Portrait von Marina Weisband im Interview mit Xecutives.net über die Ukrainer und die alten Eidgenossen
Marina Weisband, im Interview mit Xecutives.net

Marina Weisband wurde in Kiew geboren und hat die deutsche und ukrainische Staatsbürgerschaft. Die Diplom-Psychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung hat sich immer wieder in Sachen Ukraine und russischer Annexion öffentlich geäussert, so unlängst auch in der Polit-Talkshow von Maybrit Illner. Marina Weisband war schon früh politisch aktiv, so auch Mitglied der Piratenpartei Deutschland, dort politische Geschäftsführerin und Mitglied des Bundesvorstandes. Seit 2014 leitet Marina Weisband nebst vielem mehr bei politik-digital e.V. das Projekt aula, ein Konzept zur politischen Bildung und liquid-demokratischen Beteiligung von Jugendlichen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen und ausserschulischen Organisationen (www.aula.de).

Im Interview mit Xecutives.net spricht Marina Weisband über die Desinformationskampagnen der Russen und sie zeigt auf, wie es Russland immer wieder gelingt, die Gesellschaft in anderen Ländern mit der Verbreitung dreister Lügen zu spalten. Sie nimmt Stellung zu reichen Russen und Oligarchen, die gerne mit ihren Familien die Vorzüge des Westens geniessen, sich aber im eigenen Land wenig positiv über den Westen äussern. Marina Weisband sieht Parallelen zwischen den Eidgenossen und der Ukraine. Beide haben sich zwischen Autokratie und Freiheit entschieden und sich gegen Aggressoren zur Wehr setzen müssen. Die Tatsache, dass die Ukrainer früh erkannten, sich nicht auf korrupte Politiker einlassen zu müssen und das kollektive Bewusstsein, dass sie diese auch stürzen und sich selber organisieren können, ist in russischen sozialen Medien diskutiert worden, für den autokratischen und imperialistischen Putin eine unangenehme Situation, der er mit der Annexion der Krim entgegentrat und die auch den Krieg mit der Ukraine erklärt.

Xecutives.net: Frau Weisband, kennen Sie die Schweiz etwas, und wie nehmen Sie die Schweizer wahr?

Marina Weisband: Von Kanton zu Kanton unterschiedlich (lacht).

Xecutives.net: Wenn man so eine Antwort gibt, dann kennt man die Schweiz gut!

Marina Weisband: Ich kenne mich in der Schweiz etwas aus und bin immer wieder in Basel.

Xecutives.net: Sie sind Diplom-Psychologin, deutsche und ukrainische Staatsbürgerin und haben in Bezug auf den Ukraine Krieg etwas mehr zu sagen als andere Menschen, die diesen Krieg von aussen ebenfalls mitverfolgen und sich Sorgen machen. Ich möchte Sie fragen, wie Sie den Ukraine Krieg aus Sicht einer Psychologin einordnen und einstufen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an diesen Krieg und Psychologie denken?

Marina Weisband: Es gibt hier ganz viele Ebenen in diesem Konflikt. Die Ukraine hat sich im Kern zwischen einer ursprünglich sowjetisch-kollektivistischen Einstellung zu einer Hinwendung zu eher westlichen Werten mit stärker ausgeprägtem Individualismus und vor allem zu einem Verständnis der eigenen Würde entschieden. Westliche Werte, Individualismus und Würde sind in der Sowjetunion nicht gefördert worden und werden bis heute in Russland nicht gefördert. In der Ukraine gab es spätestens auf dem Maidan die Erkenntnis der Selbstwirksamkeit, dass es keine Politiker braucht und sich die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst organisieren können. Diese Einstellung, dass man sich nicht auf korrupte Politiker einlassen muss und man diese auch stürzen und sich selber organisieren kann, Punkte, die auch in Russland in den sozialen Medien diskutiert wurden, führte zur Annexion der Krim durch Putin. Der Krieg wurde ausgelöst aufgrund dieser Idee der Demokratie, die Putin selbst gefährlich wurde.

