
In «Die Gartenlaube – Illustriertes Familienblatt», erschienen im Jahr 1893 (Nr. 17, auf den Seiten 287 und 288), setzt sich ein damaliger für die Wissenschaft interessierter Journalist mit dem Thema Panzer auseinander. Unter dem Titel «Die Geschichte des Panzers und – Panzergeschichten» nimmt der Journalist ein Gerücht aus dem Jahr 1893 auf, von dem er nicht überzeugt ist. Er nimmt dieses Gerücht zum Anlass, die Geschichte des Panzers, von Kettenhemden und Rüstungen aufzuarbeiten und vermittelt dem Lesenden einen Einblick in ein interessantes (kriegs-)technisches Thema. Offenbar ist in der zweiten Hälfte des März 1893 ein Schneidermeister aus Mannheim, namens Dowe (gemeint ist Heinrich Dowe), ins Rampenlicht getreten, mit einer damals unglaublichen Erfindung, nämlich der Vorläuferin der heutigen kugelsicheren Weste. Geht es in militärischen Kreisen damals eher um die Frage, wie weit ein Gewehr präzise schiessen kann und welche Durchschlagskraft eine Kugel hat, ist der Schneidermeister offenbar der Meinung, dass sein Stoff Verletzungen durch Kugeln abwenden kann, ein völliges Novum in der Kriegstechnik. Was der Journalist zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiss, oder noch nicht bestätigen kann, ist die Tatsache, dass Heinrich Dowe tatsächlich einen Stoff produziert hat, mit dem sich Kugeln abwehren lassen. Aus dieser Zeit ist später bekannt geworden, dass besagter Schneidermeister Dowe sich öffentlich von Soldaten aus wenigen Metern Abstand mit seiner «kugelsicheren Weste» am Leib hat beschiessen lassen und die Kugeln ihm nichts anhaben konnten, damals ein völliges Spektakel.

Der skeptische Journalist beschreibt diesen Stoff rudimentär. Er stützt sich darin einzig auf Gerüchte und nicht bestätigte Meldungen aus der zweiten Hälfte von März 1893 ab und sagt hierzu: «Zurzeit aber ist die kugelsichere Uniform ein Geheimnis, und allen denjenigen, die ans Glauben nicht gewöhnt sind, ist das Zweifeln erlaubt; denn das eine nur feststeht, dass ein Herr Schneidermeister Dowe aus Mannheim der Erfinder des neuen Panzerstoffes sei.»
Dowe hat tatsächlich einen Stoff erfunden, der als Weste lediglich 5 bis 6 Pfund wiegt und 1,5 cm stark sein soll, so der technische Beschrieb des Journalisten. Er soll 12 bis 15 Mark kosten. Der Journalist räumt ein, dass es solche Panzer, die Kugeln und anderes abwehren können, schon immer gegeben habe, nur sei das jeweils eine Frage der Dicke und Schwere der Panzer gewesen. Er zeigt auf, dass die Panzer der früheren Krieger im Abendland zunächst aus dickem Leder bestanden, später wurden Kettenhemden gefertigt und diese dann von einem Maschenhemden abgelöst. Diese Maschenpanzer haben aber später nur noch eine geringe Rolle gespielt, weil die Schlagwaffen sich änderten und mit Morgensternen, Keule, Axt, Schlaggeissel und Streitaxt andere Waffen in den Vordergrund traten. Damit bekam das Fussvolk die Oberhand in der Schlacht und es musste für die Verteidigung umgedacht werden. Das die Erklärungen des Journalisten.
Der am meisten gefährdete Teil am menschlichen Körper war die Schulter. Denn durch starke Schläge auf die Schulter konnte diese leicht brechen. So wurde die Schulter mit allerhand technischen Verbesserungen geschützt, so auch mit eisernen Platten, den «sogenannten Schulterflügel(n), die eine Verlängerung des Helmes» darstellten. Das führte langsam dazu, dass die Maschenpanzer und Ringpanzer schliesslich durch den Plattenpanzer ersetzt wurden. Mit dem Aufkommen der Feuerwaffen boten aber auch die Plattenpanzer keinen genügenden Schutz mehr. Die kriegsgeschichtliche Wendung brachten, gemäss unserem Journalisten der Gartenlaube, aber die Eidgenossen, die den Burgunderkönig Karl den Kühnen und sein Heer bei der Schlacht von Murten (1476) vernichtend schlugen. Dieser Sieg war gemäss dem Journalisten auf die Schlag- und Stichwaffen zurückzuführen, welche die Schweizer einsetzten. Von den rund 30000 Kämpfenden auf Seiten der Eidgenossen «befanden sich 11000 mit Spiessen, 16000 mit Hellebarden, Morgensternen und ähnlichen Schlagwaffen Ausgerüstete und nur 3000 Schützen, die zum grössten Theile noch mit der Armbrust bewaffnet waren. Und dieses Heer versetzte dem gepanzerten Rittertum den Todesstoss.» Damit veränderte sich auch die Kriegsindustrie bspw. in Mailand, Augsburg und Nürnberg. Plötzlich waren andere Techniken gefragt und diese Industriebetriebe mussten dicht machen oder rasch umdenken.

