Erwin Wurm

Erwin Wurm

Erwin Wurm, Jahrgang 1955, ist ein österreichischer Künstler, der besonders aufgrund seiner Skulpturen-Arbeiten, darunter auch seine One-Minute-Sculptures, weltweit bekannt geworden ist. Seine Kunst ist in vielen Museen auf der ganzen Welt ausgestellt, so auch im MoMA, The Museum of Modern Art in New York, im Centre Georges Pompidou in Paris, der Tate Modern in London, im Museum Ludwig in Köln sowie in der Albertina in Wien. Schon sehr früh wurde seine Kunst auch in der Schweiz ausgestellt. Unter dem Titel Peace & Plenty sind im Kunstmuseum Luzern zurzeit 600 Zeichnungen des Künstlers zu sehen. Für seine künstlerischen Leistungen ist Wurm vielfach ausgezeichnet worden. 2013 erhielt er den Grossen Österreichischen Staatspreis und 2015 wurde er Österreicher des Jahres in der Kategorie Kulturerbe. Im Interview mit Xecutives.net gewährt Erwin Wurm Einblicke in sein künstlerisches Schaffen. Er zeigt auf, warum er sich gerne mit Skulpturen beschäftigt, wie er sich neu erfindet und was man zwischen den Zeilen in seiner Kunst lesen kann. Erwin Wurm zeigt auf, wie er für sein künstlerisches Schaffen Realismen verwendet, die jedermann bekannt sind, bspw. Autos, Gurken oder Häuser, und diese aus einer paradoxen und absurden Perspektive darstellt.

Xecutives.net: Herr Wurm, wir haben eingangs dieses Gespräches über Musik gesprochen, auch über den Interviewpartner Jon Lord von Deep Purple, und Sie haben sich darüber gewundert, dass Ihre beiden Söhne dessen Musik kennen. Sie haben bemerkt, dass Ihnen immer wieder auffalle, dass jüngere Menschen Musik, aber auch andere Sachen aus früheren Zeiten, kennen. Das verleitet mich zur Frage, was denn Kunst unvergänglich macht. Was denken Sie, muss Kunst beinhalten, damit Sie in 100 Jahren von späteren Generationen in Museen betrachtet wird? Ich denke dabei auch an Johann Sebastian Bach, dessen Musik man über 100 Jahre vergessen hatte und die eher zufällig wiederentdeckt und bekannt gemacht worden ist. Heute ist Bach zweifelsohne nicht mehr aus unserer Musikgeschichte wegzudenken.

Erwin Wurm: Gute Kunst ist immer die authentische Auseinandersetzung mit etwas in einer bestimmten Zeit. Darum kann man oft sehr schnell feststellen, wann ein Kunstwerk gemacht worden ist, ob in den Siebziger-, Sechziger- oder Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Schwieriger ist es jedoch, die Sprache der jeweiligen Gegenwart zu definieren. Im Nachhinein lässt sich das oft leichter bewerkstelligen. Die Aufgabe des Künstlers in der jeweiligen Zeit ist es, diese Sprache als Künstler zu sprechen, sich darin authentisch auszudrücken.

Der Geschmack ändert sich ständig und Sie haben Bach erwähnt. Es gibt ein weiteres sehr interessantes Beispiel aus der Malerei: Ähnliches geschah mit Jan Vermeer van Delft. Jahrhunderte lang wurde dieser niederländische Maler weniger geschätzt als Pieter de Hooch. Man hatte damals auf Bildern von Jan Vermeer van Delft den Namen Pieter de Hooch geschrieben, weil dieser bekannter und beliebter war. In Wien hing im Salon der Familie des Grafen Czernin bis in die Dreissigerjahre des letzten Jahrhunderts ein Bild von Pieter de Hooch. Erst beim Restaurieren fand man heraus, dass es sich nicht um einen de Hooch, sondern eben um ein Bild von Jan Vermeer van Delft handelte.

Erwin Wurm (2016) Verschnitt Skulpturen; Foto: Foto Studio Wurm

Erwin Wurm (2016) Verschnitt Skulpturen; Foto: Foto Studio Wurm

Xecutives.net: Sie haben gesagt, dass ein Künstler authentisch sein sollte. Was verstehen Sie unter «authentisch sein»?