Dann kommt für mich auch als Psychologin die spannende Frage, wie die Deutschen und auch die Schweizer mit alldem umgehen, die die letzten 50 Jahre in einer Art Disney Land verbracht haben. Damit meine ich eine Gesellschaft, die friedlich war und der es über lange Zeit hinweg immer besser ging. Es fragte sich, wie diese Menschen sich darüber im Klaren werden können, wie sich die Welt verändert, dass es offenbar ein Recht des Stärkeren gibt, dass man manchmal auch schwere Entscheidungen treffen muss und wie man mit alldem umgeht. Das ist für mich sehr spannend zu beobachten.

Marina Weisband im Interview mit Xecutives.net über Parallelen zwischen den Ukrainern und den alten Eidgenossen
Diplompsychologin Marina Weisband, geboren in Kiew, ist Deutsche und Ukrainische Staatsbürgerin

Xecutives.net: Von einer Psychologin könnte ich mir vorstellen, wenn es auch um andere Konflikte geht, vielleicht auch um zwischenmenschliche Konflikte, könnte man möglicherweise hören, dass sie sagt, man solle aufeinander zugehen, sich die Hand geben, sich umarmen. Das geht nun aber in diesem Fall offenbar nicht so gut.

Marina Weisband: Es kommt darauf an, wer hier wem die Hand geben soll. Es geht durch die russischsprachige Diaspora hier in Deutschland seit 2014 ein Graben, der es nicht erlaubt, dass Brüder mit Schwestern sprechen und man sich die Hand gibt. Das hat damit zu tun, dass die einen russisches Fernsehen konsumieren und die anderen nicht. Und so ist es sehr schwer, wieder auf einen Nenner zu kommen. Die Familie besteht aber aus mehr als aus politischen Diskussionen. Klar, man sollte immer versuchen, in Kontakt miteinander zu treten. Klar ist auch, dass man immer versuchen sollte, den diplomatischen Weg zu suchen und zu gehen, das ist eine Binsenweisheit.

Die Frage aber ist ganz praktisch: Was passiert gerade politisch und wer gewinnt von den politischen Entscheiden? Es ist schon lange die russische Aussenpolitik gewesen, mehr zu fordern, als einem zusteht. Es geht um das Fordern dessen, worauf man gar keinen Anspruch hat und was einem auch gar nicht zusteht und auf das man kein Anrecht hat. Dann geht es nur noch um den Kompromiss, die Hälfte davon zu bekommen. Welches Zeichen sendet man an Putin, wenn man sagt: «Ja in Ordnung das ist so, Du hast jetzt die Ukraine überfallen, Du hast Menschen getötet, Frauen vergewaltigen lassen, Du hast Menschen ermorden lassen, Du hast zivile Einrichtungen beschossen und wir machen nun aber mal einen Kompromiss und setzen uns an den Verhandlungstisch und sprechen miteinander.» Dann kommt dort raus, dass man Putin nicht das ganze Territorium gibt, aber ein bisschen vom Territorium. Die Frage ist, was das kommuniziert. Das kommuniziert, dass wir eigentlich kein internationales Recht haben, dass das Recht des Stärkeren gilt und wenn Du weiterhin aggressiv bist und jemanden bedrohst, dann kriegst Du dafür eine Belohnung. Das gilt natürlich nicht nur für Putin, sondern für alle autoritären Staaten, die mit ihren Rechtsverletzungen jederzeit mit einer Belohnung rechnen dürfen. Dann ist es auch nicht verwunderlich, wenn sofort ein weiterer Diktator kommt und Ansprüche geltend macht. Dann ist es auch nicht verwunderlich, wenn Putin sagt, nun nehmen wir zur Ukraine noch Moldau oder Georgien dazu.

Wir belohnen Verhalten, das sich gegen Frieden richtet und damit stärken wir auch jegliches Verhalten, das sich gegen Frieden richtet. Ich glaube, die einzige Art und Weise, wie wir auf der Welt Frieden garantieren können, ist, wenn wir Regelverstösse bestrafen. Dann lohnt sich das aggressive Verhalten für den Aggressor nicht.

