Dr. Christoph E. Hänggi (c) Felix Jehle

Dr. Christoph E. Hänggi (c) Felix Jehle

Dr. Christoph E. Hänggi, Jahrgang 1960, leitet seit 2003 als Museumsdirektor das von Dr. h.c. Heinrich Weiss gegründete Museum für Musikautomaten in Seewen (SO). Das Museum von Weltrang – in seinem Bereich durchaus mit einer Fondation Beyeler in Riehen vergleichbar – ging aufgrund einer Schenkung des Museumsgründers 1990 an den Bund und gehört heute organisatorisch zum Bundesamt für Kultur. Renovationsarbeiten an einer Philharmonie-Orgel der Firma M. Welte & Söhne (Freiburg i.Br.) im Jahr 2007 führten zu spektakulären Ergebnissen: Die Welte-Philharmonie-Orgel im Museum in Seewen war für das Schwesterschiff der Titanic – die Britannic – gedacht. Das Schiff stiess im Ersten Weltkrieg als schwimmendes Lazarett auf eine Seemine und sank in der Ägäis, bevor es wie geplant als Luxusliner in Betrieb genommen werden konnte. Die Geschichte der Orgel könnte Inhalt eines Bestseller-Krimis sein. Das Museum zeigt neben dieser Orgel aber auch einzigartige, wunderschöne und verblüffende Musikautomaten, Fingerringe, die Musik machen können, Orchestrien, die früher in Tanzlokalen und Restaurants zum Tanzen animierten, und es ist im Besitz von rund 6000 Musikrollen, auf denen musikalische Orgel- und Klavierinterpretationen von heute noch bekannten Musikpersönlichkeiten, wie beispielsweise Max Reger, Arthur Nikisch oder Richard Strauss verewigt sind. Der Musikwissenschaftler Dr. Christoph E. Hänggi spricht im Interview über die Entwicklung von Musik vom 19. Jahrhundert bis heute, beschreibt Musikapparate, die auch heute noch versierte Techniker zum Schwitzen bringen und Rätsel aufgeben und zieht Parallelen zwischen der Zeit der Musikapparate und dem Musikgeschehen der Neuzeit.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Dr. Hänggi, Sie leiten nun seit zehn Jahren das Museum für Musikautomaten in Seewen. Das Museum ist absolut einzigartig. Man wird es nur verstehen können, wenn man sich vor Ort ein Bild der ausgestellten Apparate macht und zuhört, was diese musikalisch und entstehungsgeschichtlich zu „erzählen“ haben. Bevor wir auf diese Apparate zu sprechen kommen, möchte ich Sie fragen, wie Sie selber als Musikwissenschaftler zum Museumsdirektor geworden sind.

Dr. Christoph E. Hänggi: Die Stelle wurde damals ausgeschrieben und ich bin zufällig auf das Inserat gestossen, habe mir ein Bild gemacht, mich beworben, wurde eingeladen und ausgewählt. Bereits in den 1980er Jahren hatte ich das damals noch private Museum einige Male besucht, hätte mir aber nie vorstellen können, dass ich es später einmal leiten würde. Seit dem Erweiterungsbau, der im Jahr 2000 in Betrieb genommen werden konnte und der die Museumsfläche mehr als verdoppelte, eröffnen sich nun aber ganz neue Perspektiven.

Mein beruflicher Weg war stets ein Weg mit Musik. Ich habe in Basel und Zürich Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichte studiert. Von 1990 bis 1992 verantwortete ich als Musikredaktor das musikalische Programm von Opus Radio, einem Klassiksender des Zürcher Radiomachers Roger Schawinski. Danach wechselte ich in die Bertelsmann Music Group (BMG) und betreute dort die Klassiksparte in der Schweiz. BMG gehörte damals mit Universal, Sony oder EMI zu den grössten Musikproduktionsfirmen der Welt. Innerhalb von BMG ergab sich 1998 die Möglichkeit, die weltweite Verantwortung für Marketing und Verkauf eines Klassiklabels zu übernehmen und mich auch betriebswirtschaftlich weiterzubilden, was meinen beruflichen Horizont wesentlich erweiterte.

