Dr. Joël Luc Cachelin

Dr. Joël Luc Cachelin

Dr. Joël Luc Cachelin, Jahrgang 1981, hat an der Universität St. Gallen studiert und dort einen Master in Marketing, Dienstleistungs- und Kommunikations-management absolviert. 2009 hat der promovierte HSG-Absolvent die Wissensfabrik gegründet, deren Geschäftsführer er seither ist. Die Wissensfabrik versteht sich als Think Tank und setzt sich intensiv mit Fragen auseinander, welche die digitale Wissensgesellschaft mit sich bringt. Dr. Cachelin hat mit zahlreiche Publikationen und Interviews auf sich aufmerksam gemacht und zeigt immer wieder pointiert auf, wie das Internet unsere Wirtschaft und Gesellschaft verändert. In seinem neusten Buch „Schattenzeitalter – Wie Geheimdienste, Suchmaschinen und Datensammler an der Diktatur der Zukunft arbeiten“ setzt sich der gebürtige Berner mit unserer digitalen Zukunft auseinander und beschreibt, wie der Mensch durch die Digitalisierung eine Metaebene betritt, die er selber kaum zu durchschauen vermag. Die Digitalisierung beschere dem Menschen eine neue gesellschaftliche Evolutionsstufe,bei der sich der Mensch der Maschine annähere. Das Internet erlaube die Monopolisierung, Ökonomisierung und in der Folge das Zementieren von sozialen Klassen, in denen die Menschen gefangen bleiben würden. Dr. Cachelin beschreibt die Gefahr der Zementierung von sozialen Klassenunterschieden und die Möglichkeit von Widerständen gegen die Digitalisierung, die sich auch in Terrorakten entladen könnten.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Dr. Cachelin, in Ihrem neuen Buch „Schattenzeitalter – Wie Geheimdienste, Suchmaschinen und Datensammler an der Diktatur der Zukunft arbeiten“ setzen Sie sich mit einer möglicherweise sehr düsteren Zukunft auseinander, die uns aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung erwarten könnte. Was ist Ihre ganz persönliche Einstellung zur Digitalisierung, die heute wohl nicht mehr von unserem Leben wegzudenken ist?

Dr. Joël Luc Cachelin: Die Digitalisierung verdoppelt die Wirklichkeit. Alles was im realen Raum existiert, erhält nun einen digitalen Doppelgänger, vom Quartierrestaurant bis zum Bundesrat. Momentan befinden wir uns in der frühen Phase der Zivilisierung des digitalen Raums, wo diese Doppelgänger nach und nach Form annehmen. Das gilt auch für das Ich. Durch die Kulturtechnik des Spiegelns laden wir unsere Gedanken und Gefühle ins Netz und erwecken so das digitale Ich zum Leben. An dieser Spiegelung betätige ich mich täglich, sei es beruflich oder auch privat. Diesen Aspekt sehe ich sehr positiv, weil es mir erlaubt, intensiver zu leben. Ich lerne Menschen und Orte, aber auch Bestandteile meines Inneren kennen, die ich ohne das Internet nie kennengelernt hätte.

Darüber hinaus ist für mich die Digitalisierung der wichtigste Treiber der Veränderung überhaupt. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und betrachte den technologischen Fortschritt, beziehungsweise eben die Digitalisierung, als Evolution. Sie macht aus uns komplexere Menschen, auf der Ebene des Individuums, aber auch auf der Ebene der Gesellschaft. Ich meine damit, dass durch das Internet Intelligenz auf einer höheren Ebene entsteht, die irgendeinmal auch die Form eines neuen Lebewesens annehmen könnte. Auf eine gewisse Art und Weise ist bereits das Internet ein Lebewesen. Diesen Aspekt der Digitalisierung beurteile ich wertneutral. Für mich ist das Internet bzw. der Mensch 2.0 ebenso besser oder schlechter, wie der Mensch, genauso, wie das Tier nicht besser oder schlechter als der Mensch ist. Es sind einfach verschiedene Lebensformen und Lebewesen. 