Der Journalist stellt fest, dass es der Angriff sei, die Offensive, welche die Grundbedingung des Sieges ist. Er meint deshalb, dass nun ein «Panzer», auch wenn er nur 6 Pfund schwer wäre, die Soldaten übermässig belasten würde. Er führt weiter aus: «Was heute annehmbar wäre, das seien Panzer, die bei grösster Leichtigkeit auch die kleinkalibrigen Geschosse fernhalten würden, aber die wären eben nicht vorhanden. Die wahre Geschichte des Panzers habe für die Kulturmenschheit ihren Abschluss erreicht, was wir von Zeit zu Zeit hören, das sind aufgebauschte Panzergeschichten.»
Damit lag der Journalist freilich völlig falsch, wenn man bedenkt, dass heute alle modernen Armeen und auch die Polizei über sehr effiziente kugelsichere Westen verfügen, ohne die ein moderner Krieg und ohne die schwierige Polizeieinsätze nicht mehr denkbar wären.
Der belesene und kulturgeschichtlich interessierte Journalist kommt nun auf ein Büchlein aus dem Jahr 1676 zu sprechen. Es heisst: Neu reformiert- und vermehrter Helden-Schatz. Dieses sei bemüht gewesen, den Soldaten damals alle die abergläubischen Mittel bekannt zu geben, durch welche Waffen fest und allen anderen überlegen gemacht werden sollten Die Waffentüchtigkeit und Gewandtheit eines Kaiser Maximilian I., des «letzten Ritters», sei dem «Aqua magnanimitatis» zugeschrieben worden. Es ging um ein aus Ameisen mit Honig bestehendes, mit Branntwein versehenes (mit Zusatz von Zimmetrinde) hergestelltes Destillat. Diese Flüssigkeit musste man tropfenweise zu sich nehmen und sich damit mit den Händen einschmieren. Das Büchlein beschreibt auch eine Art Waffensalbe, die aus Schmeer von einem Eber, Bärenschmalz von einem Männchen, gedörrten Regenwürmern, Moos von Menschenschädeln und weiteren interessanten Ingredienzien besteht. Das Büchlein hatte offenbar 576 Seiten und der Verfasser stellt am Schluss fest, so beschreibt das der Journalist, der das Büchlein offenbar vor sich hatte, dass eben dieser aus Patriotismus nicht alle Mittel aufzählen und beschreiben wollte, weil die Gefahr bestanden hätte, dass der Feind diese Mittel auch anwenden würde und dabei dem Vaterlande schaden könnte. Der Verfasser des Büchleins, mit aus heutiger Sicht allerlei Unsinn bestückt, vollzieht damit für seine Zeit eine kommunikationstechnische Meisterleistung.

Ohne es zu wissen, beschreibt uns der Journalist in einem der grössten Medien im deutschsprachigen Raum damals, die Gartenlaube ist eine Art frühe Form einer Illustrierten, den Beginn der Geschichte der schusssicheren Weste, nicht ahnen könnend, wofür die Menschheit in Sachen Kriegstechnik noch alles fähig oder unfähig ist. Somit darf die Frage erlaubt sein, wie die heutigen Entwicklungen und kriegstechnische Einschätzungen in weiteren 140 Jahren bewertet werden.
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