Portrait Prof.Dr. Marcel Tanner - im Interview mit Xecutives
Prof.Dr. Marcel Tanner – im Interview mit Xecutives.net

Prof. Dr. Marcel Tanner, 1952, setzt sich seit über 40 Jahren mit dem Thema Public Health auseinander. Marcel Tanner studierte medizinische Biologie, Epidemiologe und Public Health und leitete von 1997 bis 2015 das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH), das sich eingehend mit den Gesundheitsproblemen mittelschwacher Länder und insbesondere mit der Bekämpfung von Krankheiten der Armut (Malaria, Tuberkulose, HIV/AIDS) und vernachlässigter Tropenkrankheiten auseinandersetzt. Marcel Tanner hat sehr früh angefangen, Länder mit Armutskrankheiten in Bezug auf die Bekämpfung von Endemien und Epidemien zu unterstützen. Seine Arbeit zusammen mit anderen Experten in Bezug auf die Impfung gegen Malaria fand weltweite Aufmerksamkeit und führte dazu, dass sich Private und die Öffentlichkeit gemeinsam zusammentaten und auch heute noch zusammentun, um Forschung und Entwicklung von neuen Medikamenten und Impfstoffen voranzutreiben und Menschen vor heimtückischen Krankheiten zu schützen. Marcel Tanner wurde im vergangenen Jahr einer breiteren Öffentlichkeit auch aufgrund seiner Tätigkeit für die Swiss National COVID-19 Science Task Force bekannt. Er ist nebst vielem mehr in seiner Haupttätigkeit Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.
Im Interview mit Xecutives.net zeigt Marcel Tanner auf, welche Muster in Bezug auf die Bekämpfung von Epidemien und Pandemien bis heute eine Rolle spielen. Er beschreibt, dass Angst ein schlechter Ratgeber sein kann, insbesondere dann, wenn Angst in Hass, Verschwörungstheorien und sozialdarwinistisches Gedankengut umschlägt. Er geht auf Fragen zur Bewältigung von Krisen ein und zeigt Möglichkeiten auf, wie die Gesellschaft mit einer Pandemie, aber auch mit anderen Herausforderungen, umgehen sollte. Marcel Tanner erklärt, warum es heute möglich und ethisch sowie wirtschaftlich vertretbar ist, sehr früh Impfungen anzuwenden und er berichtet von seinen Erfahrungen in den ärmsten Ländern der Welt. Er macht auf historische Begebenheiten aufmerksam und stellt fest, dass in solchen Zeiten von Epidemien und Pandemien die Vergangenheit vor uns liegt.

Xecutives.net: Herr Tanner, Sie sind Epidemiologe und Public Health-Spezialist mit internationaler Ausstrahlung. Viele Menschen kennen Sie als ehemaligen Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts (Swiss TPH), welches sie von 1997 bis 2015 geleitet haben und aufgrund Ihrer bis noch vor Kurzem dauernden Expertentätigkeit für die Swiss National COVID-19 Science Task Force. Die Menschheit ist immer wieder von Seuchen und Epidemien heimgesucht worden. Wir wissen heute, dass es schon vor 5’000 Jahren Pestausbrüche gab und auch Typhus, Cholera, Diphterie, Malaria und Ebola haben den Menschen viel abverlangt. Erkennen Sie, wenn Sie sich heute mit Corona und der Gesellschaft auseinandersetzen und auf Epidemien und Pandemien in der Vergangenheit zurückblicken, Muster im Umgang mit diesen Krankheiten, Epidemien und Pandemien?

Marcel Tanner: Wir müssen hier eine Sache klarstellen, ein Punkt der von vielen Menschen falsch verstanden wird: Eine Epidemie liegt vor, wenn eine Krankheit sich über das normale Verhältnis hinweg ausbreitet. Das muss nicht unbedingt ein Keim sein, es kann sich bspw. auch um vergiftetes Wasser handeln, das krank macht und von dem viele Menschen trinken. Von einer Pandemie spricht man, wenn die ganze Welt erfasst wird. Die Definition der Pandemie hat aber nichts mit dem Schweregrad einer Krankheit zu tun. Pandemie bedeutet nur, dass sich eine Krankheit über die Grenzen hinweg ausbreitet. Pandemie und Epidemie heisst aber nicht a priori, dass eine Krankheit gefährlich ist.

Prof. Dr. Marcel Tanner an seinem Arbeitsplatz
Prof.Dr. M.Tanner an seinem Arbeitsplatz (Foto mit freundlicher Genehmigung desselben)

Wie Sie richtig sagen, haben sich die Menschen immer mit Seuchen auseinandersetzen müssen. Jede epidemische Situation auf der Welt, auch in der Vergangenheit, ist und war etwas anders. Bei allen gibt es aber das Moment der Unsicherheit, weil man es mit etwas zu tun hat, das man gar nicht oder nicht so gut kennt. Das erzeugt Angst, die dominieren kann. Angst führt auch bspw. zu Verschwörungstheorien, die sich sehr diskriminierend auswirken können, wie wir das heute auch sehen, gefördert durch die Medien und heute durch die sozialen Netzwerke. Denken Sie an die Juden, denen man nachgesagt hatte, sie hätten die Brunnen vergiftet. Angst ist jedoch kein geeignetes Mittel, um eine Epidemie oder Pandemie in den Griff zu bekommen und Verschwörungstheorien schon gar nicht.
Die Menschen verglichen in solchen Situationen ihre Krankheit mit ähnlichen Krankheiten in der Vergangenheit. Damit konnten sie Rückschlüsse ziehen und geeignete Massnahmen ableiten. Heute haben Wissenschaftler beim Auftreten von Krankheiten grad den Wunsch, sie mit einer technischen Lösung zu bekämpfen, bspw. mit einer Impfung. Aber das reicht nicht aus, um eine Pandemie in den Griff zu bekommen. Auch die Einflüsse einer Krankheit auf das soziale Gewebe, auf das wirtschaftliche Gewebe, das getragen wird vom sozialen Gewebe, und nicht umgekehrt (!), spielen bei Epidemien und Pandemien eine grosse Rolle. Auch diesbezüglich konnten die Menschen früher in etwa abschätzen, was aufgrund einer Krankheit innerhalb der Gesellschaft passieren wird. Nahezu immer, wenn der Mensch mit etwas konfrontiert worden ist, das er nicht handhaben konnte, wurden beispielsweise Quarantänen verordnet. Ursprünglich handelte es sich, wie der Name sagt, um 40 Tage, die man einhalten musste. Eine interessante Episode auch noch heute: Aus wirtschaftlichen Gründen wurde diese Quarantänedauer im alten Venedig rasch auf die Hälfte und weniger reduziert, ein Entgegenkommen den vielen Händlern in Venedig gegenüber, die sich über wirtschaftliche Schwierigkeiten beschwerten. Für die Eingrenzung von Epidemien war das aber nicht unbedingt zuträglich.