Erwin Wurm: Das ist sehr schwierig zu beantworten. Man muss sich selber finden: «Finde Dich selbst, sei Du selbst.» Ich hatte am Anfang meiner Karriere das Bedürfnis, mich mit den grossen Leistungen in der Welt der Kunst zu messen. Somit hatte ich die Latte sehr hoch gelegt. Erst als mir das aufgrund eines tragischen Erlebnisses in meinem Leben nicht mehr wichtig war, war mir das alles Wurst.

Man muss, um authentisch sein zu können, auch manchmal das Hirn ausschalten können. Authentizität heisst nicht unbedingt, reflexiv Authentizität zu erzwingen, sondern es geht darum, passieren zu lassen, was einfach passiert. Dafür muss man mit sich selber ehrlich sein.

Xecutives.net: Wo kommt dieses Bedürfnis her, sich finden zu wollen und Kunst produzieren und künstlerisch tätig sein zu müssen? Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Georg Kreisler, einem gebürtigen Wiener, der später Karriere in den USA machte und dann wieder zurück in Europa zu einem bekannten Kabarettisten, Komponisten und Autor avancierte. Er hatte sich sein Leben lang mit der Frage auseinandergesetzt, wo seine Inspirationen herkamen und hat sehr eingehend darüber im Gespräch berichtet. Er sah in dieser Quelle der Inspiration gar etwas Göttliches.

Erwin Wurm: Der Schaffensprozess und die Kreativität werden oft mit solchen Ideen gleichgesetzt. Man kann das aber mit allem Möglichen gleichsetzen. Schlussendlich ist es ein primäres menschliches Verlangen, etwas zu erfinden und etwas zu erschaffen. Schon die Menschen in der Steinzeit haben das gemacht. Bei mir gab es früh den Drang, zeichnen zu wollen und Skulpturen zu erschaffen. Bereits als kleines Kind habe ich mit Krippenfiguren gespielt, so dass meine Eltern Angst hatten, dass ich Pfarrer werden könnte. Mich haben aber die Figuren interessiert, die geschnitzten kleinen Skulpturen. Auch haben mich Bilder interessiert. Bei uns zuhause gab es jedoch keine Kunst…

Erwin Wurm (2010) Narrow House, Dornbirn; Foto: Robert Fessler

Erwin Wurm (2010) Narrow House, Dornbirn; Foto: Robert Fessler

Xecutives.net: … das Haus war ja auch sehr schmal…

Erwin Wurm: (Lacht) Ja, mein Vater war Kriminalpolizist. Ich bin ganz normal aufgewachsen und hatte eine glückliche Kindheit. Aber Kunst und Philosophie hatten bei uns nicht existiert. Das war auch völlig in Ordnung und nicht notwendig für meine Eltern. Als ich dann das Tor in dieser Richtung geöffnet hatte, gab es für mich nichts anderes mehr. Wo dieser Drang oder Wunsch aber herkam, kann ich nicht sagen.

Ich bin anfänglich in einem Mehrfamilienhaus aufgewachsen. Zwei andere Kinder aus diesem Haus sind auch Künstler geworden. Vielleicht ist ein Komet über dieses Haus geflogen…. (lacht).

Ja, und mit dem Haus haben Sie völlig Recht. Ich verwende Realismen und verändere Dinge, die jedermann bekannt sind. Ich versuche, diese Dinge aus einer paradoxen und absurden Perspektive darzustellen. Man kann damit andere Sachen sichtbar machen. Man ist mit diesen Perspektiven sofort mit dabei. Bei der abstrakten Kunst ist das schwieriger. Man muss sich bei ihr einlesen und lange einfühlen, bis man sie verstehen kann. Es gibt aber andere Ebenen, in die man sich einarbeiten muss. Das Elternhaus, das ich geschrumpft habe, beinhaltet eine solche andere Ebene. Das Haus war nie lustig gemeint. Mich hat der klaustrophobe Effekt und Aspekt interessiert, die emotionale Enge. Man fühlt sich eingesperrt und muss sich durch das schmale Haus durchdrängen. Dicke Menschen können schon gar nicht rein. Das Werk hat mit den späten Sechzigerjahren zu tun, als das Haus in der Zeit der Nachkriegsgesellschaft gebaut wurde. Die Denkweise damals war eng. Wir wurden in der Schule noch körperlich gezüchtigt. Das gibt es heute nicht mehr. Aber all das wollte ich mit dem Haus ausdrücken. Das Enge und Begrenzende soll zeigen, wie die Gesellschaft damals funktioniert hat, wie ich sie damals wahrgenommen habe.