Schliesslich gibt es wie bei jedem Medium, wie bei jeder Zivilisationsleistung, Dinge, die kritisch zu beurteilen sind. Auch die Zivilisierung des analogen Raums bereitet uns ja Schwierigkeiten. Mit der Überbevölkerung, dem Klimawandel, der Überfischung, möglichen Epidemien, aber auch dem Terrorismus oder der ungleichen Verteilung von Bildung, Einkommen und Vermögen gibt es zahlreiche Probleme der analogen Zivilisierung, die wir nicht gelöst haben, die letztlich sogar unsere Zivilisation bedrohen könnten. Genauso gibt es Probleme bei der Zivilisierung des digitalen Raums. Im Fokus meiner Beurteilung der digitalen Zivilisationsprobleme steht zurzeit die Tatsache, dass das Internet Monopolisierung, Ökonomisierung und in der Folge das Zementieren von sozialen Klassen erlaubt.

Dr. Joël Luc Cachelin: Schattenzeitalter - Wie Geheimdienste, Suchmaschinen und Datensammler an der Diktatur der Zukunft arbeiten

Dr. Joël Luc Cachelin: Schattenzeitalter – Wie Geheimdienste, Suchmaschinen und Datensammler an der Diktatur der Zukunft arbeiten

Dueblin: Sie sprechen bei der Digitalisierung von einer Metaebene, die nur sehr schwer zu erfassen ist und sprechen vom digitalisierten Menschen. Wie weit ist der Digitalisierungsgrad des menschlichen Körpers bereits fortgeschritten und wo erkennen Sie allfällige Auswirkungen, die Sie als bedenklich einstufen würden?

Dr. Joël Luc Cachelin: Ich denke, die Metaebene ist eigentlich sehr einfach zu fassen. Wir betreten sie immer dann, wenn wir uns vor einen Bildschirm setzen. Sobald wir dann online sind, sind wir Teil der digitalen Dimension. Diese Dimension breitet sich rasend aus. Wir erleben gerade, dass für jede Situation ein passender Bildschirm geschaffen wird und wir immer mehr das Bedürfnis haben, online zu sein. Flugtickets, Hotelschlüssel und Fotoapparat, wir wollen alles auf unserem Smartphone haben. Die Omnipräsenz der Bildschirme ist quasi der Zustand, den Orwell vorhergesagt hat. Es gibt aber ein paar interessante Unterschiede. Die Bildschirme gehen mobil mit uns überall hin. Wir haben sie sehr gerne bei uns, weil sie uns Information, Unterhaltung und Zugang verschaffen. Schliesslich benutzen wir sie aktiv und tragen dadurch selbst etwas zu unserer Überwachung bei. Der Effekt ist aber derselbe: Wir werden kontrollierbar und manipulierbar.

Insofern sollte auch der digitale Mensch gedacht werden als Mensch, der sich mit Geräten umgibt. Der digitale Mensch ist dann zwar nicht unbedingt über eine Steckdose mit dem Digitalen verbunden, aber vielleicht umso mehr im psychischen und seelischen Sinne. Bereits heute fühlen wir uns unvollständig und quasi verloren, wenn wir unser Smartphone nicht dabei haben. Diese Abhängigkeit wird zunehmen, weil das Smartphone auch zum Schlüssel, zum Zahlungsmittel und zur Identitätskarte werden wird. Viele sehen das kritisch, wenn das Smartphone zu einem digitalen Schattenwerfer wird. Ich sehe das differenziert. Natürlich steigen die Überwachungspotenziale und im Sinne der digitalen Verwundbarkeit auch die Gefahren von digitalen Terroranschlägen. Aber das Smartphone erleichtert eben auch das Leben und es führt dazu, dass auf aggregierter Ebene Erkenntnisse über uns entstehen. Man wird durch die Auswertung der Daten das Ausbreiten von Krankheiten verstehen lernen, Verkehrsflüsse optimieren etc.

Wenig weit sind wir in der Tat bei der physischen Verschmelzung des Digitalen und Analogen. Wir werden bestimmt immer mehr Chips in uns tragen, aber für mich geht die Digitalisierung des Menschen eher von seinen Geräten aus und dann natürlich im Sinne des digitalen Lebewesens, das einst entstehen könnte, wenn unsere Daten sich zum Leben erwecken. Gefahren bestehen dort, wo der einzelne Mensch nicht mehr über seinen Digitalisierungsgrad wählen kann oder wenn Menschen aufgrund einer Unter- oder Überdigitalisierung diskriminiert werden. Auch der Abfall der sich ständig erneuernden Geräte und der dahinter bestehende ökonomische Zwang, sich dauernd upzudaten, weil man sonst aufgrund eines digitalen Defizites irgendwann nicht mehr dazugehört, beziehungsweise irgendwann nicht mehr arbeitsmarktfähig ist, betrachte ich kritisch.