Das sind Denk- und Verhaltensweisen, die wir auch heute wieder beobachten können. Man kann sagen, dass in solchen Zeiten von Epidemien und Pandemien die Vergangenheit vor uns liegt.

Xecutives.net: Sehr schnell ist von Spezialisten die Impfung genannt worden, die man nun hat herstellen können, innert sehr kurzer Zeit, und man versucht Medikamente einzusetzen, um der Pandemie Herr zu werden. Warum reicht das nicht aus, um sie in den Griff zu bekommen?

Marcel Tanner: Tatsächlich herrscht ein zu grosser Glaube daran, dass man Krankheiten allein technisch lösen und heilen können muss. Das reicht alleine aber nicht aus. Die technische Lösung muss in den sozialen und kulturellen wie auch ökonomischen Kontext gesetzt und umgesetzt werden, denn nur so werden Technologien wirksam für die Bevölkerung. Dazu braucht es auch den Gedanken, dass wir in einer solchen Situation in ein und demselben Boot sitzen. Dieser Ansatz hat gleichzeitig an Bedeutung verloren, was manches rund um die derzeitige Pandemie erklärt. Das ist sicher auch Ausdruck davon, dass man heute in affluenten Gesellschaften nur noch wenig auf andere Menschen angewiesen ist. Die Menschen haben vergessen, dass man in einer Krise zusammenarbeiten muss, grad wenn man im gleichen Boot sitzt. In diesem Boot muss man konstruktiv zuhören können. Das ist eine Herausforderung, denn viele Menschen denken: Ich bin, also kann ich auch entscheiden! Wir beobachten, wie diese Menschen im Boot in der Krise fordern, was aber der falsche Ansatz zur Pandemiebekämpfung ist. In einer Krise sollte man nicht fordern, sondern zusammenarbeiten, denn nur so können wir die Pandemie bezwingen. Ich bin jetzt seit 42 Jahren in Sachen Public Health unterwegs und es war mir immer wichtig, diese Philosophie der Zusammenarbeit zu verfolgen.

Impfstoff_Impfung gegen Malaria_gegen Covid

Xecutives.net: Sie kennen PD. Dr. Urs Herzog, der sich seit Jahrzehnten für die Bekämpfung von Polio einsetzt. Rotary hat mithin dazu beigetragen, mit Milliarden-Spenden und auch sonst grosser Hilfestellung, dass Polio heute als ausgerottet gilt. Der ganze Impfprozess ist und war alles andere als einfach, was PD Dr. Urs Herzog in Interviews aufzeigt. Impfungen haben offenbar immer zu vielen Diskussionen geführt, auch heute noch.

Marcel Tanner: Ich kenne PD Dr. Urs Herzog sehr gut und wir haben oft zusammengearbeitet, auch gemeinsam in Sachen Polio informiert. Es ist Menschen wie ihm zu verdanken, dass wir vor einer grässlichen Krankheit bald befreit sind. Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel von Impfungen in der Vergangenheit aufzeigen: Als im 18. Jahrhundert die Pocken die Menschheit heimsuchten und viele Menschen starben und die Pockenimpfung von Herrn Jenner noch nicht erfunden war, wusste man, dass in der Türkei die Pocken bekämpft werden konnten. Lady Mary Wortley Montagu, die Frau des britischen Konsuls damals in Konstantinopel, hat das Wissen der Türkei nach Europa gebracht. Die Türken kannten damals schon die Inokulation, das Einbringen von Pockenerregern in den menschlichen Körper. Dabei wurden den Menschen kleinste Dosen von Pocken-Viren, den Pockenbläschen entnommen, verabreicht. Das führte zur Immunität. Es bestand aber das Risiko, dass wenn man zu viel verabreichte, man auch an den Pocken sterben konnte. Das führte schon damals zu grossen Diskussionen. Louis XVI nahm diese Inokulations-Idee auf und verlangte eine Studie, um abzuklären, was es bringen würde, wenn er verfügen würde, dass sich alle Menschen inokulieren müssen. Er zog den französischen Gelehrten und Mathematiker D’Alembert hinzu und Daniel Bernoulli aus Basel. Bernoulli präsentierte 1760 seine Analyse in der Academie française und sie wurde 1764 publiziert. Er zeigte mit seinen Wahrscheinlichkeitsrechnungen das individuelle Risiko und den Benefit sowie das gesellschaftliche Risiko und den Benefit auf. Bernoulli legte das erste mathematische Modell einer Infektionskrankheit vor, auf der Basis der grundlegenden Innovationen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung und zeigte dem König qualitativ und quantitativ auf, was eine «Impfung» bedeuten würde. Er zeigte auch auf, wie «Impfgegner» reagieren würden. Das Original liegt heute in der Unibibliothek in Basel. Der König verfügte später die Inokulation als «Impfung». Jenner beschrieb dann 1796 tatsächlich die erste Pockenimpfung. Ich selber durfte im Jahr 2015 für die Académie française über die Zukunft der Impfstoffe sprechen. Das Durchschnittsalter der Zuhörer war weit über meinem eigenen Alter. Ich erwähnte Bernoulli, der 1760 an der genau gleichen Stelle stand und seine Analyse erklärte, was das Publikum mit grossem Erstaunen entgegennahm. Diese Anekdote war eine Art Eisbrecher für meinen Vortrag und für die Bedeutung der Risiko-Benefit Abwägung einer Intervention in einer Gesellschaft.