Musikwissenschaft und Betriebswissenschaft war denn auch die Mischung, die 2003 in Seewen gefragt war. Ich denke, ich habe damals den richtigen Zeitpunkt für einen Wechsel gewählt, denn es zeichneten sich grosse Veränderungen in der Musikbranche ab.  In den letzten zehn Jahren ging es mit dem CD-Geschäft nur noch bergab und der Umsatz von Musikproduktionsfirmen ist auf etwa ein Drittel des Volumens von 2003 geschrumpft, was die Produzenten, aber auch die Künstlerinnen und Künstler, vor grosse Herausforderungen stellt. Dieser Rückgang hängt in allererster Linie natürlich mit der Etablierung neuer Technologien wie dem Internet und den Downloads zusammen. Es scheint heute selbstverständlich, dass Musik direkt über das Internet verfügbar ist und fast nichts mehr kosten darf. Mir war klar, dass das für die Branche grosse Probleme bringen würde. Ich wollte damals aber auch zusammen mit meiner Familie wieder zurück zu unseren Wurzeln, zurück in die Umgebung von Basel, wo ich aufgewachsen bin.

Dueblin: Sie haben eine Dissertation über romantische Musikästhetik geschrieben (G. L. P. Sievers (1775-1830) und seine Schriften: Eine Geschichte der romantischen Musikästhetik, P. Lang, 1993. ISBN 3906750213). Diese Ästhetik scheint mir, spiegelt sich hier im Museum an jeder Ecke wider. Die Automaten sind romantisch geprägt, nicht nur was ihr Äusseres anbelangt, sondern auch in Bezug auf die Art und Weise, wie Musik verstanden und benutzt worden ist.

Dr. Christoph E. Hänggi: Die Schnittstellen zwischen den Musikautomaten und meiner Dissertation sind mir erst nach einiger Zeit im Museum bewusst geworden. Musikdosen, die in der Schweiz im 19. Jahrhundert in mannigfaltiger Art und Weise und in grossen Stückzahlen hergestellt wurden, hatten keinen anderen Zweck, als Musik wiederzugeben und ihrem Zuhörer und Betrachter zu gefallen. Zuvor, ich spreche von der Zeit des Barock oder der Klassik, also vor der Romantik des 19. Jahrhunderts, hatte Musik immer auch einen praktischen Zweck, sei es als Tanzmusik an einem königlichen oder fürstlichen Hof, als Kirchenmusik oder auch als Zeitangabe in einer Musik- oder Flötenuhr. Ende des 18. Jahrhunderts fängt die Musik aber an, sich zu verselbständigen, sie wird autonom. Mozart hat zwar auch Messen oder Opern geschrieben, er schrieb jedoch auch Klavierwerke, die im Nachhinein im Sinne einer romantischen Musikästhetik interpretiert wurden. Der Zweck einer Komposition musste sich einem Zuhörer nicht mehr auf den „ersten Blick“ erschliessen. E. T. A Hoffmann hat dies in seinen Schriften um 1810 für Beethovens Sinfonien formuliert – Musik wurde zu einer romantisch überhöhten Kunst. Parallel dazu verlor aber auch in der mechanischen Musik die Musikdose ihren eigentlichen Zweck. Ursprünglich wurden beispielsweise im 18. Jahrhundert Musikwerke in Uhren eingebaut und erklangen jeweils zur vollen Stunde oder zu anderen bestimmten Zeiten. Auch Musikdosenwerke wurden in Uhrensockel eingebaut. Im 19. Jahrhundert machten sich jedoch Flötenwerke oder Musikdosen selbständig und erklangen immer dann, wenn es sich ein Besitzer eines solchen Objekts wünschte. Die Uhr dazu verschwand.

Konkret geht es in meiner Dissertation um Georg Ludwig Peter Sievers, einen Zeitgenossen des Schriftstellers und Komponisten E.T.A. Hoffmann. Er  machte sich als Musikkritiker zeitgleich mit E. T. A. Hoffmann ebenfalls sehr viele Gedanken über Musik und deren Sinn, beschrieb beispielsweise Mozart als romantischen Komponisten und äusserte sich auch zu vielen weiteren Musikern seiner Zeit. Ich wollte zeigen, dass E.T.A. Hoffmann nicht als Erfinder einer romantischen Musikästhetik angesehen werden darf, sondern dass seine Auseinandersetzung mit Musik zweifelsohne eine Zeiterscheinung war. Viele weitere Denker der damaligen Zeit machten sich gleichzeitig und auch früher ähnlich Gedanken wie er.