Dueblin: Sie selber halten den vollständig digitalisierten Menschen/Körper für möglich. Das tönt nach Science Fiction. Jedoch wurde schon manche Science Fiction-Idee auch Realität. Wie würden Sie den vollständig digitalisierten Menschen beschreiben?

Dr. Joël Luc Cachelin: Ich sehe wie gesagt zwei Möglichkeiten eines digitalisierten Menschen. Im einen Fall wird der Mensch durch Plugins quasi zum Roboter. Konkret: der analoge Mensch implantiert sich elektrische Teile, die mit dem Internet verbunden sind. Dieser Mensch würde physisch und geistig über seine natürliche Grenzen hinaus wachsen. Er würde besser sehen, schneller rennen, aber auch schneller denken und mehr Informationen verarbeiten können.

Für mich ist aber das nicht-körperliche Enhancement greifbarer. Das heisst, der digitale Mensch umgibt sich, wie beschrieben, mit einer digitalen Hülle, die ihm Zugang zu mehr Information und mehr Menschen verschafft. Dieser digitale Typus Mensch ist zwar körperlich noch in der analogen Welt zuhause, entfernt sich aber geistig immer mehr von der analogen Welt. Er bewegt sich durch Bildschirme, vielleicht auch durch stimmungsverstärkende Mittel in Simulationen, die weit über das Analoge hinausgehen. Das ist bereits heute ansatzweise der Fall, wenn wir an einem langweiligen Fest Alkohol trinken, um in Stimmung, oder eben in die Simulation, zu gelangen, oder wenn wir in einer langweiligen Sitzung mittels App nach einem Sexdate in der Region suchen. Noch digitaler wird der Mensch dann, wenn er sich völlig von seinem Körper befreit und ein digitales Dasein annimmt. Das wäre der Fall, wenn unsere Gedanken, Gefühle und biographischen Fragmente, die wir über uns hochladen, irgendwann zu einer eigenen Lebensform werden, wenn also unsere digitale Kopie ein Bewusstsein und die Fähigkeit zum Handeln erlangen würde. Diese Entwicklung wird momentan im Film „Transcendence“ thematisiert.

Was jetzt futuristisch klingt, ist gleichzeitig die Agenda des wirtschaftlichen Fortschritts. Es scheint mir so, als dass nur noch im technologischen Fortschritt, also letztlich in der Annäherung von Mensch und Maschine, ökonomische Wachstumspotenziale bestehen. Diese Verknüpfung überrascht. Zwar ekeln sich viele Menschen ab einer solchen digitalen Zukunft, gleichzeitig verlangen sie aber nach wirtschaftlichem Wachstum, das jedoch immer auf technologischem Fortschritt beruht. Ich denke aber, dass sich in den nächsten Jahren der Ruf nach einem Wechsel im sozio-technisch-ökonomischen System verstärken wird. Hier würde es weniger um technischen und ökonomischen Fortschritt gehen, sondern eben um das Menschsein und die Gemeinschaft.

Dueblin: Mancher dürfte über die NSA-Enthüllungen etwas erschrocken sein. Nur wenige werden aber ihre Einstellung zum Internet verändert haben. Das zeugt von grosser gesellschaftlicher Naivität, wenn man bedenkt, dass alles, was man tut, irgendwo Spuren hinterlässt. Wäre Menschen wie Hitler und Stalin, um zwei Extrembeispiele aus der Vergangenheit zu bemühen, der Zugang zu diesen digitalen Daten möglich gewesen, wären sie zweifelsohne zu Ungunsten mancher Menschen gebraucht worden. Wie erklären Sie sich diese doch grosse weltumspannende Naivität vieler Menschen im Umgang mit der Digitalisierung?