Daniel Bernoulli – Schweizer Mathematiker und Arzt
Daniel Bernoulli

Xecutives.net: Sie haben das Thema Angst erwähnt. Sie ist wohl wirklich nicht zielführend und die Medien und sozialen Netzwerke tragen das ihre dazu bei, diese Ängste auch wirklich überall hin streuen zu können. Ich stelle mir beim Lesen alter Bücher oft vor, mit welchen Ängsten in der Vergangenheit Menschen leben mussten, wenn eine neue Pestwelle heranzog. Ich habe in vielen alten Chroniken Berichte über die Pest gelesen, auch über das Berner Oberland, wo noch Mitte des 17. Jahrhunderts zwei Drittel der Bevölkerung von Grindelwald starb, weil vom Kanton Bern verordnete Massnehmen zu spät kamen und schliesslich von der Bevölkerung nicht mit genügender Vorsicht mitgetragen worden sind.

Marcel Tanner: Diese Angst bei der Pest war immens und man muss sie genauer betrachten. Wenn man einer Krankheit ausgesetzt ist, bei der kleine Babys, Kinder und auch erwachsene Menschen im gleichen Mass sterben, dann bekommt die Angst noch einmal eine ganz andere Dimension. Wir haben die Problematik und Fragen der Heterogenität, die uns bei Covid beschäftigen müssen und darum ist diese Diskussion der Angst sehr schwierig. Es geht um die Heterogenität in Bezug auf das Alter und auf die Verteilung, wo die Krankheit auftaucht. Die Angst ist nicht überall gleich gross, weil nicht alle im gleichen Mass betroffen sind. Bei Covid ist die Angst grundsätzlich bei älteren Menschen grösser, weil sie mehr betroffen sind. Es wird die Meinung vertreten, dass diese Krankheit nur die alten Menschen tangiere und die jungen eher nicht. Schon das ist aber nicht richtig, da auch diverse Risikogruppen betroffen sind, also bspw. auch Menschen, die Herzkreislaufprobleme, Übergewicht und/oder Diabetes haben. Die Diskussionen in Bezug auf die Angst werden damit viel bedeutender, denn ein grosser Teil der Bevölkerung fühlt sich nicht betroffen, was manche Reaktion und Forderung erklärt. Das macht den Umgang mit einer Pandemie, wie wir sie vorliegen haben, extrem schwierig. Noch im Sommer hätten Feste, «Chilbis» und Alpaufzüge stattfinden sollen. Viele Menschen vertraten in Bezug auf die Massnahmen die Meinung, dass sie ja gar nicht betroffen seien und man noch gar keinen Fall, oder nur einen Fall, vorliegen habe, somit seien die Massnahmen unnütz und übertrieben. Das Handhaben einer epidemischen oder allgemein aussergewöhnlichen Situation wird, wo Menschen solche Meinungen vertreten, viel schwieriger. Wo die Angst hingegen homogen auftritt, kann man grundsätzlich mit einer Epidemie besser umgehen.

Xecutives.net: Diese Ängste werden auch von den Medien gepusht. Kaum ein Todesfall erscheint nicht auf der ersten Seite. Das kann die Menschen extrem verunsichern. Dazu kommen eine Vielzahl von sozialen Medien, wo viel Unsinn und Halbwissen geteilt wird, bis hin zu den von Ihnen genannten Verschwörungstheorien.

Marcel Tanner: Heute werden Nachrichten und Botschaften in einer grossen Geschwindigkeit, und oft ohne fundiert zu sein, vermittelt. Das führt dazu, dass man sogar Panik erzeugt. Angst und Panik führen bei uns zu Unsicherheit und Verwirrung. In Situationen von Ebola, oder auch in Ihrem Beispiel mit Grindelwald, kann es sehr helfen, wenn das Bewusstsein, nicht ein Angst- oder Panikgefühl, da ist, dass man sterben kann an einer Krankheit. Das führt dazu, dass man auch Massnahmen besser durchsetzen und umsetzen kann, weil alle betroffen sind. Interessant war es zu sehen, wie das Tessin reagiert hat, als in Norditalien sehr viele Menschen an Covid starben und die Situation im Tessin auch kritisch war. Die Massnahmen im Tessin konnten viel einfacher von der Bevölkerung akzeptiert und damit durchgesetzt werden als bspw. in der Deutschschweiz.

Angst gehört dazu und Angst kann durchaus helfen, ein kollektives Bewusstsein zu schaffen. Was wir aber heute weltweit beobachten, durch die Medien und sozialen Netzwerke stark verstärkt, ist eine Panikmache, die wenig hilfreich ist.

Xecutives.net: Diese Angst kann auch in Hass umschlagen, Opfer von Angst werden zu Tätern. Der Hass richtet sich gegen Politiker, gegen Forscher und überhaupt gegen jede/jeden, die/der anderer Meinung ist. Manche Zeitung, auch renommierte Zeitungen in der Schweiz, scheinen aus Absatzgründen gerne hin und wieder an Grenzen zu gehen, bei deren Übertreten den Zeitungsmachern und Journalisten klar sein müsste, dass Informationen von Lesenden falsch interpretiert werden. Was haben Sie selber diesbezüglich für Erfahrungen gemacht? Haben Sie diese Reaktionen überrascht?