Dueblin: Diese Diskussionen scheinen auch heute noch geführt zu werden. Ich denke beispielsweise an Wagner und seine Musik…

Dr. Christoph E. Hänggi: Das ist ganz richtig. Die Diskussionen über die Musik Richard Wagners darf sicher als Höhepunkt dieser Entwicklung gesehen werden und er scheidet die Geister noch heute. Aber auch über die Musik vieler anderer Komponisten des 19. Jahrhunderts wurde ähnlich diskutiert: Chopin, Debussy, Liszt…

Das Museum für Musikautomaten, Seewen

Das Museum für Musikautomaten, Seewen

Dueblin: Die technischen Entwicklungen von damals, die man im Museum für Musikautomaten nachverfolgen kann, sind überwältigend: Apparate, die ein Dutzend  Instrumente spielen können, Orchestrien, die sogar drei Geigen gleichzeitig erklingen lassen, Bilder, die sich bewegen und Musik von sich geben und Fingerringe, die kleine filigrane Musikautomaten sind, nicht selten Werke von Schweizer Hand gefertigt. Auch heute ist die Technik nicht zu bremsen. Sehen Sie zwischen damals und heute Parallelen in der technischen Entwicklung rund um das Musikgeschäft?

Dr. Christoph E. Hänggi: Es ist tatsächlich so, dass sich die Abläufe wiederholen, einfach auf immer neuen technischen Ebenen. Anbieter von technischen Geräten, auf denen Musik gehört werden kann, probieren ja auch heute mit vielerlei Mitteln, der Konkurrenz das Wasser abzugraben und den Markt zu beherrschen. Das war auch vor 100 Jahren nicht anders. Als beispielsweise die amerikanische Firma Aeolian, die mechanische Klaviere baute, 1902 mit dem sogenannten Pianola in Europa auf den Markt drang, reagierte die deutsche Firma Hupfeld in Leipzig mit einem Konkurrenzprodukt, das ganz ähnlich – nämlich Phonola – hiess. Man konkurrenzierte und verdrängte sich gegenseitig wie heute. Die Unternehmen überboten sich mit zahlreichen Erfindungen und neuen Techniken, die aus heutiger Sicht oft unglaublich erscheinen. Interessant ist im Übrigen auch zu sehen, dass die Vinyl- oder Schellackplatten, die noch mancher kennt, nicht der Anfang des Musikgeschäfts waren, wie man meinen könnte. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts war es möglich, die menschliche Stimme und Instrumente auf Phonographen aufzunehmen. Eine solche Phonographenwalze ist auch bereits ein Tonträger und wurde weltweit gehandelt. Und noch vorher wurden Musikstücke mit Hilfe von Papierrollen oder Holzwalzen mechanisch aufgezeichnet und wiedergegeben, auch solche Musikrollen oder Musikwalzen des 18. und 19. Jahrhunderts waren im Prinzip Tonträger.

Dueblin: Das von Dr. h.c. Heinrich Weiss gegründete Museum für Musikautomaten in Seewen verfügt nicht nur über geniale Musikapparate, sondern auch über eine Vielzahl von Rollen für Klavier und Orgel, auf denen Musikinterpretationen des späten 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts verewigt sind. Musikautomaten sind damit auch Zeitzeugen von zahlreichen Interpretationen von bekannten Musikern aus der ganzen Welt. Wie beurteilen Sie selber den Wert dieser Aufnahmen bedeutender Musiker von damals?