Xecutives.net: Prof. Dr. Luzius Wildhaber hat Xecutives.net im Jahr 2014 einen Aufsatz, einen Vorabzug zum Thema Annexion der Krim durch Russland, gegeben, wo er die völkerrechtlichen Verletzungen akribisch beschreibt. Er wäre wohl vollkommen einverstanden mit Ihnen und dürfte vorausgesehen haben, was Putin und Russland vorhatten. Sie sind Ukrainerin und auch Deutsche. Was ist denn nun aber anders in Bezug auf die Menschen in der Ukraine, wenn man sie mit Russen vergleicht? Wir nehmen diese Völker hier als identisch oder ähnlich wahr, was sich nun aber als vollkommen falsch herausstellt. Ich nehme an, dass die Ukrainer schon vor dem Krieg ein ganz anderes politisches und gesellschaftliches Verständnis hatten als die Russen, anders ist der enorme Widerstand aus der Bevölkerung nicht zu erklären.

Öl-Gemäde mit Kosaken auf Pferden, zu Interview mit Marina Weisband über die Ukrainer und die Parallelen zu den Eidgenossen
Kosaken

Marina Weisband: Die Ukrainer gehören nicht zum russischen Volk, auch wenn das hier in Deutschland und in der Schweiz viele Menschen meinen. Putin ist derjenige, der das behauptet und propagiert. Das ist aber nicht wahr. Die Ukraine ist zum grössten Teil von der damaligen Sowjetunion erobert worden. 1917 und später in den Dreissigerjahren wurden weitere Teile erobert. Die ukrainische Sprache ist verboten und verpönt worden, auch die ukrainische Kultur. Es gab schon vorher eine Kultur auf dem heutigen Gebiet der Ukraine, die sich sehr stark vom zaristischen Russland unterschied.
Denken Sie an die Kosaken, die eher nach der Tradition der Wikinger ihre Führer gewählt haben. 100 Kosaken haben immer einen Anführer gewählt. Das waren basisdemokratisch politische Ansätze, natürlich nicht so, wie wir heute eine Demokratie sehen. Es war aber völlig normal zu wählen und im kleinen politischen Kreis aktiv zu werden. Das zaristische Russland hingegen war immer ein oppressiver Staat, der Demokratie ablehnte. Dieser Staat hat die Ukraine erobert und viel, auch in Bezug auf die Sprache und Kultur, kaputt gemacht.

Die Ukraine wurde Opfer von Völkermord und auch von handgemachten Hungersnöten in den Dreissigerjahren. Das Ziel war es schon damals, die ukrainischen Bauern zu zerstören. All das hat die Ukraine nicht vergessen. Die Ukrainer haben ein sehr ausgeprägtes Verständnis dafür, dass sie ausgelöscht werden könnten, weil es eben schon mehrmals fast passiert wäre. Darum haben die Ukrainer auch ein grosses Verständnis dafür, warum und für was sie kämpfen und dass es aus dem jetzigen Kampf keinen Weg zurück geben kann. Das ist ein Verständnis, das den Deutschen, aber auch ein bisschen den Schweizern, abgeht, weil der Unabhängigkeitskampf schon lange her ist.

Die Schweizer und die Ukrainer verbindet auch was die Mythologie betrifft sehr viel. Die Schweizer, die sich mit ihrer Geschichte befasst haben, können sich mit den Ukrainern identifizieren. Es geht um den Kampf für Selbstbestimmung, darum, sich nicht beugen zu wollen. Die lokale Selbstbestimmung und die eigene Demokratie sind etwas, das eben wichtig und erstrebenswert ist.

Schloss Habsburg im Kanton Aargau, Schweiz, zum Interview mit Marina Weisband über die Ukrainer und die alten Eidgenossen
Habsburg im Kanton Aargau, Schweiz

Xecutives.net: Das ist sehr interessant, denn es gibt hier sicher Parallelen zu den alten Eidgenossen, die sich nebst vielem mehr immer von den Habsburgern und anderen Machthabern befreien wollten, ein Konflikt, der die Eidgenossen einige Hundert Jahre beschäftigt und aber auch, bis heute, zusammengeschweisst hat. Das waren teilweise blutige Kämpfe und es war auch viel Diplomatie im Spiel. Man darf somit diesen Vergleich zwischen den Eidgenossen und den Ukrainern durchaus anstellen.