Marcel Tanner: Nein, ich bin nicht überrascht worden. Ich bin Public Health-Spezialist und setze mich seit 42 Jahren mit Krankheiten und ihrer Bekämpfung auseinander. Ich habe immer versucht, Probleme in einem breiteren Kontext zu behandeln. Ich habe nie propagiert, dass man nur Infektionskontrollen machen muss, um jeden Preis. Mir ging und geht es immer auch um das soziale Gewebe – die betroffenen Menschen, von dem wir diskutiert haben –, das eben eine zentrale Rolle spielt. Ich habe mich auch darum gerne für Diskussionen in der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Dort waren immer auch Menschen, die grundsätzlich gegen den Staat oder generell unzufrieden sind. Es gibt aber Menschen, die einfach Angst haben. Diese Ängste muss man ernst nehmen. Ich war selber vielen Angriffen und Hass ausgesetzt.

Vor 42 Jahren war mein erstes Problem, mit dem ich mich befassen durfte, die Krankheit Cholera. Ich war in Tansania und half mit, die Krankheit zu bekämpfen. Dabei ging es nicht um Forschungsarbeit, sondern es ging darum, den Ausbruch einzudämmen, so dass Menschen sich nicht noch mehr anstecken konnten. Es ist interessant zu sehen, dass in ärmeren Regionen viel weniger Hass gegen staatlich verordnete Massnahmen entsteht als hier bei uns in der westlichen Welt. Ich erkläre mir das auch damit, dass es den Menschen bei uns zu gut geht. Es geht uns so gut, dass das schon ein Problem darstellt. Wir leben in einer Welt, in der wir nicht mehr auf unsere Nachbarn angewiesen sind. Ich denke dann immer wieder an die Fünfzigerjahre, als ich in Diegten, im Oberbaselbiet, bei meinen Grosseltern viel Zeit verbrachte und sah, wie die Dorfbewohner aufeinander Rücksicht nahmen. Sie waren sich bewusst, dass sie, wenn sie miteinander arbeiteten, besser vorwärtskamen als wenn man sich bekämpft. Mein Grossvater hatte keinen Traktor und kein Pferd. Er bekam jedoch beides von einem Nachbarn. Dafür hat ihm dann mein Grossvater wiederum einen Dienst erwiesen. Ein wichtiges Detail dazu: In genau diesen Jahren grassierte bei uns auch die Maul- und Klauenseuche und in den Dörfern herrschten strikte Seuchenbekämpfungs-massnahmen bezüglich Zugang und Desinfektion – eine Art «Lockdown».

Xecutives.net: Wie erklären Sie sich diese Abkehr von diesem Gemeinschaftssinn?

Marcel Tanner: Es geht um ein dummes Eigenverantwortlichkeitsgefühl, das von vielen falsch verstanden wird. Sehen Sie sich um, diese Leute sind der Meinung, dass sie denken und damit auch entscheiden können. Jeder ist der Meinung, er wisse was richtig und falsch ist. Menschen, die anderen Menschen drohen, funktionieren alle so. Sie sind der Meinung, dass sie richtig liegen und der andere ganz bestimmt falsch liegt. Sie erkennen nicht, dass wir, um das Beispiel Pandemie zu brauchen, Gemeinschaftsverantwortung übernehmen müssen. Diese Gemeinschaftsverantwortung ist uns abhandengekommen, nicht nur was die Pandemie anbelangt – die Pandemie verdeutlicht einfach, was in einer Gesellschaft schlummert. Darum haben mich die Reaktionen auf die Pandemie und die Massnahmen nicht erstaunt. Ich wäre eher erstaunt gewesen, wenn diese Reaktionen nicht gekommen wären.

Xecutives.net: Ich erinnere mich an ein ausgezeichnetes Gespräch mit Prof. Dr. Ingo Potrykus, als er über Genmanipulation berichtete und den Reis ansprach, der aufgrund eines genetischen Eingriffs Vitamin A anreichert. Es wurde im Gespräch schnell klar, dass wir diesen Reis sofort anbauen würden, hätten wir hier in Europa Menschen und vor allem Kinder, die an Vitamin A-Mangel leiden würden. Es sind sozialdarwinistische Verhaltensmuster, die viele Menschen bewegen, anderen zu sagen, was sie tun und lassen sollen, das mit einer gewissen Leichtigkeit, weil man selber ja in Bezug auf viele Probleme nicht betroffen ist. Bei der Pandemie scheint es mir, gibt es ähnliche Muster, indem jüngere Menschen sich über den Tod von älteren Menschen auslassen, indem sie sagen, dass diese älteren Menschen sowieso bald sterben würden oder Menschen krank sind und nicht mehr lange leben werden. Sie schliessen von sich selber auf andere.