Dr. Christoph E. Hänggi: Der musikalische Erkenntniswert von diesen frühen Aufnahmen ist viel grösser als man lange Jahre angenommen hat. Es ist heute weitgehend anerkannt, dass man diese Musikrollen und die entsprechenden Interpretationen der damaligen Künstler wissenschaftlich erforschen sollte. Die Musikforschung sträubte sich lange Zeit, sich mit diesen Aufnahmen auseinanderzusetzen. Man betrachtete die Musik auf den Rollen als nicht authentisch und nahm sie nicht ernst. Das Thema wurde, wohl oft auch mangels detaillierter Kenntnisse, abgetan. Heute ist das anders. Das Museum verzeichnet ein grosses Interesse an den Rollen und arbeitet beispielsweise eng mit der Hochschule der Künste Bern zusammen, die sich sehr für die Aufnahmen auf Welte-Mignon-Klavier und Welte-Philharmonie-Orgel interessiert. Künstlerinnen und Künstler, die ab 1905 Klavieraufnahmen bzw. ab 1909 Orgelaufnahmen machten, sind teilweise noch weit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren und unterrichtet worden. Man kann heute diese Aufnahmen analysieren und damit interpretationsgeschichtlich weit ins 19. Jahrhundert zurückblicken. Vergleiche von Musikrollen jüngerer Interpreten mit entsprechenden Schallplattenaufnahmen des gleichen Künstlers zeigen zudem, dass die Aufnahmen auf Welte-Mignon-Klavier bzw. auf Welte-Philharmonie-Orgel tatsächlich qualitativ hochstehend waren. Bei den vergleichenden Analysen, die in jüngster Zeit im Rahmen von Forschungsprojekten der Hochschule der Künste Bern gemacht wurden, konnte in vielen Fällen festgestellt werden, dass Aufnahmen auf Musikrollen und Interpretationen auf Schallplatten sich weitgehend entsprechen. Das liess viele Spezialisten aufhorchen. Es wird anerkannt, dass auch über den Tonträger Musikrolle eine Interpretation so wiedergegeben werden kann, wie sie vom  Interpreten gespielt worden war.

Dueblin: Heute haben viele Musiker klare Vorstellungen, wie klassische Musik interpretiert werden soll. Diese Vorstellungen haben sicher ihre Berechtigung, nur fragt es sich, ob Interpreten in der Vergangenheit das auch so sehen würden. Die Musikrollen scheinen hier Türen zu öffnen, die bisher verschlossen waren und können wertvolle Hinweise geben, wie früher Musik interpretiert worden ist, von Musikern, die Legenden wie Liszt, Chopin und Wagner, um nur einige aus dieser Zeit zu nennen, noch selber kannten.

Dr. Christoph E. Hänggi: Das ist eine wichtige Funktion der Aufnahmen auf Musikrollen, die im Museum für Musikautomaten verfügbar sind. Heute gibt es tatsächlich Konventionen, wie ein Musikstück gespielt werden soll, was interpretatorisch quasi erlaubt ist und was nicht – man reproduziert. Mit den Interpretationen auf den Musikrollen kann jedoch aufgezeigt werden, dass vieles im späten 19. Jahrhundert noch nicht so eng gesehen wurde. Die Interpretationen weichen in vielerlei Hinsicht von den heute teilweise festgefahrenen Vorstellungen ab. Das hat sicher damit zu tun, dass heute viele verschiedene Aufnahmen eines bestimmten Musikstücks jederzeit verfügbar gemacht werden können, dass man sich gegenseitig inspiriert, kopiert und vor einer eigenen Analyse bereits in vielerlei Hinsicht beeinflusst wird. Mangels Verfügbarkeit von Musik war eine solche Beeinflussung früher nicht möglich. Wenn um 1905 ein Interpret an eine Aufnahme heranging, hatte er lediglich die Komposition und vielleicht die Interpretation seines Lehrers in seinem Rucksack. Viele Künstler damals waren hauptsächlich durch ihre Herkunft und ihre Lehrmeister beeinflusst. Darum spricht man auch von Musikern aus dem Kreis der Liszt-Schüler, der Chopin-Schüler oder aus der französischen oder russischen Schule. Die Unterschiede waren damals tatsächlich sehr gross, wohingegen es heute mehr und mehr in Richtung einer Einheitsinterpretation geht. Im 19. Jahrhundert erlaubten es sich Dirigenten und Interpreten zudem, das Werk eines Komponisten in aller Freiheit zu interpretieren und Passagen wegzulassen oder Neues hinzuzufügen. Zu hören ist dies beispielsweise bei Aufnahmen des Dirigenten und Pianisten Arthur Nikisch. Die Interpreten sahen sich als kreative, freie Künstler und nahmen solche Eingriffe in Werke anderer Künstler/Komponisten ganz selbstverständlich vor. Man produzierte eine eigene Interpretation.

Die Britannic-Orgel

Die Britannic-Orgel

Dueblin: Ein ganz besonderes Museumsobjekt, die Welte-Philharmonie-Orgel, hat in den letzten Jahren für sehr viel Aufmerksamkeit gesorgt. Die Geschichte dieser Orgel könnte Gegenstand eines Krimis sein, der spannender nicht sein könnte. Wann wurden die Hintergründe der Orgel, die ja für das Schwesterschiff der Titanic, die Britannic, gebaut worden ist, bekannt?