An solche Projekte gehe ich nicht einfach ran und überlege mir, wie ich bei Menschen etwas auslösen kann. Mich beschäftigen gewisse Zusammenhänge im Leben. Diese will ich ansprechen und aufzeigen. So habe ich dicke Autos und ein dickes Haus gemacht. Es handelt sich dabei um die wichtigsten Identifikationsgegenstände in unserer Gesellschaft. Über die Häuser und Autos definieren wir Besitz und soziale Zugehörigkeit. Was passiert nun, wenn man diese fett macht, wenn man sie mit dem biologischen System des «Zuwachsens» verbindet?! Plötzlich stellen sich diese Gegenstände anders dar, sie werden selbst biologisch. Das Auto erhält bspw. ein Gesicht.

Erwin Wurm (2001) Fat Car; Foto: VG Bild-Kunst Bonn, 2017

Erwin Wurm (2001) Fat Car; Foto: VG Bild-Kunst Bonn, 2017

Xecutives.net: Damit geben Sie aber auch gewisse Menschen der Lächerlichkeit preis. Ein Umstand, der Ihnen durchaus bewusst ist.

Erwin Wurm: Ja sicher, mit Lust und Liebe! Die Autos der Bonzen in den Siebzigerjahren nannte man die «fetten» Autos. Sie schufen die Vorlage für meine Fat Cars.

Xecutives.net: Sie hätten bei diesen fetten Gegenständen bleiben können, somit publikumsfreudig werden können, wie das Georg Kreisler ausdrückte, und Sie hätten einen riesengrossen kommerziellen Erfolg gehabt. Sie sagten in einem Interview jedoch, dass Sie damit zum «Vollzugsbeamten ihrer eigenen Ideen» geworden wären.

Erwin Wurm: Genauso ist das! Man denkt, wenn man Kunst macht, nicht an Geld, sondern man will etwas machen, das einen selber und andere bewegt. Das ist das Primäre. Das Kommerzielle ist  letztrangig. Der ideelle Erfolg ist wichtig, nicht der finanzielle. Es geht darum, neue Dinge zu entwickeln und weiterzugehen. Jeder stellt fest, wenn man etwas gut kann, dass es schliesslich gut und irgendwann sehr gut wird. Irgendwann wird es aber auch langweilig. Man hat alle Fehler ausgemerzt und man kann es nun. Spannender ist es, wenn man Sachen neu erarbeiten kann, neu probiert und sich auf neue Kämpfe einlässt.

Xecutives.net: Wann kam der Moment, als Sie ganz bewusst gemerkt haben, dass Sie diesen Weg gehen und alles auf eine Karte setzen wollten? Ich meine, der Entscheid, Künstler zu werden, ist nicht einfach. Es geht auch um existentielle Fragen. Viele Menschen machen Kunst, können aber davon nicht oder mehr schlecht als recht leben, so ähnlich wie im Sport.

Erwin Wurm: Ich habe früh angefangen, mit meinem ersten Taschengeld Literatur und Bücher zu kaufen. Ich habe viel gelesen. Dann kamen die Künstlerbildnisse, die mich interessierten. Sie haben mir sehr imponiert. Viele Künstler waren frei und hatten sich wenig um Konventionen gekümmert, was mir sehr imponiert hatte. Das wollte ich nachahmen. Auf der einen Seite war hier also die Kunst, bspw. die Bilder, die mir sehr gefallen haben. Auf der anderen Seite aber waren da die Künstler und ihr persönliches Leben. Darunter waren Persönlichkeiten wie Paul Cézanne, Henri Matisse oder Pablo Picasso. Sie alle waren für mich Vorbilder. Sie haben anders gelebt als andere. Sie haben ihr eigenes Leben geführt, mussten nicht jeden Tag ins Büro gehen und sich mit einem Chef auseinandersetzen.