Marcel Tanner: Tansania, wo ich lange gearbeitet hatte, hat sehr unter Malaria gelitten. 50%-60% der in Spitäler Eingewiesenen litten an der Krankheit, darunter auch sehr viele Kinder. 1980 noch starben jedes Jahr 3 Millionen Kinder an Malaria! 1992 testeten wir den ersten Malaria-Impfstoff. Viele Menschen meinten damals, dass das sehr lange dauern würde. Es gab grosse Diskussionen, denn man konnte nicht einfach sechs oder sieben Jahre zuwarten. Es wären in dieser Zeit wieder sehr viele Menschen an Malaria gestorben. Schon 1994 konnten wir zusammen mit afrikanischen Spezialisten und Pedro Alonso die ersten Impfungen gegen Malaria durchführen. Pedro Alonso ist heute der Chef des Malariaprogrammes der WHO. Wir präsentierten damals ein neues Format, wie man Impfstoffe schneller, aber ethisch und wissenschaftlich korrekt, testen konnte. Wir hätten den betroffenen Menschen nicht sagen können, sie müssten nun sieben Jahre warten, bis der Impfstoff von allen Instanzen geprüft worden ist, bis man die letzte Nebenwirkung entdeckt und das allerletzte Risiko ausgeschlossen hat. Dieses neue Format u.a. hat später dazu geführt, dass man innert einem Jahr den ersten Ebola-Impfstoff anbieten konnte. Auch der jetzige Corona-Impfstoff ist mit einem schnellen Prozess entstanden. Man kann in diesem Moment nicht jede letzte Nebenwirkung in den Griff bekommen, das ist aber in Anbetracht dessen, dass man viele Leben retten kann, eher nebensächlich. Es ist in der Zwischenzeit möglich, dass man einen Impfstoff in einem Prozess bereits registrieren kann, unter der Bedingung, dass man ihn weiterverfolgt und gegebenenfalls verbessert, wenn neue Erkenntnisse vorliegen. Damit ist diese Vorgehensweise ethisch als auch wirtschaftlich korrekt. Es muss der Forscher also nicht immer noch das allerletzte Detail abklären, sondern es verhält sich wie bei einem «Übertragungsriemen», wo man die neuste wissenschaftliche Erkenntnis stets verantwortungsbewusst umsetzt, eben mit zusätzlichen Bedingungen, die medizinischen und sozialen Effekte zu verfolgen und den Impfostoff auch weiterzuentwickeln, wenn sich neue Erkenntnisse ergeben.

Malaria- verursachender Malaria-Erreger und Blutzellen
Blutzellen mit Malaria- verursachendem Erreger

1997 übernahm ich als Direktor das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut, damals mit 80 Beschäftigen. Es stand zur Diskussion, das Institut aufzulösen. Ein Teil hätte dann das Universitätsspital übernommen und ein weiterer Teil wäre ans Biozentrum gegangen. Das wollten wir nicht und wir haben angefangen zu investieren, denn das Institut funktioniert eben anders als eine Universität. Es geht im Institut darum, dass man Lehre, Forschung und Anwendung, also die Dienstleistung, als einen zusammenhängenden Prozess anschaut. Am Schluss meiner Zeit als Direktor des Instituts waren wir 750 Personen aus 62 Nationen mit einem Budget von 84 Millionen Schweizer Franken. Nur 20% des Budgets bestand aus Subventionen. Der Restbetrag wurde kompetitiv mit Drittmitteln beschafft. Man muss also investieren, um die Forschung so einzusetzen, dass sie das Problem lösen kann. Das ist dieser «Übertragungsriemen» zur Umsetzung. Diese Erkenntnis kommt aus den Tätigkeiten in den schwierigen Gebieten und Situationen, in denen ich mein Leben lang tätig war.

Ein wichtiger Punkt ist, dass man nie genug weiss. Man hat aber immer genug Evidenz, um bereits etwas zu tun. Dieser Punkt hat vor allem auch eine ethische Dimension, wie im Fall von Malaria beschrieben. Die Public Health-Wissenschaft muss unter Beachtung der Gesellschaftsentwicklung das Ziel verfolgen, ein Problem möglichst bald aus dem Weg räumen zu können.

Xecutives.net: Ich erinnere mich an die vielen Diskussionen in Bezug auf Malaria. Die Pharmaindustrie konnte sich nicht recht begeistern, die Krankheit anzugehen. Es bestand das Risiko, dass der Impfstoff für meist ärmere Menschen nicht einträglich genug hätte sein können. Es waren dann schliesslich Menschen, wie Sie, die sich der Krankheit trotzdem zugewandt haben, offenbar mit grossem Erfolg. Wie hat es dann doch noch zur Zusammenarbeit mit der Industrie kommen können?

Marcel Tanner: Das ist ein interessanter und wichtiger Punkt. In den Achtzigerjahren und Anfang der Neunzigerjahre wusste weder die öffentliche Forschung noch die Pharmaindustrie recht, wohin sie sich für neue Investitionen gerade für Krankheiten der Armut – wo kein «Markt» bestand – bewegen wollten. Man hat sich aber zusammengefunden mit den Public Private Partnerships. Ich war einer der 12 Personen, die Ende der Neunzigerjahre den innovativen Ansatz der Product Development Partnerships (PDPs) gegründet haben. Wir hatten zuerst die Idee, alle Armutskrankheiten mit einem Schlag anzugehen. In einem bekannten Dolder-Meeting mit den wichtigsten Kapitänen der Industrie kam der Wunsch auf, dass man zuerst mal mit einer Krankheit Lösungen aufzeigen sollte, dass es klappt. Schliesslich beschloss man, sich der Malaria anzunehmen. 1997 wurde das Medicines for Malaria Venture (MMV) in Genf gegründet. Mit dem Nobelpreis von Médecins Sans Frontières (MSF) wurde dann die Drugs for Neglected Diseases initiative lanciert. Das führte dazu, dass sich die Öffentlichkeit und die Privaten wieder wirksam zusammenfanden und gemeinsam tätig wurden, mit grossem Erfolg. Bis heute sind 12 Behandlungen für die vernachlässigsten Bevölkerungsgruppen mit den vernachlässigsten Krankheiten geschaffen worden und MMV hat bisher über 7 neue Malariabehandlungen entwickelt. Auf diese Weise konnten wir auch gerade die wichtigsten Bedürfnisse der vernachlässigsten Menschen abdecken und damit die von Ihnen genannte sozialdarwinistische Denkweise einiger Menschen umgehen. Man konnte zeigen, dass man nicht in einer ersten, zweiten oder dritten Welt lebt, sondern in einer gemeinsamen Welt, und dass gewisse Investitionen getätigt werden müssen und können, um diese sozialdarwinistische Denkweise gar nicht weiterspielen zu lassen.