Dr. Joël Luc Cachelin: Ich denke das liegt zum einen darin, dass wir in der Digitalisierung, beziehungsweise im Internet, in erster Linie eine technologische Hilfestellung erkennen, die unser Leben erleichtert. Es vereinfacht unsere Leben, indem wir online bestellen oder online potenzielle Partner kennenlernen können. Es verschafft uns gratis Zugang zu einem unendlichen Angebot an Filmen, News und Musik. Die Naivität folgt also zunächst einmal daraus, dass die Bequemlichkeit die negativen Auswirkungen überschattet und das Internet nicht als Evolutionsstufe, sondern einfach als Medium betrachtet wird.

Zum anderen folgt die Naivität aus der Unsichtbarkeit der Gefahren. Die Überwachungsmechanismen des Internets sind ebenso unsichtbar wie die Machtkonzentration. Auch hier gilt, dass wir die Machtkonzentration und Monopolisierung eher als Vorteil wahrnehmen. Wir spüren oder sehen es nicht, wenn ein digitaler Roboter unser Verhalten aufzeichnet und unsere Verfolgung aufnimmt. Auch wenn diese Überwachungsmechanismen nun aufgedeckt wurden, endet die Reflexion der Gefahren dann letztlich immer bei der Aussage, dass man ja nichts zu verbergen hätte oder zu wenig prominent wäre, als dass das eigene Verhalten irgendeine Bedeutung hätte. Die Einstellung ist aber gefährlich, weil unsere digitalen Spuren sehr wohl verwendet werden, um unsere Gedanken und Gefühle zu beeinflussen, oder gar unser Verhalten zu steuern.

Unsere Klicks dokumentieren unsere Bedürfnisse und unsere soziale Klasse, die dann wieder steuern, welche Informationen wir erhalten, aber auch welche Vorschläge wir in digitalen Läden für Hotelübernachtungen, Turnschuhe aber auch Partnermärkte erhalten. Das Problem liegt darin, dass die meisten Menschen das Gefühl haben, dasselbe Angebot und auch dieselben Preise wie alle anderen zu erhalten. Tatsächlich findet hier längst eine Individualisierung statt. Wir erhalten diejenigen Angebote, die gemäss Algorithmus zu uns passen. Daraus folgt einerseits, dass wir Konsumbefehlen immer weniger widerstehen können, weil die Angebote ja sehr genau zu uns passen und auch sehr genau unsere Zahlungsbereitschaft treffen. Wir werden also zu Konsumsklaven, die das gängige Wirtschaftssystem und dessen Elite schützen. Anderseits werden wir in einem goldenen Käfig eingeschlossen, der uns von anderen Klassen abgrenzt. Die Menschen derselben Klasse – mit denselben Marken Informations- und Unterhaltungsangeboten – bleiben in denselben Restaurants, Hotels, Quartieren, weiter gedacht auch mit ihren Genen etc. unter sich. Schliesslich folgt die Naivität sicherlich auch aus einem Gefühl der Machtlosigkeit. Man hat als Internetnutzer das Gefühl, einer ungeheuerlichen Maschinerie entgegen zu stehen. Wenn man aber glaubt, sich gegen die Überwachung oder die Manipulation der Bedürfnisse nicht wehren zu können, führt dies zu Fatalismus, der die ganze Machtkonzentration natürlich noch gefährlicher macht.

Dueblin: Sie sprechen von Klassen und Menschen. Max Gurtner, einer der erfahrensten Kommunikationsexperten in der Schweiz, meinte unlängst in einem Gespräch über Kommunikation mit Xecutives.net, dass wir uns auf dem Weg in eine Zweiklassengesellschaft bewegen würden. Es gäbe diejenigen Menschen, die Zugang zur Digitalisierung haben und solche, die das nicht haben oder nicht damit umzugehen verstünden. Lässt sich diese Situation mit dem Zugang zu Wasser vergleichen, auf das wir angewiesen sind, das nicht jeder hat und das beim Verteilungskampf bis hin zu Krieg führt?