Erwin Wurm, Portrait Wr. Silbermanufaktur; Foto: Inge Prader (2014)

Erwin Wurm, Portrait Wr. Silbermanufaktur; Foto: Inge Prader (2014)

Xecutives.net: Sie sind bei diesem Lebensentscheid aber auch beträchtliche Risiken eingegangen….

Erwin Wurm: Klar, Risiken muss man eingehen sonst geht nichts. Für mich waren sie aber nie belastend. Ich habe kurz einen Beruf gehabt, habe dann aber mit diesem Beruf aufgehört als ich 28 Jahre alt war. Ich wollte meinen künstlerischen Weg gehen. Ich wusste damals oft auch nicht, wie ich die nächste Miete bezahlen sollte und konnte. Für mich war das aber nie eine Belastung und das habe ich bis heute durchgezogen. Ich wollte das einfach machen, musste das machen.

Wenn man als Künstler anfängt, hat man auch Ideale. Ich wollte immer Anschluss finden an die grossen Leistungen der Kunstgeschichte und Kunst. Tolle Literatur und Kunst begeistert mich. Das hat mit grossen Glücksempfindungen zu tun. Heute bin ich jedoch selektiver als früher und viel schwieriger im Umgang und der Akzeptanz anderer Arbeiten, aber das treibt mich an. Ich würde das auch gerne meinen Kindern vermitteln. Vielleicht kann man das aber auch gar nicht vermitteln. Bei mir ist das einfach so passiert. Mütterlicherseits waren da Lehrer und Ingenieure. Väterlicherseits gab es Ärzte, aber keine Künstler.

Xecutives.net: Sie haben erklärt, wie die Kunst aus Ihnen heraus entsteht. Sie haben aber auch Hochschulstudien betrieben und abgeschlossen und sich somit auch auf intellektueller Ebene mit Kunst auseinandergesetzt. Warum haben Sie auch diesen Weg beschritten? War das einfach pures Interesse daran, mehr über Kunst und andere Künstler zu erfahren?

Erwin Wurm: Das war sicher auch ein wichtiger Grund. Mehr aber ging es darum, Gleichgesinnte zu finden, die am gleichen Strang ziehen. Wenn man allein ist, fühlt man sich hingezogen zu Gleichaltrigen, zu Gleichgesinnten und Menschen, die die gleichen Interessen verfolgen. Schon in Graz war ich von einer solchen Gruppe von Menschen umgeben.

Erwin Wurm (2006) House attack; Foto: Lisa Rastl

Erwin Wurm (2006) House attack; Foto: Lisa Rastl

Xecutives.net: Die Hochschule in Wien war somit eine Art Wiener Kaffeehaus, wo sich Künstler treffen und austauschen, sich gegenseitig inspirieren und fordern?

Erwin Wurm: Ja, mehr eine Bar als ein Kaffee halt. Es war eine tolle Möglichkeit, diese Gleichgesinnten zu treffen und sich mit ihnen auseinandersetzen zu können.

Es kommt bei der Uni dazu, dass sie einen geschützten Raum darstellt, in dem man viele Ideen ausleben und Dinge ausprobieren kann. Eine andere Möglichkeit wäre, wenn diese Menschen sich Künstlern anschliessen und direkt in der Zusammenarbeit mit Künstlern lernen würden. Sie würden viel schneller in die Kunstwelt reinkommen.

Xecutives.net: Sie sind bekannt dafür, dass Sie sich künstlerisch immer wieder neu erfinden und ich möchte Ihnen eine Fotografie zeigen, die mir in Zusammenhang mit Ihrer Kunst aufgefallen ist. Es handelt sich um die Venus von Wilnsdorf, eine Figur, die wohl über 27’000 Jahre alt ist. Mich erinnert diese Figur, seit ich Ihre Kunst kenne, an die Fat Cars-Reihe. Die Venus ist sehr üppig gemacht, zwar klein, aber irgendwie auch übertrieben voluminös, eine „Fat Venus“, gleich Ihren dicken Autos. Das bestätigt Ihre Aussage, dass sich Menschen immer, auch künstlerisch, ausdrücken wollten. Die Figur könnte aber auch von Ihnen stammen?!