Marina Weisband: Ja, die Eidgenossen und die Ukrainer würden sich sicher sehr gut verstehen. Das gilt besonders für ihre eigensinnige und auch störrische Art und Weise im Umgang mit anderen, die ihre Freiheit bedrohen. Sie kennen beide die Position des Unabhängigkeitskrieges. Es geht um den Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie. Putin hat nicht Angst vor der NATO, die hat ja auch schon 2014 nichts unternommen. Es kam dann zu den Protesten auf dem Maidan. Die Menschen haben sich abgewandt von korrupten Regierungen, Politikern und Fremdbestimmung durch russischen Einfluss. Das ist es, was Putin wirklich fürchtet und das ist es, was er in seinem Land mit allen Mitteln unterdrückt.

Die Frage ist jetzt, ob demokratische Gesellschaften zusammenstehen, denn wir wissen, dass autoritäre Staaten und Gesellschaften zusammenstehen. Die autoritären Herrscher unterstützen Putin, so wie das in der Türkei Erdogan gemacht hat und in China Xi Jinping. Es stellt sich also die Frage, ob die demokratischen Systeme wie Dominosteine eine nach dem anderen fallen werden, oder ob diese demokratischen Staaten zusammenstehen und die Freiheit verteidigen, die Menschenrechte und Völkerrechte.

Xecutives.net: Putin und sein Russland haben dafür gesorgt, dass diese Einheit in Europa nicht so ganz einheitlich ist, wie man sich das als Demokrat wünschen könnte. Er hat Parteien in Europa finanziell unterstütz, so auch Frau Le Pen in Frankreich, wo grad entsprechende Untersuchungen am Laufen sind. Auch die AfD in Deutschland und viele weitere Personen und Institutionen am rechten und linken Rand der Gesellschaft sind von Putin auf die eine oder andere Weise gefördert und angetrieben worden. Wie hat er das in den letzten Jahren hinbekommen? Immerhin gab es noch bis vor dem Krieg etliche Menschen, die die Hand für Putin erhoben hätten.

Marina Weisband: Die stärkste Waffe hat Putin mit seinen Lügen, die er verbreitet und die Menschen glauben sollen. Er macht das mit riesigen finanziellen Beträgen und modernsten Vorgehensweisen. Ich analysiere das russische Fernsehen und die russischen Desinformationskampagnen nun seit acht Jahren. Einer der Handgriffe, welcher die russische Desinformationskampagne bestens beherrscht, ist Lügen über das Offensichtliche hinaus. Das geht dann so, dass man über irgendetwas vollkommen Unsinniges erzählt und für ein und dasselbe Ereignis zehn verschiedene Erklärungen abgibt. Diese Erklärungen widersprechen sich gegenseitig. Es geht nicht darum, dass wir etwas glauben sollen, sondern es geht darum, dass man gar nichts richtig glauben können soll. Man will zeigen, dass niemand vertrauenswürdig ist. Wahrheit soll unerfahrbar sein. Meinung und Wahrheit sollen zusammen verschwinden.

Diese russischen Desinformationskampagnen hatten vor allem Erfolg im deutschsprachigen Raum, vor allem auch bei der Covid Desinformation, wo man extra Journalisten, Wissenschafter und Politiker denunziert und missbraucht hat. Wenn das Image und die Glaubwürdigkeit dieser Menschen einmal beschädigt ist, dann gibt es nichts mehr, worauf sich die Gesellschaft einigen kann. Es gibt keine Fakten mehr, über die man vernünftig reden kann. Dann fehlt nur noch die politische Polarisierung. Dadurch kann man eine Gesellschaft spalten. Das machen aber nicht nur Putin und seine Leute. Wir kenn das auch im Rahmen vom Trumpismus, bspw. Steve Bannon, der sich darauf sehr gut versteht. Bannon hat das als «flood the zone with shit» bezeichnet.