Dr. Christoph E. Hänggi: Diese Hintergründe erschlossen sich uns im Jahre 2007, als die Orgel restauriert und anschliessend wieder im Museum aufgebaut wurde. Die beauftragten Orgelbauer fanden in den Einzelteilen der Orgel an diversen Stellen Einstanzungen „Britanik“, die darauf hinweisen, dass die Orgel ursprünglich für den Ozeandampfer Britannic gedacht war. Alte Prospekte zeigen, dass eine „Welte-Philharmonie-Orgel auf der S.S. Britannic der White Star Line“ vorgesehen war, doch diese Orgel war beinahe hundert Jahre nicht auffindbar. Die nun so genannte Britannic-Orgel ist gleich in mehrfacher Hinsicht enorm interessant. Nicht nur wegen ihrer Geschichte, sondern auch weil auf ihr die Musikrollen bedeutender und längst verstorbener Künstler abgespielt werden können und weil ihre Machart der Aufnahmeorgel der Firma Welte in Freiburg im Breisgau sehr ähnelt.

Die Britannic-Orgel, Nahaufnahme

Die Britannic-Orgel, Nahaufnahme

Dueblin: Sie und das Museum haben sich intensiv mit der Geschichte der Firma M. Welte & Söhne in Freiburg i.Br. auseinandergesetzt. Es ist offenbar auch heute nicht alles technisch nachvollziehbar und erklärbar, was genialste Techniker vor über hundert Jahren getüftelt und herausgefunden haben. Ich habe 1992 auf dem neuen Bösendorfer-Flügel in Sevilla gespielt, damals eine sensationelle musikalisch-technische Leistung. Wenn ich nun sehe, wie ein Flügel von Steinway mit einem Welte-Wiedergabesystem Rollen von Arthur Nikisch wiedergibt und sich die Tasten des Flügels mit einer einzigartigen Anschlagdynamik bewegen, so läuft es mir kalt den Rücken runter. Wie ist es möglich, dass eine Firma vor über 100 Jahren über solches Aufnahmewissen verfügen konnte?

Dr. Christoph E. Hänggi: Sie sind nicht der Einzige, der fasziniert ist. Und nicht nur das: Vieles können auch wir oder versierteste Techniker der ganzen Welt nicht erklären. Die Firma Welte hat ursprünglich Flötenuhren und Orchestrien gebaut, zunächst mit Holzwalzen, später jedoch, ab den 1880er Jahren, die Orchestrien mit Papierrollen betrieben. Das war damals eine unglaubliche technische Leistung, heute durchaus mit der Erfindung des iPhones vergleichbar. Auf den Rollen finden sich gestanzte Musikstücke. Es handelt sich also noch nicht um Musik, die aufgenommen worden ist, sondern um mechanische Musik. Im Jahre 1905 startete man dann mit dem System Welte-Mignon und konnte von da an Klaviermusik von Pianisten auf Musikrollen aufnehmen, die sich noch heute in bester Qualität abspielen lässt. Es finden sich unter den Künstlern Namen wie Carl Reinecke, Claude Debussy, Edvard Grieg, Gustav Mahler, Max Reger, Richard Strauss oder der von Ihnen erwähnte Arthur Nikisch, berühmte Künstler, die man auch heute noch kennt. Heute kann man all diese Pianisten über einen Flügel hören, der im Museum steht – oder über ähnliche Instrumente in anderen Museen für mechanische Musik. Und die quasi digitale Qualität ist wirklich verblüffend.