Dr. Joël Luc Cachelin: Grundsätzlich kann man die Zukunft schon als Zwei-Klassengesellschaft skizzieren. Hier die Wirklichkeitsdesigner, die über unsere Zukunft bestimmen, indem sie die politischen, ökonomischen und sozialen Regeln definieren, dort die Wirklichkeitsempfänger, die im Panoptikum der Wirklichkeitsdesigner gefangen sind und penibel überwacht werden. Diese Regeln führen zu Trennlinien, die zwischen Zugehörigkeit und Ausschluss entscheiden. Die Wirklichkeitsempfänger folgen der vorgegebenen Wirklichkeit mehr oder weniger blind und erkennen gar nicht, welche Regeln eigentlich existieren oder welche „hidden agenda“ die Beobachtenden eigentlich verfolgen.

In letzter Zeit frage ich mich aber, ob die Zukunft nicht vielmehr als neuartiges Klassensystem daherkommt. Gerade unsere digitalen Spuren führen eben dazu, dass wir in eine soziale Klasse eingeteilt und dann gemäss vorprogrammiertem Schema behandelt werden. Typus A erhält dieses Angebot, diese Preise, diese Informationen, diese Zutrittsrechte etc. Die Beobachter erkennen nicht nur unsere Gewohnheiten, sondern auch unsere Netzwerke und unsere finanziellen Verhältnisse. Die Transparenz unseres sozialen, kulturellen und finanziellen Kapitals schafft die Grundlage, damit wir in unserer Klasse gefangen werden und gar nicht sehen, was links und rechts passiert.

Die Gefangenschaft in der Klasse ist das eine, die Unmöglichkeit aus dieser auszubrechen ist das andere. Das neue am digital unterstützen Klassensystem ist seine Unsichtbarkeit. Wir glauben nämlich, alle auf dasselbe Informations- und Konsumangebot zurückgreifen zu können. Tatsächlich handelt es sich um individualisierte Projektionen. Sie führen dazu, dass andere bestimmen, in welchen Bars wir etwas trinken gehen oder welche News wir wahrnehmen. Das führt unter dem Strich dazu, dass die soziale Mobilität eingeschränkt wird. Weil die Abgrenzungen aber unsichtbar sind und wir mit Konsum- und Unterhaltungsangeboten ruhig gestellt sind, bleibt auch der Widerstand gering. Dieser Mechanismus verstärkt sich dadurch, dass schon dem kleinsten Kind eingetrichtert wird, dass man sich auf Facebook und Co. nicht system-unkonform zeigen darf, dass also Selbstzensur an die Stelle der Zensur tritt.

Nun stellt sich vor dem Hintergrund eines möglichen Krieges die Frage, welches die knappen Güter in der Zukunft sein werden. Eines dieser Luxusgüter ist der Offline-Zustand, oder anders ausgedrückt die Privatsphäre. Die Möglichkeit, ohne Beobachter etwas zu lesen, zu konsumieren und zu kommunizieren, wird immer enger. Nur wer über die entsprechenden Finanzen verfügt, kann es sich leisten, ohne Beobachtung zu sein und kann sich damit auch der Kontrolle der digitalen Zentren entziehen. Das könnte dazu führen, dass man sich den Drogenrausch oder die politische Äusserung erkaufen muss. Solch ein Szenario könnte irgendwann dazu führen, dass sich die Unterdrückten verbünden und wehren.

Dueblin: Laufen somit Unternehmen wie Facebook und Co. Gefahr, Symbol dieser Digitalisierung zu werden, weil sie Angriffsfläche für Andersdenkende bieten, vielleicht ähnlich wie die Uhren, die von Arbeitern im 19. Jahrhundert im Kampf gegen schlechte Arbeitsverhältnisse zerstört wurden? Bieten diese Unternehmen gar die Fläche für eine neue Art von Terror?

Dr. Joël Luc Cachelin: Ich denke tatsächlich, dass wir eine neue Art von Terrorismus erleben werden, der sich gegen die stetige Digitalisierung und ihre negativen Folgen richten wird. Die Digitalisierung ist durchaus umstritten und es gibt zum Beispiel mit Nachhaltigkeits-, Slow- und Anti-Transhumanismus-Bewegungen durchaus ernst zu nehmende Gegenströmungen. Interessant wird nun einerseits zu beobachten sein, ob die Offliner zusammenfinden und anderseits, welche Form die Gegenkultur dann annehmen wird. Denkbar ist eine politische Partei, eine Aussteiger-Bewegung oder eben ein Terrornetzwerk.