Erwin Wurm: Nun, Sie sprechen hier eine sehr interessante Sache an, von der ich einiges verstehe (lacht). Die Figur ist nicht etwa nur 27’000 Jahre (!) alt, sondern viel älter, nämlich 41’000 Jahre. Schauen Sie, diese Fat Cars sind nichts als ein Abbild der vielen fetten Leute, die hier rumrennen. Das ist nichts Aussergewöhnliches. In dieser Figur aber, der von Ihnen genannten «Fat» Venus, steckt sehr viel mehr drin. Es geht um Sinnlichkeit, Sexualität, Fortpflanzung, die Mutter, die Göttin. Es geht um das Gebären und Reproduzieren.

Xecutives.net: Aber es könnte sich um ein Wurm-Werk handeln….

Erwin Wurm: Mir gefällt sie sehr. Komischerweise ist dieses Kunstwerk im Naturhistorischen Museum ausgestellt und nicht im Kunstmuseum, das nur so nebenbei bemerkt.

Xecutives.net: Die Fat Cars sind alle lustig und komisch anzuschauen, aber dahinter steckt auch eine deutliche Message.

Erwin Wurm: Begriffe wie Humor und lustig interessieren mich überhaupt nicht. Ich wurde damals, als ich Malerei studieren wollte, nicht an der Universität aufgenommen. Man steckte mich in die Bildhauerklasse. Ich fing an, mich mit dem Skulpturalen auseinanderzusetzen, was für mich anfänglich grauenhaft war. Ich nahm diese Challenge an, war aber frustriert. Skulptur bestand für mich aus schwarzen Trümmern, die irgendwo standen, von Tauben zugeschissen, wenig attraktiv. Doch dann ging es zunehmend um das Zwei- und Dreidimensionale, die Hülle, die Masse, die Haut, das Volumen, die Bewegung, die Zeit und die Materialität. Das muss man sich alles langsam erarbeiten. Ich habe das gemacht und bemerkte, wenn ich etwa Ton einer Skulptur hinzufügte oder wegnahm, dass ich damit Volumen hinzufügte oder wegnahm. Mir wurde klar, dass es sich um nichts anderes handelte, als um den biologischen Prozess des Abnehmens und Zunehmens beim Menschen. Ich bin dann zum Schluss gekommen, dass das Zu- und Abnehmen Bildhauerei ist.

Mir war aber zusätzlich noch wichtig, die Begriffe des Skulpturalen mit der Gesellschaft, also der Welt, zu verknüpfen. Ist es möglich, diesen Abnehm- und Zunehmwahn in unserer Gesellschaft darzustellen? Damit meine ich nicht eine Form der Allegorie, sondern es geht um das Stellen von Fragen. Ist es möglich, die Begriffe Spiel und Arbeit ins Skulpturelle einfliessen zu lassen? Ist es möglich, den Begriffen Peinlichkeit und Lächerlichkeit skulpturale Qualitäten zu entlocken? So habe ich angefangen, skulpturale Fragen mit bildhauerischen Prinzipien zu verknüpfen.

Erwin Wurm (2003) Fat House, Antwerp; Foto: Jesse Willems

Erwin Wurm (2003) Fat House, Antwerp; Foto: Jesse Willems

Xecutives.net: Da steckt auch Humor und Komik dahinter. Meine Kinder müssen lachen, wenn sie so einen Fat Car anschauen oder Ihr dickes Haus…

Erwin Wurm: Ich operiere mit den Begriffen des Realismus, indem man sofort erkennt, um was es sich handelt. Es ist nichts Abstraktes. Es kommt das Absurde dazu, so wie das Eugène Ionesco und Samuel Beckett mit Worten gemacht haben. Schliesslich spielt das Paradoxe eine grosse Rolle. Wenn man mit einer paradoxen und absurden Perspektive auf die Welt schaut, kann man mehr sehen. Man kann mehr Dinge offenlegen, die interessant sind und mehr Fragen stellen. Ich bin aber kein Witzeerzähler. Der Humor hat mich nur insofern interessiert, als er ein interessantes Mittel ist, Menschen an Kunst heranzulocken.

Xecutives.net: Es steckt aber auch eine gehörige Portion Provokation hinter und in Ihrer Kunst.