Xecutives.net: Diese Denkweise und was Sie sagen, spielt heute auch in Bezug auf Corona eine Rolle. Sie erklärt, warum sehr schnell ein Impfstoff gefunden wurde, der hilfreich ist. Ich höre aber auch heute Menschen, die sagen, dass ältere Menschen ja sowieso bald sterben würden und darum der Fokus auf anderes gesetzt werden sollte.

Marcel Tanner: Das ist richtig und es handelt sich um ein sehr dummes Argument, das von wenig gesamtgesellschaftlicher Verantwortung geprägt ist. Das hat damit zu tun, dass man in unserer Gesellschaft Probleme hat, mit dem Sterben an sich umzugehen. Das Argument ist aber auch sonst nicht tauglich, da Corona ja auch ganz andere Menschen ebenfalls betrifft, solche mit Vorerkrankungen, mit Miterkrankungen. Diese Menschen müssen geschützt werden. Es ist unsere gesellschaftliche Verantwortung, einen guten Weg für alle auszuhandeln.

Ich möchte Ihnen dazu aber noch ein Beispiel nennen: Als in der ersten Welle den älteren Menschen und anderen Risikopersonen angeraten wurde, sich besonders zu schützen, hat man ihnen bspw. im Tessin nahegelegt, nur zu speziellen Zeiten einkaufen zu gehen. Organisationen und Vereinigungen der älteren Menschen waren wenig erfreut und haben anfänglich von Diskriminierung gesprochen, sich gegen diese als Schutz gedachten «Diskriminationen» zur Wehr gesetzt. Die Interessengruppen der älteren Menschen hatten damals falsch reagiert. Der Sinn der Massnahme war es ja, diese Menschen zu schützen. Das Beispiel zeigt, dass man in einer Krisensituation aushandeln können muss. Damit tun wir uns schwer. Wir sind im selben Boot und es gibt unterschiedliche Massnahmen, die unterschiedlich verteilt sind und Menschen unterschiedlich treffen können. Es ist halt eben nicht dasselbe, ob Kinder ebenfalls so betroffen sind wie die älteren Menschen als wenn es eben nur um bestimmte Risikogruppen geht. Dieses Miteinander müssen wir angehen und das ist ein Punkt, der nun aufgrund der Krise noch viel deutlicher geworden ist. Somit zeigt diese missverstandene oder nichtvorliegende gesellschaftliche Verantwortung auch ein bisschen ihr wahres Gesicht und damit müssen wir uns als Gesellschaft auseinandersetzen.

Xecutives.net: Was wäre passiert, wenn in der Pandemie keine oder weniger Massnahmen getroffen worden wären?

Marcel Tanner: Da muss man sehr aufpassen und eine exakte Antwort ist nicht möglich. Man muss zuerst wissen, wie sich das Virus ausbreitet. Wenn ich diese Frage beantworte, wirft man der Wissenschaft vor, Horrorszenarien zu teilen. Es ist aber sicher so, dass man ohne genügende Massnahmen eine sehr schlimme erste Welle gehabt hätte. Das Gesundheitssystem wäre an seine Grenzen gekommen. Es wären sehr viele Menschen gestorben, die man hätte retten können. Zu den 850 zertifizierten Intensivbetten hätte man dann noch die 1500 nicht zertifizierten Betten hinzugezogen. Es wäre aber zu einer Krise gekommen, wie wir sie in Bergamo haben beobachten können. Es war aber unumgänglich, etwas zu tun, sobald die Grenze zur Schweiz tangiert war. Man konnte gar nicht einfach nichts tun. Wie wir schon besprochen haben, hätte man in einer solchen Situation auch schon im Mittelalter Grenzen gesperrt, betroffene Gegenden isoliert und Quarantänevorschriften erlassen, so wie Sie das im Fall des Berner Oberlands geschildert haben. Es gibt somit gar kein Szenario in dem man nichts getan hätte.

Corona verhält sich aber auch anders als bspw. das Masernvirus. Ist man einmal mit dem Masernvirus infiziert oder geimpft, ist man das Leben lang durch Immunität vor der Krankheit gefeit. Das ist im Fall von Corona nicht der Fall, wo die Immunantwort durch Infektion und Krankheit nicht so deutlich schützt. Es wäre nicht zu einer allgemeinen raschen Durchseuchung gekommen. Viele Menschen wären über lange Zeit noch exponiert gewesen. Wir können das Virus nicht eliminieren. Wir müssen mit dem Virus leben, aber können schon viel mehr, als vor einem Jahr, unternehmen und auch der Impfstoff hilft nun unendlich.

Coronavirus

Xecutives.net: Mir sind diverse Fälle von Corona-Toten bekannt, die mit deutlich unter 60 Jahren gestorben sind. Es hätte nicht nur die älteren Menschen hart getroffen, sondern eben auch jüngere Menschen und Menschen mit Gesundheitsproblemen.

Marcel Tanner: Ich habe sehr viele Kollegen und Freunde in Tansania verloren, Menschen, die nicht bekannt sind. Aber auch bekannte Menschen starben, wie der Vize-Präsident von Sansibar. Die schlimmsten Corona-Leugner hätten ohne geeignete Massnahmen einsehen müssen, dass das nicht einfach nur eine kreierte Pandemie ist.

Xecutives.net: Herr Tanner, das ist nun keine Aussage in Bezug auf die Pandemie, aber es ist vorstellbar, dass in den nächsten Jahren der Hypozins wieder raufgeht. Das ist nicht nur vorstellbar, sondern klar. Was runter geht, geht irgendwann rauf. In solchen Momenten soll es der Staat wieder richten und wie in der Finanzkrise selbst Banken finanzieren. Menschen, die es nicht mögen, wenn sich der Staat einmischt, wollen dann plötzlich mehr Staat. Mir scheint das in der Corona-Pandemie ähnlich zu sein. Sobald man selber betroffen ist, kann der Staat gar nicht genug für einen selbst tun. Ist das nicht ein fürchterliches Dilemma?! Jeder, der irgendwann sein Haus nicht mehr bezahlen kann, wird vom Staat Geld und Unterstützung verlangen und von staatlicher Verantwortung sprechen.