Welche Form der Widerstand annehmen wird, hängt zum einen davon ab, wie gross der gemeinsame Nenner der Gegner sein wird und zum anderen, wie stark die mit der Digitalisierung verbundenen Metatrends wirken werden – die Globalisierung, die Ökonomisierung und die Individualisierung. Je mächtiger das digitale Regime wird, je ausgeprägter die daraus folgende Fixierung sozialer Klassen wird, je grösser die Unterschiede zwischen Elite und Konsumslaven, je grösser das Ohnmachtsgefühl, desto grösser wird die Gefahr von gewaltbegleitenden Veränderungsversuchen.

Im Zentrum möglicher Terrorakte würden jene Unternehmen stehen, die für den globalen digitalen Kapitalismus stehen, eben Unternehmen wie Google, Apple, Facebook und Amazon. Diese Unternehmen würde man mit Algorithmen versuchen zu behindern, respektive zum Stillstand zu bringen. Noch wirkungsvoller wären Angriffe, die sich nicht an einzelne Exponenten des digitalen Kapitalismus richten, sondern die digitale Infrastruktur schädigen. Solche Angriffe können aufgrund unserer Abhängigkeit vom Internet dazu führen, dass die gesamte Wirtschaft zusammenbricht. Ohne Internet sind wir heute verloren. Die gesamte Kommunikation würde stillstehen, aber auch die Börse, Spitäler, Banken oder die Verwaltung.

Dueblin: Jugendlichen ist die Welt vor der Digitalisierung oft unbekannt. Sie kennen diese Welt nur vom Hörensagen, von Ihren Grosseltern, die über Zeiten berichten, in denen man noch auf autofreien Strassen spielen konnte, was sie nicht verstehen können und ihnen als lebensfern erscheinen mag. Was können Eltern tun, aber auch die Jugendlichen selber, um dem von Ihnen umschriebenen Schattenzeitalter entgegenzuwirken und sich selber zu schützen?

Dr. Joël Luc Cachelin: Das sind zwei verschiedene Fragen. Zum einen geht es um die Sichtbarkeit der Vergangenheit, zum anderen um das Design unserer Zukunft. Tatsächlich werden Jugendliche heute in eine Welt geboren, in der das Internet selbstverständlich ist. Es war aber immer so, dass Menschen in eine Zeit geboren werden, in der sie die Vergangenheit und frühere technische Standards nicht erleben konnten. Das Erfahren der Vergangenheit passiert durch das Gespräch mit Zeitzeugen oder durch das Studium von Zeitzeugnissen.

Das Internet verändert nun nicht so sehr die Möglichkeit, Zeitzeugen zu befragen, als vielmehr die Zeitzeugnisse. Weil Zeitzeugnisse nicht mehr physisch lagern, ist es viel einfacher geworden, die Vergangenheit zu ändern, oder gerade ganz zu löschen. Häufig reicht ein Knopfdruck und die Vergangenheit ist gelöscht. Dabei betätigen wir uns selbst auch ständig als Designer unserer eigenen Vergangenheit. Wir legen Filter über unsere Selfies oder bearbeiten unsere Timeline auf Facebook. Aber natürlich bearbeiten auch grosse Unternehmen und Staaten die Dokumente, die ihre Geschichte darlegen. Die Vergangenheit ist zum flüssigen Designobjekt geworden.

Die Frage ist nun, wie möglichst viele Menschen zu Designern der Zukunft gemacht werden können. Damit wir zu Designern der Zukunft werden, müssen wir die Möglichkeiten erkennen, diese reflektieren und bewerten und schliesslich bewusst entscheiden zu können. Das Bildungssystem und service public-orientierte Medien sind zwei Instanzen, die dafür sorgen können, dass wir lernen zu fragen und Lebenssachverhalte in Frage zu stellen.

Dueblin: Es sind somit alle Bildungsinstitutionen gefordert, nicht nur zu vermitteln, wie die digitalisierte Welt funktioniert und angewendet werden will, sondern, sich auch kritisch mit ihr auseinanderzusetzen. Wie würden Sie eine Bildungsinstitution beraten? Wie kann sie kritisches Wissen vermitteln und damit die Wahrnehmungsfähigkeit von jungen Menschen verbessern?