Erwin Wurm: Provokation steckt natürlich auch drin. Beim Beispiel der Würstel-Skulpturen dachte und denke ich nicht über Provokation nach. Ich habe nur versucht, mit biologisch vorliegenden Formen, Menschenfiguren zu machen. Das ist eine Form von Abstraktion – halt nicht wie bei den Kubisten. Ich nehme heute Würstchen oder Gurken. Das sind Lebensmittel und sie transportieren Inhalt, der mich interessiert.

Xecutives.net: Ich würde gerne noch mal auf die Provokation in Ihrer Kunst zurückkommen. Ich bin von Ihrer Idee, die sie unlängst hatten, tief beeindruckt. Es ging um den Heldenplatz, um ein Projekt zum Gedenken an den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland. Sie wollten diesen zusammen mit Matthias Hartmann und dem Architekten Wolf D. Prix in einer künstlerischen Aktion absperren lassen. In diesem Projekt ging es darum, dass Sie und Ihre Kollegen sich gedacht hatten, dass, wenn damals 1938 ja offenbar niemand anwesend war und keiner Hitler zugejubelt hatte, logischerweise auch ein Platz vorliegen muss, auf dem niemand steht. Ich finde diese Idee hervorragend und eine wunderbare Art der Provokation!

Erwin Wurm: Wieso wissen Sie das eigentlich?

Xecutives.net: Man findet diese Information auch im Netz. Ich denke in Bezug auf Ihre Idee mit dem Heldenplatz an die Interviews mit Georg Kreisler, der mit seiner Familie aus Wien in die USA flüchten musste, und an das ausführliche Gespräch mit Dr. Michael Kogon, dem Sohn von Eugen Kogon (Autor des Buches «Der SS Staat»), der diese Zeit in Wien miterlebt hatte.

Erwin Wurm: Ich verstehe, dass Sie das als Provokation verstehen. Ich glaube fest daran, dass man dieses ernsthafte Thema mit Frechheit, Provokation und Witz angehen kann und sollte und nicht mit Drama und Ehrfurcht. Ich habe mit dem Architekten Prix an einem ähnlichen Projekt, einer ähnlichen Idee, für Deutschland, gearbeitet. Es ging um eine NS-Schule auf einem Berg in Deutschland. Diese ehemalige nationalsozialistische Schule, von weither einsehbar, sollte künstlerisch bearbeitet werden. Die Organisatoren des Projektes wollten damit etwas Zeitgemässes machen. Unsere Idee bestand darin, das Haus vollständig mit Beton zuzuschütten, darauf eine riesengrosse Banane anzubringen, worin Büroräumlichkeiten gewesen wären. Damit hätten wir uns zweifelsohne über das Gebäude und seinen damaligen Sinn lustig gemacht. Humor kann sehr hilfreich sein und helfen, auch über Wunden und Verletzungen hinwegzukommen, unter denen Menschen wie Kreisler und Kogon gelitten haben und leiden. Das Projekt ist aber nicht angenommen worden.

In Bezug auf den Heldenplatz ist mir gar nicht bekannt, dass die Wiener diese Idee mitbekommen oder als Provokation hätten wahrnehmen können. Das wurde eigentlich lediglich intern diskutiert. Mag aber sein, dass eine Zeitung darüber berichtet hat. Leider werden solche Ideen dann aber oft nicht umgesetzt.

Aber schauen Sie: In Österreich blicken wir auf 800 Jahre Monarchie, 700 Jahre Habsburg zurück, auf eine Familie, die das Land fest im Griff hatte. Dazu kommen 2000 Jahre katholische Kirche. Zwischen diesen beiden Machtblöcken ist die österreichische Seele, der österreichische Charakter, entstanden. Das ist schon eine Vorlage für künstlerische Arbeit, auch für Provokation (lacht).

Xecutives.net: Wie würden Sie denn diesen österreichischen Charakter heute beschreiben?

Erwin Wurm: Das ist heute alles etwas anders. Damals war es sicher so, dass ein obrigkeitsgläubiges Verhalten vorherrschte. Man musste sich in der Monarchie entsprechend verhalten, um zu funktionieren. Schlussendlich war das ein Beamten- und Polizeistaat. Es war besonders unter Metternich alles strikte geregelt. Später ist das alles zerbrochen und hat nach rechts und links ausgeschlagen, bis heute.

[Es wird der Salat serviert und im Essig hat es Mücken. E. Wurm macht den Ober darauf aufmerksam und erzählt folgende Anekdote aus seinem Leben, die dem Leserpublikum hier nicht vorenthalten werden soll.