Marcel Tanner: Das ist ein grosses Dilemma. Es geht wieder um ein falsches Verständnis von Eigenverantwortung. Die Menschen müssten vor ihrem Gegenüber mehr Respekt haben. In einer Gesellschaft, der es zu gut geht, verliert der Mensch die Fähigkeit des kreativen Zuhörens. Wenn jemand ein Problem hat, müsste das Gegenüber nicht nur zuhören, sondern auch auf das Problem eingehen. Es reicht nicht, einfach nur über etwas geredet zu haben. Es muss etwas entstehen. Das hapert bei uns. Die Corona-Pandemie ist sicher keine rechts- oder links-Problematik. Es ist ein Public Health-Problem.

Wir sollten ganz generell aus schwierigen Situationen lernen können. Die Menschen in Ho-Chi-Minh-Stadt, im alten Saigon, in Dakar, in Bangladesch und in den Townships in Südafrika wissen meist viel besser, wie sie aus dieser Situation rauskommen als die «Experten» aus der ganzen Welt. Wenn ein «Experte» somit in diese Regionen der Welt geht, muss er kreativ zuhören können und das soziale Gewebe verstehen. Das ist aber oft anders. Man kann diesen Respekt und das konstruktive Zuhören mit dem sozialen Gewebe vergleichen, das durch kleine Knoten zusammengehalten wird. Es bedarf zuerst Respekt, damit später Vertrauen entsteht. Es gibt bei uns zu viele Menschen, die fest davon überzeugt sind, wie diese Gesellschaft gesteuert werden muss. Sie erinnern sich an den Moment, als es aufgrund eines Erdwärmeprojektes in Basel zu Erdbeben kam. Sehr schnell wurden dabei über Nacht etwa 5’000 Erdbebenspezialisten geboren, die alle ihr Wissen teilen wollten. Bei Corona sind es noch viel mehr!

Xecutives.net: Ich bin mit Menschen in Kontakt, die mit dem Bundesrat und seiner Performance in Sachen Corona nicht zufrieden sind. Eine ältere Person, die auch den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, war der Meinung, dass der Bundesrat in der Pandemie und Krise nicht mit der nötigen überzeugenden Stimme auftrat und damit auch dazu beitrage, dass es zu unnötigen Diskussionen komme. Der Bundesrat müsse in einer Krise geeint und überzeugend auftreten, wie im Zweiten Weltkrieg. Wie haben Sie das als Epidemiologe, Public Health-Spezialist und Mitglied der Corona Task Force erlebt? Sind Sie der Meinung, dass die Schweiz sich in der Pandemie falsch verhalten hat?

Marcel Tanner: Wir müssen das im Kontext sehen, wie man heutzutage informiert und wie wir heute leben. Wir erwarten heute von einem Gremium nicht mehr, dass alle der gleichen Meinung sind. Wir wollen die einzelnen Stimmen und Gegensätze hören. Das entspricht unserer Kultur und liegt auch in der Natur der Wissenschaft. Wichtig ist, dass es nicht um Propaganda geht, sondern um Information. Ich habe kein Problem damit, wenn ein Bundesrat findet, Wissenschaftler gingen ihm auf den Nerv. Man kann in einem solchen Moment einschreiten und auf ihn zugehen. Damit habe ich keine Probleme und ich sehe das mehr als ein Zeichen der Zeit, wie wir miteinander umgehen, halt anders als noch vor 40 Jahren. Ein Grossteil der Menschen will nicht einfach eine Stimme oder eine Partei. Wichtig ist, dass man einander zuhört. Wenn man dann aber Parteipolitik oder Propaganda vorgelegt bekommt, beschleunigt durch die Medien, dann halte ich das für kritisch. Es gibt solche Menschen auch im Parlament, die nicht zuhören, sondern stetig Propaganda betreiben, auch sehr bekannte Politikerinnen und Politiker. Es ist eben wichtiger, wie man etwas kommuniziert und nicht nur was man kommuniziert.

Ältere Menschen, gerade auch ich, hingegen müssen akzeptieren, dass die Welt in vielerlei Hinsicht anders funktioniert als früher. Und das ist ja nicht immer nur schlecht. Ich wurde eben zu meinen Erfahrungen mit Bundesrat Alain Berset befragt. Mich haben sein Verhalten, seine Aussagen und sein Auftreten nie gestört und er hat im persönlichen Gespräch kreativ zugehört. Ich habe aber mehr meine Mühe mit den Medien; vor allem mit den Blattmachern. Ich lese dann Interviews, die ich gegeben habe, die mit dem Titel «Tanner fordert…» daherkommen, obwohl im ganzen Interview gar nie etwas gefordert wurde. Corona hat nicht gezeigt, dass der Bundesrat nicht einig ist, sondern mehr den Umgang mit dem Thema durch die Medien. Die Meinungen der Bundesräte kann man einordnen und sie sind verantwortungsbewusst und ehrlich. Viele Journalistinnen, Journalisten und Zeitungsmacher stehen unter grossem Druck. Sie müssen ein Produkt verkaufen und überschreiten dabei oft gewisse Grenzen zur Des- und Missinformation.  

Xecutives.net: Wir blicken auf eine grosse Finanzkrise zurück, die noch heute unser Leben beeinflusst und die man nicht voraussah und mit der sich die Politik, aber auch die Fachexperten und Medien sehr schwertaten. Heute wissen wir um die Gründe und Zusammenhänge und sie sind tlw. fast schon banal. Wie schaut es mit der Pandemie aus? War die Schweiz nicht richtig vorbereitet auf eine solche Krise?