Dr. Joël Luc Cachelin: Zunächst bin ich persönlich gegen eine Ent-Digitalisierung der Schule. Ich denke, dass es in einer digitalen Welt nicht möglich ist, die Schule digital abzugrenzen. Trotzdem scheint es mir sinnvoll, dass man beide Extremfälle in der Schule eintrainiert: das völlig digitale Leben und das völlig nicht digitale Leben. Konkret heisst das, Formate zu nutzen, in denen nur digital kommuniziert wird und andere, in denen das Internet verboten ist. Gerade für jüngere Lernende finde ich Tage im Wald etwas sehr sinnvolles.

Über alle Stufen hinweg finde ich das Fragenlernen etwas vom Wichtigsten. Je digitaler unsere Welt wird, desto mehr sind alle Antworten verfügbar. Was aber nicht da ist, sind die Fragen. Die Fähigkeit zu Fragen ist eine Haltung gegenüber der Welt, die man auf allen Stufen der Bildung immer wieder trainieren sollte. Die Fähigkeit muss in jedem Individuum anders geweckt werden, weil wir ja alle ganz unterschiedliche Fragen an die Welt haben. Fragen helfen, die Welt zu beurteilen und zu einem eigenständigen Urteil zu kommen. Wer nicht fragt, der kann nicht verstehen, auch sich selbst nicht. Wer nicht fragt, kann keine Persönlichkeit entwickeln. Die Förderung der Persönlichkeit wäre also ein zweiter Eckpfeiler meines Bildungsverständnisses, auch weil das Design der Zukunft starke Persönlichkeiten verlangt.

Schliesslich denke ich, dass man sich in einer Ausbildung im Sinne des problemorientierten Lernens auch mit gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzen sollte. Das heisst, dass gesellschaftliche Probleme, also die künftige Gesellschaft unter Berücksichtigung beispielsweise des Klimawandels, die digitalen Diktatur oder das Gesundheitswesen, immer wieder zum Unterrichtsthema gemacht werden sollten. Das führt dazu, dass die Lernenden das Diskutieren üben und sich mit grösserer Wahrscheinlichkeit am Design der Zukunft beteiligen. Diese Diskussion von Problemen kann in der Grundstufe noch sehr einfache Formen aufweisen und dann mit steigendem Alter immer differenzierter werden.

Dueblin: Sie machen sich sehr viele Gedanken und schreiben gute und inspirierende Bücher. Fühlen Sie sich manchmal alleine, wenn Sie sich Fragestellungen unterziehen, wie eben besprochen, oder erkennen Sie, dass auch andere sich kritisch und in Ihrem Sinne mit der Digitalisierung auseinandersetzen?

Dr. Joël Luc Cachelin: Aus Erfahrung weiss ich, dass man eigentlich immer alleine ist, wenn man ein Buch schreibt. Man begibt sich in einen Gedankenraum, den man zumindest während der Arbeit am Text mit niemandem teilen kann. Das Teilen fängt erst nach dem Druck des Buches an, indem man Interviews gibt, Zusammenfassungen publiziert und Vorträge hält. Allerdings ist dieses Teilen häufig oberflächlich. Ich wünschte mir eigentlich einen intensiveren Dialog über das Geschriebene. Es kommt leider nur sehr selten vor, dass man sich über Details des Geschriebenen unterhält. Das ist schade, denn die Konfrontation mit den Gedanken der Lesenden würde einem ja helfen, die Gedanken zu konkretisieren und weiterzuentwickeln.

Was die Digitalisierung im Speziellen betrifft, denke ich nicht, dass ich der einzige mit kritischen Gedanken bin. Im Gegenteil, es gibt viele interessante Bücher zu den negativen Seiten des Internets, viele aus dem amerikanischen Raum. Viele dieser Bücher konzentrieren sich allerdings auf einen spezifischen Aspekt und argumentieren häufig – auch im Sinne der Rhetorik – sehr einseitig. Da sehe ich eine Lücke für mich. Ich versuche einerseits differenziert zu argumentieren und so auch positive und negative Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen. Anderseits versuche ich, die langfristige Optik einzunehmen, in dem ich heute sichtbare Zukunftstrends weiterdenke.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Dr. Cachelin, ich bedanke mich für dieses Interview und wünsche Ihnen und Ihren Projekten weiterhin viel Erfolg.

(C) 2014 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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