Wie es Welte aber schaffte, die von Ihnen beobachtete sehr präzise Anschlagdynamik zu erfassen, ist ein ungelöstes Rätsel. Wir kennen diverse Aussagen von Mitarbeitern von Welte, jedoch sprach man nie eigentlich über das Aufnahmeverfahren. Karl Bockisch, der das System gemeinsam mit Edwin Welte entwickelte, sagte einmal zu einem Journalisten, der ihn besuchte: „Sie haben inzwischen den Wiedergabeapparat kennengelernt und feststellen können, dass seine Arbeitsweise auch die der Nuancierung im Prinzip sehr einfach ist. Die Arbeitsweise des Aufnahmeapparates ist noch einfacher, doch bleibt das unser strengstes Geheimnis. Darüber weiss ausser mir und meinem Schwager Edwin Welte nur unser technischer Direktor Bescheid.“ Ein Ausspruch von Edwin Welte auf die Frage, wie der Aufnahmeprozess denn genau funktionieren würde, geht in die gleiche Richtung: „Er funktioniert ziemlich einfach.“ Das Aufnahmeverfahren war für die damalige Zeit natürlich sensationell, aber es ist bis heute nicht klar, wie es genau funktionierte und von Seiten der Firma Welte gibt es dazu auch keine Dokumente. Das Museum ist übrigens im Besitze eines Aufnahmeapparats, des einzigen weltweit, doch das Aufnahmeverfahren für Klavier konnte bisher trotzdem nicht entschlüsselt werden.

Max Reger an der Freiburger Aufnahmeorgel der Firma Welte. Links Edwin Welte und Karl Bockisch

Max Reger an der Freiburger Aufnahmeorgel der Firma Welte. Links Edwin Welte und Karl Bockisch

Dueblin: Wie muss man sich das Aufnahmeverfahren auf der Orgel vorstellen?

Dr. Christoph E. Hänggi: Über das System Welte-Philharmonie besteht weitgehend Klarheit. Orgelmusik aufzunehmen ist einfacher, da die Tasten einer Orgel nicht dynamisch differenziert gedrückt werden können. Die Organisten spielten auf der Aufnahmeorgel in Freiburg im Breisgau oder New York – auch an der 5th Avenue in New York gab es ein Aufnahmestudio für Klavier und Orgel – und die Orgel war elektrisch mit dem entsprechenden Aufnahmeapparat verbunden. Immer wenn ein Ton gedrückt wurde, verzeichnete der Aufnahmeapparat auf einer laufenden Papierrolle einen Strich, der erst abbrach, wenn der Ton wieder losgelassen wurde. Ebenfalls aufgezeichnet wurden die Register, die eingeschaltet waren. Somit konnten alle Informationen des Orgelspiels auf der Papierrolle aufgezeichnet werden. Anschliessend an die Aufnahme wurden alle Linien auf dem Papier ausgestanzt, so dass mit Hilfe dieser Löcher eine Wiedergabe möglich wurde. Man konnte die Aufnahme also anhören und ähnlich wie bei der Arbeit heute in einem modernen Tonstudio ging man anschliessend daran, die Aufnahme, resp. die Striche auf der Papierrolle, zu kontrollieren und eventuelle Fehler zu korrigieren. Dies wahrscheinlich so lange, bis die entsprechenden Organisten mit dem Resultat zufrieden waren. „Endlich gut!“, steht beispielsweise handschriftlich auf einer der Rollen.

Über das Aufnahmeverfahren für die Welte-Philharmonie-Orgel wissen wir deshalb so gut Bescheid, weil sich in der Sammlung des Museums nicht nur die Britannic-Orgel und der erwähnte Aufnahmeapparat befinden, sondern auch 1230 sogenannte Aufnahmerollen, die noch direkt aus den Archiven der Firma Welte in Freiburg im Breisgau stammen und auf welchen eben das Aufnahmeverfahren ersichtlich ist. Diese Aufnahmerollen konnten von Heinrich Weiss zeitgleich mit der Orgel erworben werden und waren ein absoluter Glücksgriff.

Auch bei den Orgelaufnahmen stellten wir übrigens fest, dass viel freier registriert und gespielt wurde, als dies heute üblich ist. Wir sprechen hier von der Zeit der Spätromantik, befinden uns also vor der sogenannten Orgelbewegung, die im 20. Jahrhundert eine viel engere und strengere Registrierungspraxis und Spielweise mit sich brachte, natürlich auch weg vom romantischen Repertoire und zurück zu Bach und seinen barocken Zeitgenossen führte.

Der Spieltisch der Britannic-Orgel mit eingelegter Musikrolle

Der Spieltisch der Britannic-Orgel mit eingelegter Musikrolle

Dueblin: Können Sie kurz schildern, wie die Welte-Philharmonie-Orgel nach Seewen gekommen ist und warum sie heute nicht auf dem Meeresgrund liegt, dem Schicksal der Britannic folgend?

