschatzen. Was hat zu diesem Untergang der Römer geführt?
Andres Furger: Das geht schon im 3. Jahrhundert los: Die Römer arbeiten, wie früher mit den Kelten, lange Zeit mit den Germanen zusammen. Sie treiben mit ihnen Handel und beide profitieren voneinander. Die römische Armee nahm immer mehr Germanen auf. Die Römer waren sich allmählich zu gut, selber Militärdienst zu leisten. Die römische Armee wandelt sich schleichend von einer Milizarmee zu einer Berufsarmee mit einem hohen Anteil an Soldaten aus fernen Ländern, fast eine Art Söldner. Das Imperium büsste an innerer Kraft ein, die Macht des Militärs wuchs, es begann eigenen Interessen zu folgen. Das System war schliesslich den germanischen Wanderbewegungen und anderen Gefahren von aussen nicht mehr gewachsen.
Zwischendurch ist zu erwähnen, dass „die Germanen“ nicht einfach zu fassen sind. Zur Zeit von Cäsar waren die Kelten von den Germanen kaum zu unterscheiden. Es gibt Meinungen, die besagen, dass diese Abgrenzung und Unterscheidung, kurz die Germanengefahr, ein Konstrukt von Cäsar war, um seine Ziele in Gallien erreichen zu können.
Xecutives.net: Die Alemannen waren auch Germanen und dringen auch in das Gebiet der heutigen Schweiz ein, was man auch an den Ortsnamen erkennen kann. Viele Orte lassen schon aufgrund ihres Namens klare Rückschlüsse für die Stämme und Völker zu, die hier gewohnt haben.
Andres Furger: Ja, die Alemannen drangen langsam aber stetig auch in das ehemalige Gebiet der Helvetier ein. Das führte zur deutschen Sprache in der heutigen Deutschschweiz. Ortsnamen mit Endung «-ingen» schliessen auf eine alemannische Ortschaft, wogegen Namen mit der Endung «-ach» wie bspw. Giebenach oder Bettlach, auf die Römer schliessen lassen. Rund um Augst und entlang wichtiger Römerstrassen gibt es relativ viele Ortschaften mit der Endung «-ach». Das geht auf die römische Namensendung „-acum“ zurück.
Die Alemannen setzten sich nach dem Rückzug der Römer auch in römischen Villen fest und machten sich das zunutze was davon übrig geblieben war. Ich kann Ihnen ein interessantes Beispiel dazu nennen, mit dem ich mich gerade beschäftige: In Oltingue im Elsass gibt es die Kirche St. Martin des Champs. Sie steht abseits des Dorfes auf einem grossen Feld am Fuss eines Hügels mit Quellen. Vor der Kirche liegt eine römische Villa. Deren Grundriss zeichnet sich bei Trockenheit im Feld vor der Kirche ab. Ich bin zurzeit in Kontakt mit den elsässischen Archäologen und werde ihnen melden, wenn der richtige Zeitpunkt für eine Drohnenaufnahme gekommen ist. Dann folgt vielleicht auch einmal eine archäologische Untersuchung. Das ist ein schönes Beispiel für die Nutzung alter römischer Siedlungsplätze, die von den Römern gut ausgewählt worden sind und meist gut mit Wasser versorgt waren. Die Alemannen übernahmen solche Plätze und sie entwickelten sich zu einem Gehöft oder gar zu einem Dorf. Im Falle von Oltingue entstand hier gemäss dem Fund eines Sarkophags im Frühmittelalter eine Kapelle und dann im Hochmittelalter eine Kirche. Sie diente bis um 1800 einer ganzen Gruppe von umliegenden Dörfern als religiöses Zentrum.
Xecutives.net: Warum wird in Sachen Nachhall der Kelten nicht mehr geforscht? Es gäbe ganz bestimmt noch sehr viel Erstaunliches, das man herausfinden könnte. Ich frage mich zum Beispiel, ob nicht auch das Jodeln und das Alphorn auf die alten Kelten zurückzuführen ist?
Andres Furger: Sie sprechen von Volkskunde, wie man sie etwa bis vor 70 Jahren betrieben hat. Heute hat sich dieses Universitätsfach umorientiert. Es geht heute mehr um Soziologie und die Gegenwart. Das kann man bedauern, vor allem die geringe Forschungstätigkeit zu den Themen, wie Sie sie ansprechen. Dabei gäbe es hier sehr viele Forschungsfelder, bei denen man ansetzen könnte, etwa bei der Musik und ihren Instrumenten. Die kurze Form des Alphorns könnte sehr wohl mit antiken Instrumenten zusammenhängen. So kennen wir die Kriegstrompeten der Kelten auch von bildlichen Darstellungen recht gut, mit denen wohl ein tiefer röhrender Klang erzeugt wurde. Mit solchen Instrumenten haben die Kelten ihre Schlachten eingeleitet, wohl auch, um ihre Gegner einzuschüchtern. Ob gerade bei diesem Beispiel aber eine direkte Kontinuität bis heute jemals hergeleitet werden kann? Vermutlich ja, aber eine echte Beweisführung ist kaum möglich. Wir müssen leider mit einer gewissen begrenzten Aussagekraft in der Archäologie leben. Das macht sie auch so faszinierend und spornt an, weiter und tiefer zu forschen.
Xecutives.net: Herr Furger, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihren Forschungstätigkeiten!
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Weiteres Interview zum Thema Kelten und Römer:
- Interview mit Prof. Dr. Christa Ebnöther über Römer, Kelten und Cäsar sowie deren Einfluss auf die heutige Schweiz
Weiterführende Links:
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