Auf die Reaktion mit den Mücken im Essig, stelle ich fest, dass wir einen Wurm in der Tequillaflasche akzeptiert hätten, nicht aber Mücken in der Essigflasche, was zur Erheiterung auch des Personals führt. E. Wurm erzählt folgende Geschichte: «Ich war einmal mit Fabio Zolly in einer Bar. Es ist lange her. Wir hatten Tequilla bestellt. Wir stehen also an der Theke und ich gehe irgendwann «aufs Häusl». Da fragt der Barkeeper den Zolly: «Magst Du den Wurm?» Zolly sagte: «Ja», und zack, da war der Wurm in seinem Glas!

So viel auch zum hervorragenden Wiener Humor…!]

Erwin Wurm (2007) Misconceivable, Hotel Daniel, Wien; Foto: Foto Studio Wurm

Erwin Wurm (2007) Misconceivable, Hotel Daniel, Wien; Foto: Foto Studio Wurm

Xecutives.net: Als Schweizer und Protestant kommt einem das alles etwas kurios vor. Wien ist schön, aber eben auch für mich in vielerlei Hinsicht schräg. Ich war eben im Sisi-Museum und staunte über die Geschichtsverarbeitung und über die vielen Dinge, die hier passiert sind, über den Andrang in diesem Museum, der überwältigend war, und die Zelebration irgendwelcher Suppenschüsseln, aus denen die Königsfamilie offenbar ass …

Erwin Wurm: Ja, ihr hattet das nie so in der Form wie wir hier in Österreich. Aber jedes Land hat so seine Besonderheiten. Bei uns kommt uns in Bezug auf die Schweiz der Zwingli und Calvin in den Sinn. Die beiden Typen waren ja auch ziemlich schräg und wirken sich bis heute aus.

Ich selber bin schon lange aus der Kirche ausgetreten. Die katholische Kirche hat allerdings etwas erfunden, das unvorstellbar genial ist. Das ist die Beichte. Man kann beichten und die Sünden werden einem erlassen. Das gibt es nur bei uns! Das ist einzigartig! Damit lebt es sich ganz gut (lacht).

Xecutives.net: Sie sind gerade in der Schweiz unterwegs, mit Zeichnungen in Luzern und mit einer Skulpturarbeit in Vevey, wo Sie in einem von Le Corbusier für seine Eltern gebauten Haus, einem sehr kleinen Haus, Ihre Kunst ausstellen. Was verbindet Sie mit der Schweiz?

Mit der Schweiz verbindet mich sehr viel. Sie ist neutral, ein basisdemokratisches Land. Sie scheint irgendwas richtig zu machen. Man bezahlt wenig Steuern, beneidenswert auch das. Unser Land ist verschuldet. Wir zahlen darum auch extrem viel Steuern. Es gibt bei Euch auch Probleme. Sie haben die Schweiz und den Zweiten Weltkrieg angesprochen. Aber irgendwie ist die Politik fähig, sie zu lösen.

Ich habe öfters in der Schweiz ausgestellt und dort viele tolle Menschen kennengelernt. Diese protestantische Einstellung «Schaffe, schaffe Häusle baue», und parallel eine Kultur zu haben, die sehr fortschriftlich ist, beeindruckt mich sehr. Es gibt bei Euch zudem sehr viele tolle Kunstsammler. Lange bevor ich in Deutschland ausgestellt hatte, war ich schon in Frankreich und in der Schweiz unterwegs, wo es immer viel Interesse an meiner Kunst gab. Warum genau das so ist, kann ich nicht sagen. Meine Arbeit wurde offenbar als interessant und ausstellungswert betrachtet.

Das eigene Land ist diesbezüglich immer etwas speziell. Das geht den Schweizer Künstlern vielleicht auch so. Es geht um die Neidkultur, die mir in Österreich sehr ausgeprägt erscheint. Mir fiel das schon an der Uni auf. Wehe einer hatte eine Ausstellung mehr als der andere, sofort kam es zu Neidszenen. Ich höre das aber von anderen Künstlern und Ländern auch.