Marcel Tanner: Die ganze Welt war nicht oder schlecht vorbereitet. Das Krisenagieren der Menschen ist nicht eingeübt. Was der Pilot tausende Male im Simulator übt, nämlich den Umgang mit gefährlichen Situationen, tun wir Menschen nicht. Kommt es zu einer Krise, fangen wir mit Üben an. Wir müssen nicht jeden Samstag eine Zivilschutzübung machen. Wir müssen aber wissen, was die Position der wichtigen Gremien, wie dem Bundesrat, dem BAG und dem Militär ist. Die Task Force wurde erst am 1. April 2020 gegründet. Das ist kein Scherz (lacht)! Und das obwohl der Lockdown schon am 16. März 2020 verordnet worden ist. Wenn ein Land einen wissenschaftlichen Beirat hätte, könnte man bei aufkommenden Gefahren, das können auch Fragen und Punkte der Gentechnologie, Energie, des CO2-Austosses etc. sein, schon auf Vorarbeiten zurückgreifen. Mit anderen Worten, man wäre auf Krisen vorbereitet. Die wenigsten Länder waren gut vorbereitet.

Dann gibt es noch einen anderen Aspekt, der hier eine grosse Rolle spielt. Die Schweiz und die Länder in Europa sind keine Diktaturen, die schnell etwas verordnen können, ohne sich an gewisse Spielregeln halten zu müssen. Singapur, Taiwan Südkorea und China konnte sehr schnell verordnen. Es gab keine «feel-me-touch-me-Sessions», bei der das Befinden sämtlicher Stake Holders geprüft und berücksichtigt wird. Das erklärt auch, warum es bei uns so lange gedauert hat mit der Corona-App. Es mussten monatelang datenschutzrechtliche Diskussionen geführt werden, während die genannten Länder mit einem anderen Demokratie- und Politikverständnis ihre Massnahmen von einem Tag auf den anderen umgesetzt haben. Das entspricht nicht unserem politischen System und Verständnis. Dann kommt noch dazu, dass wir in der Schweiz 26 Kantone haben und einen ausgesprochen ausgeprägten Föderalismus pflegen. Das betrifft nicht nur die Schweiz, aber man hat den Kernpunkt, wie man in einer Krise miteinander arbeitet, über die Kantonsgrenzen und Departemente hinaus, zu wenig Beachtung geschenkt.

Xecutives.net: Das betrifft aber auch viele anderen Probleme, mit denen wir uns befassen oder befassen sollten, ich denke an Themen der Bildung, an eine grosse Verschuldung, Umweltherausforderungen und die Finanzierung der AHV.

Marcel Tanner: Das ist genau der Punkt, der mir wichtig ist und an dem wir dran sind. Ich präsidiere die Akademie der Wissenschaften in der Schweiz und dieses Behandeln von Herausforderungen von Problemen, das fachübergreifende Zusammenarbeiten, war schon vor Corona ein wichtiger Punkt. Wir brauchen einen funktionierenden Dialog zwischen Politik, Bevölkerung und Wissenschaft. Wenn dieser Dialog nicht funktioniert, werden wir weitere ähnliche Probleme haben in Bezug bspw. auf Gentechnologie, Klima, Energie und auch Gesundheit.

Ebola blieb 2014 in den drei von der Krankheit betroffenen Ländern. Später sind Tausende von Wissenschaftlern von Meeting zu Meeting gefahren, um lessons learned-Erkenntnisse abzuholen. Auch die WHO, Harvard und viele andere haben lessons learned-Meetings durchgeführt. 2015 waren dann alle an diesen Meetings. Diese Experten waren auch in wichtigen Gremien und haben Resolutionen unterzeichnet. Nun kommt Corona und man hat das Gefühl, dass alles vergessen ging. Das Wissen konnte nicht richtig angewendet und umgesetzt werden. Es ging das Konzeptionelle von Public Health verloren. Man schaut bei einem konzeptionellen Ansatz nicht nur, was alles an Keimen auf uns zukommen könnte, um später einen Impfstoff zu entwickeln. Wir haben rund 1400 Infektionskrankheiten. 800 davon betreffen Mensch und Tier. Es kann also wieder etwas auf den Menschen rüberspringen und in solchen Momenten muss es um das Wohlbefinden der ganzen Bevölkerung gehen. Dieses kann nur herbeigeführt werden, wenn Public Health-Prinzipien von allen mitgetragen werden. Der wichtigste Punkt, auch während den lessons learned-Meetigs vermittelt, ist «Surveillance-Response», ein funktionierendes Überwachungssystem, das zu raschem Eingreifen führt. Man muss wissen, wann wo etwas passiert, so dass man schnell und gezielt intervenieren kann. Die meisten Länder machen Monitoring und Evaluation. Das ist nicht dasselbe, das Katastrophalste, was man tun kann. Es geht bei diesen «Jäger- und Sammler-Aktionen» vorwiegend darum, möglichst alle Daten zu sammeln. Es werden von Fachexperten Gigabytes von Daten gehortet, die dann aber kaum ausgewertet werden. Damit kann man kein System überwachen und zielgerichtet intervenieren. Surveillance basiert auf dem Konzept, nur die minimal nötigen Daten zu erheben in Raum und Zeit, damit man sieht, wo sich etwas verändert. Das gilt für alle Bereiche, nicht nur für die Gesundheit. Damit wird die Überwachung bereits zur Intervention. Das ist eine der wichtigsten Lektionen, die wir nicht gelernt haben. Darum waren wir und alle anderen auch nicht vorbereitet.

Xecutives.net: Herr Tanner, ich bedanke mich herzlich für die Zeit, die Sie sich für dieses Interview genommen haben und wünsche Ihnen bei Ihren Forschungsarbeiten und Public Health-Projekten weiterhin alles Gute!

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