Das Motto heisst also, so viele Lügen wie irgend möglich zu verbreiten, so dass sich niemand mehr sicher sein kann. Wenn wir uns dann alle nicht mehr auf die Farbe des Himmels einigen können, dann kann man auch in einer demokratischen Gesellschaft nichts mehr besprechen, nichts mehr abstimmen. Dann eben kommt der Wunsch nach dem starken Mann auf, der eben sagt, wie es ist und sein soll. Der starke Mann kann Trump oder Putin heissen. Das ist die Strategie, die hinter diesen Desinformationskampagnen steckt. Wenn eine demokratische Gesellschaft einmal nicht mehr zusammenstehen kann und damit auch nicht mehr kampffähig ist, kommt der Gedanke an die Notwendigkeit autoritärer Menschen und Mittel auf.

Xecutives.net: Sie haben Trump genannt und die USA. Dort lief und läuft auch einiges schief. Man darf heute davon ausgehen, dass die Amerikaner an rund 50 Staatsstreichen auf der Welt beteiligt waren, relativ wenig zimperlich. Das ist nun schon eine Weile her und immerhin ist die USA doch noch eine Demokratie. Gibt es aber Ihres Erachtens einen Unterschied, wie die Amerikaner aus den USA agieren und wie Putin das aus Russland heraus tut?

Marina Weisband: Also erstens sind die Staatsstreiche und damit auch die Völkerrechtsverletzungen, die die USA begangen haben absolut zu verurteilen. Sie sind auch dann zu verurteilen, wenn man ebenso absolut das Vorgehen von Putin verurteilt. Das ist kein Gegeneinander. Viele Menschen versuchen damit abzulenken. «Was ärgert man sich über Putin, die USA sind auch nicht besser!», hört man und das ist schlicht Bullshit. Nur weil ein Staat Völkerrecht verletzt, heisst das nicht, dass ein anderer Staat das auch tun darf.

Was den Unterschied anbelangt: Putin hatte schon lange vorher eine manipulative Einflusssphäre gefördert, so wie das die USA auch gemacht haben in anderen Staaten. Jetzt aber marschiert er einfach mit einer Armee in ein freies Land ein und bringt Zivilisten um. Das ist schon ein anderes Kaliber als bspw. die Stärkung kommunistenfeindlicher Gruppen in einem anderen Land durch die USA.

Xecutives.net: Nun, wenn man hier in der Schweiz Putin beobachtet, auch aus einer gewissen Wohlstandsverwahrlosung heraus, dann kann man doch aber schon zum Schluss kommen, dass Putin vielleicht doch nicht so ganz weiss, was er eigentlich tut. Er hat Fehlentscheide getroffen und sein Land auf Generationen hinaus zurückgebombt. Wäre er ein Unternehmer oder CEO eines grossen Unternehmens, müsste man heute in der Zeitung lesen, dass er ein Unternehmen an die Wand gefahren hat. Bekannte Unternehmen wie Siemens und McDonalds ziehen sich aus Russland zurück und sie werden nicht grad wieder nach Russland gehen, auch nicht, wenn der Krieg endet. Putin hat die Glaubwürdigkeit eines ganzen Landes aufs Spiel gesetzt und verloren, egal, wie der Ukraine Krieg endet. Was sagen Sie als Diplom-Psychologin in Anbetracht dieses Supergaus zu seinem Geisteszustand?

Marina Weisband: Eine Diplom-Psychologin darf keine Ferndiagnose stellen. Ich habe Putin nie selbst gesprochen. Ich würde aber behaupten, dass das alles nicht nur begründbar ist, weil Putin nicht bei Sinnen ist, sondern mit dem, was einem Menschen wichtig ist. Ihm war sein persönlicher Aufstieg wichtig, Stärke und Macht. Er sieht sich auf einer heiligen Mission, als ein Mann, der das russische Imperium zurückbringt. Ob McDonalds aus Russland rausgeht, interessiert ihn überhaupt nicht, weil ein grosser Teil der Bevölkerung gar nicht das Geld hat, überhaupt in einen McDonalds zu gehen. Ein Viertel aller russischer Haushalte hat keine Toiletten. Es gibt ein grosses ländliches Hinterland, das völlig Unterentwickelt geblieben ist. Um diese Menschen und diese Lebensumstände vieler Menschen hat sich Putin nie geschert. Ein Grossteil der Bevölkerung merkt gar nicht, ob es McDonalds gibt oder nicht.