Erwin Wurm (2009) Untitled, Claudia Schiffer, in Vogue 11/2009; Foto: Foto Studio Wurm

Erwin Wurm (2009) Untitled, Claudia Schiffer, in Vogue 11/2009; Foto: Foto Studio Wurm

Xecutives.net: Dieser Metternich, von dem wir gerade sprachen, war ein ziemlicher krasser Typ. Ich war eben in Tschechien in seinem Schloss, das mir sehr gut gefallen hat. Er hatte beim Wiener Kongress nochmals die Notbremse zugunsten der Aristokratie und der Monarchen gezogen und liberale Ideen um weitere Jahrzehnte verzögert, auch eine Leistung. Ich komme darauf zu sprechen, weil Sie eine Ausstellung zusammen mit Kunst von Carl Johann Spitzweg gemacht hatten, einem Künstler, der sich mit dieser Zeit nach Metternich auf seine ganz eigene Art und Weise auseinandersetzte. Was war der Grund, sich auf dieses Projekt einzulassen?

Erwin Wurm: Ich habe Spitzweg jahrelang unterschätzt. Ich dachte, es handle sich um einen langweiligen Biedermeier Maler, bis ich gewisse Bilder eingehender betrachtete. Ich denke an den armen Poeten im Dachgeschoss mit seinem Parapluie oder an den Mönch in seiner Gruft, der Hähnchen über dem Feuer zubereitet. Spitzweg hat sehr wohl politisch Position bezogen und sich auf seine Art über die damalige Situation lustig gemacht. Ich hatte den Projektvorschlag zuerst abgelehnt, bis der Kurator mich noch einmal kontaktierte und es mit mir genauer besprach. Spitzweg war sehr aufmüpfig und zynisch in seiner Kritik. Ich fand es spannend, mich und seine Kunst zusammenzubringen und korrespondieren zu lassen.

Xecutives.net: Sie sind Österreicher und eng mit Österreich und dessen Gesellschaft und Geschichte verbunden. Was würden Sie an Ihrer Kunst als Österreichisch bezeichnen?

Erwin Wurm: Diese Frage wird mir immer wieder gestellt. Sie ist schwer zu beantworten. In dem Land, in dem man aufwächst und sozialisiert wird, gibt es Vieles, das man mit der Muttermilch aufnimmt, von dem man gar nicht weiss, dass es woanders eben anders nicht existiert oder vollkommen anders ist. Sicher ist der österreichische Zynismus ein wichtiger Punkt in meiner Kunst. Ich lebe zudem in einem Land, in dem es tolle Leute und tolle alte und neue Kunst gibt, eine grosse Inspirationsquelle. Dann sind meine Freunde hier, viele Gleichgesinnte und natürlich auch meine Familie.

Christian Dueblin & Erwin Wurm nach dem Interview; Foto: Xecutives.net

Christian Dueblin & Erwin Wurm nach dem Interview; Foto: Xecutives.net

Xecutives.net: Was wünschen Sie Österreich?

Erwin Wurm: Ich wünsche den Österreichern mehr Entspanntheit, einen korrekten Umgang mit der Vergangenheit und mehr Gelassenheit in der Gegenwart. Ich wünsche mir, dass wir vermehrt aus Fehlern lernen. Deutschland hat diesbezüglich viel geleistet und viel aufgearbeitet. Österreich hat das teilweise auch gemacht, sich aber lange als Opferstaat dargestellt.

Wir müssen unsere Kultur schätzen und mehr Sorge dafür tragen, dass die Leute, die zu uns kommen, nach unseren Regeln spielen und sich in unseren Lebensstil integrieren. Wir sind zu klein, um einem Ansturm von Menschen standzuhalten, die vollkommen anders organisiert sind. 

Schliesslich müssen wir kritisch mit unseren Ressourcen umgehen. Für all das braucht es auch gute Politik. Hier haben wir in Österreich noch Potential. Und wir sollten nicht vergessen, dass Europa die Zeit der Aufklärung erfunden hat, die Basis unseres Demokratieverständnisses. Auch dazu sollten wir Sorge tragen.

Xecutives.net: Herr Wurm, ich bedanke mich herzlich für die Zeit, die Sie sich für dieses Gespräch und das Interview genommen haben und wünsche Ihnen persönlich, Ihrer Familie und für Ihre anstehenden Kunstprojekte alles Gute!

(C) 2018 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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