Dr. Christoph E. Hänggi: Wir wissen, dass die Orgel 1913/1914 für die Britannic gebaut wurde. Sie wurde 1969 von Heinrich Weiss in Wipperfürth in Deutschland erstanden, dort hatte sie von 1937 bis zu diesem Zeitpunkt in einem Veranstaltungsraum gestanden. Zuvor war die Orgel seit 1920 im Eigentum eines Stuttgarter Photoapparateherstellers mit Namen August Nagel, der sie in Stuttgart in seiner Fabrikantenvilla hatte aufstellen lassen. Da die Britannic im Ersten Weltkrieg als Lazarettschiff eingesetzt wurde und 1916 in der Ägäis auf eine deutsche Seemine traf und sank, ging die noch nicht oder nur kurzzeitig nach dem Stapellauf eingebaute Orgel zurück an die Firma Welte in Freiburg im Breisgau und von da nach Stuttgart.

Dueblin: Sie arbeiten mit vielen Spezialisten auf der ganzen Welt zusammen, nicht nur in Sachen mechanischer Musik, sondern auch in Sachen Interpretation und musikalischer Tradition. Welches sind die wissenschaftlichen Projekte, die Sie zurzeit beschäftigen, und wo sehen Sie noch Potential im Museum?

Dr. Christoph E. Hänggi: Zum ersten weitet sich die Arbeit an den Welte-Migon-Klavierrollen und den Welte-Philharmonie-Orgelrollen immer weiter aus. Fachleute aus den USA, England, Australien, Italien, Deutschland, Frankreich und der Schweiz interessieren sich dafür und bereits entstehen beispielsweise Dissertationen zu Eugène Gigout und Marco Enrico Bossi, zwei bekannten Organisten der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, von welchen es neben unseren Musikrollen keine weiteren Aufnahmen gibt, die jedoch für die jeweilige Entwicklung der musikalischen Interpretation in ihrem Land sehr wichtig waren. Zum zweiten arbeiten wir weiter an der Veröffentlichung von CDs – momentan immer noch mit Organisten, aber in naher Zukunft sicherlich auch mit Pianisten der damaligen Zeit. Diese spannenden Veröffentlichungen passieren in Zusammenarbeit mit dem Klassiklabel OehmsClassics in München, welches von uns beispielsweise baldmöglichst auch Aufnahmen mit dem deutschen Komponisten und Organisten Max Reger wünscht, dessen 100. Todestag sich 2016 jährt. Und zum dritten ist auch ein Katalog in schriftlicher und elektronischer Form geplant, der alle Welte-Philharmonie-Orgelrollen enthalten soll, die überhaupt noch existieren. Dies sind jetzt nur Projekte, die in Zusammenhang mit dem Thema Welte stehen, vieles weiteres ebenso Interessantes findet sich ebenfalls in der Welt der mechanischen Musik.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Dr. Hänggi, was wünschen Sie sich persönlich und für die Zukunft des Museums?

Dr. Christoph E. Hänggi: Leider können wir aus Platzgründen nicht unsere gesamte Sammlung ausstellen. Wir verfügen über rund 10‘000 Sammelgegenstände. Vor allem Schweizer Musikdosen, die von Heinrich Weiss schon früh und leidenschaftlich gesammelt worden sind, können nicht alle gezeigt werden. Die meisten Stücke befinden sich im Kulturgüterschutzraum und sind den Besuchern nicht zugänglich. Ebenso die Uhrensammlung des Schweizerischen Nationalmuseums, die sich ebenfalls in Seewen befindet. Uhren, Musikuhren und Musikdosen sind der Ursprung der mechanischen Musik, die sich aus der Uhrenindustrie, aus Taschenuhren und Flötenuhren entwickelte. Diese Entwicklung und die  Erfinderkraft speziell auch von Schweizer Pionieren und Unternehmern auf diesem Gebiet gilt es zu präsentieren, doch dafür fehlt momentan der Platz. Es wäre deshalb ideal – und dies wäre mein Wunsch –, in den nächsten Jahren das Museum für Musikautomaten in Seewen soweit ausbauen zu können, dass den Besucherinnen und Besuchern neben den bisherigen Führungen und neben den bisherigen Sonderausstellungen ein nochmals erweitertes Museumserlebnis geboten werden könnte.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Dr. Hänggi, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen und dem Museum weiterhin viel Erfolg!

(C) 2013 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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Das Museum für Musikautomaten
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