Putin ist ein rationaler Mann, der jetzt aber mit einer Art religiösem Eifer sich in eine sektenartige Struktur gestürzt hat und seine grosse Aufgabe darin sieht, ein Imperium zu schaffen, das Eurasien überspannt, das als Konkurrenz zu Europa und den USA steht. Wir haben es mit jemandem zu tun, der in seinen Zielen von religiösem Eifer geprägt ist, der sich der rationalen und effizienten KGB-Methoden bedient. Putin wurde 2014 von uns, also vom Westen, ermutigt, dass es okay ist, wenn er Teile der Ukraine annektiert. Der Westen hat kurz über Sanktionen gesprochen, die sind dann aber nicht wirklich umgesetzt worden und gleichzeitig hat man auch grad noch Nord Stream 2 beschlossen und vieles mehr. Das waren für Putin gute Zeichen, denn er konnte davon ausgehen, dass der Westen einfach die Augen zudrückt. Jetzt geht es schon wieder so, schon wieder werden Sanktionen durch die Hintertür umgangen. Es wäre einfach nur eine Frage der Zeit, wenn er jetzt Erfolg hat und Teile der Ukraine annektieren kann, bis er weitermacht und dasselbe auch in anderen Ländern tut. Er handelt völlig rational. Friedensangebote sieht er als Schwäche. Er denkt sich, dass er mit diesen friedvollen Menschen alles machen kann, was er will.

Xecutives.net: Schon 2014 gab es Aufschreie, aber so richtig kam hier im Westen nichts in Schwung. Nun ist das aber offenbar völlig anders. Putin hat die Lage in Bezug auf die Ukraine falsch eingeschätzt. Die Ukrainer haben offenbar eine Art «eidgenössisches Gen» in sich, das auf Gegendruck und Verteidigung drängt. Damit haben sich die Ukrainer weltweit grossen Respekt verschafft. Was hat der rationale Putin hier falsch interpretiert?

Marina Weisband: Ich denke, dass nicht nur er das nicht erkannt hat. Es waren auch viele Menschen und Analysten im Westen, die ich gehört habe, die gesagt haben, Kiew würde in wenigen Tagen fallen. Wer aber auf dem Maidan war und gesehen hat, wie die Menschen sich dort organisiert, wie sie sich gewehrt haben, der hat verstanden, dass sie nicht kapitulieren würden.

Protest auf dem Maidan, Kiew Ukraine, zu Interview mit Marina Weisband über die Ukrainer und die Parallelen zu den Eidgenossen
Protest auf dem Maidan, in Kiew am 1.Dezember 2013

Der Westen ging davon aus, dass die Ukrainer sofort kapitulieren würden. Putin auch, weil man von sich selbst auf andere schliesst. Sie haben vorher das Wort «Wohlstandsverwahrlosung» gebraucht, sicher auch Grund für die falsche Einschätzung. Menschen in Ländern, die es sich nicht gewohnt sind, für ihre Freiheit kämpfen zu müssen, können sich kaum vorstellen, dass andere das eben tun. Der Westen hat insgesamt gedacht, wer denn schon für seine Freiheit kämpfen würde.

Putin hat ein Untertanenvolk, das in seinem Sinne konditioniert ist, im Wesentlichen, den persönlichen Vorteil suchend. Dieses Volk aber wüsste nicht, wofür es überhaupt kämpfen sollte. Der ukrainische Widerstand hat auch damit angefangen, dass die USA vorgeschlagen hatten, Selenski aus der Ukraine auszufliegen. Er aber sagte den Amerikanern, dass er Munition brauche und keine Mitfahrgelegenheit. Das hat den Westen sofort aufmerksam gemacht. Der Westen dachte, hoppla, das dürfte dann wohl doch nicht so schnell vorbei sein. Vor allem war es aber die ukrainische Bevölkerung, die gesagt hat, dass sie kein Stück weichen werde, um keinen Preis. Putin ist damit gezeigt worden, dass er nie Frieden haben wird in diesem Land, selbst wenn er den Krieg gewinnt. Die Ukrainer wollten nicht, dass in ihrer Familie Frauen vergewaltigt werden und dass in anderen Familien Menschen gefoltert werden. Die Menschen sagten sich, dass sie, wenn sie den Krieg verlieren sollten, kein Land mehr haben werden, in das sie zurückkehren könnten. Das ist ein wichtiger Punkt, den noch heute im Westen viele Menschen nicht richtig verstehen.

Xecutives.net: Ich denke, dass die Schweizerinnen und Schweizer das gut verstehen können. Mir haben viele ältere Menschen gesagt, dass sie keinen Moment gezögert hätten, an die Schweizer Grenze zu stehen, als die Gefahr bestand, dass Hitler in die Schweiz einmarschieren könnte. Das war offenbar die einheitliche Grundeinstellung, einmal abgesehen von ein paar Frontisten und Opportunisten. Es gibt aber noch einen weiteren Punkt. In Anbetracht dessen, was schon 2014 passiert ist, ist es für viele Menschen hier absolut unverständlich, dass bspw. Putin’s Geliebte hier in der demokratischen und sicheren Schweiz wohnt und offenbar auch Putin’s Kinder in der Schweiz auf die Welt bringt. Auch der Umgang mit russischem Geld und den Oligarchen, so auch etwa in London, wirft ein schlechtes Licht auf viele Länder und die Menschen fangen an, sich Gedanken zu machen und erahnen, dass das nicht sein darf.

Marina Weisband: (lacht) Das ist gang und gäbe, schon seit vielen Jahren. Es ist absolut normal für russische Oligarchen, dass man zwei Familien hat. Mit einer Frau ist man verheiratet und mit einer Geliebten hat man Kinder und man wohnt im Ausland. Sie sollen den europäischen Komfort geniessen können, während dieselben Menschen zuhause über die schwule europäische Dekadenz wettern. Das ist völlig normal in Russland und war schon immer so.

Der Westen, auch die Schweiz, geniesst das, weil diese Menschen halt viel Geld bringen. Sie klauen das Geld von ihrer Bevölkerung und verschanzen sich in der Schweiz oder in London. Es gibt um diese Menschen zahlreiche andere Menschen, die von diesen Umständen profitieren. Dann unterlaufen die EU und die Schweiz immer wieder ihre eigenen Sanktionen, und deshalb können wir auch gar nicht fest auftreten gegen Putin. Wir können ihm keine Schranken weisen, weil ganz viele Menschen knallharte monetäre Interessen verfolgen. Putin wird darum auch keinen Atomkrieg gegen diese Länder führen, weil ja alle diese Familien hier im Westen hocken, offenbar auch die Freundin von Putin, der man es in der Schweiz erlaubt hat zu leben.

Xecutives.net: Das Säbelrasseln mit der Atomkeule wirkt offenbar. Medien greifen das sofort auf und das kann auch zu Hysterie führen.

Marina Weisband: Putin droht sehr gerne mit der Atomkeule, weil er denkt, dass die Deutschen grosse Angst davor haben. Damit kann man die Menschen gut vom eigenen Kurs der Regierungen abbringen. Die Bevölkerung glaubt dann, dass Putin einen Atomschlag plant, weil die Deutschen einige schwere Kriegsgeräte nach Ukraine liefern. Die Tatsache, dass etliche reiche Menschen nicht in Russland leben möchten, weil die Lebensumstände schlecht sind, und sie sich deshalb eben in der Schweiz, in England oder in anderen Ländern mit ihren Geliebten und Familien aufhalten, spricht gegen einen Atomschlag.

Das meiste Geld, das aus Russland abfliesst in den Westen, findet seinen Weg durch die Schweiz. Das halte ich für sehr schade, sollte doch gerade die Schweiz erkennen, für was die Ukrainer zurzeit kämpfen. Es geht um Solidarität. Die Solidarität der Bevölkerung ist beispiellos, das ist keine Frage, auch in der Schweiz. Das zeigt auch die Empörung in Bezug auf die Putin Geliebte, die unbehelligt in der Schweiz lebte. Auf der Ebene Politik und Regierung jedoch schaut es anders aus. Das erklärt auch, warum nun von Deutschland der Wunsch kommt, dass in der EU die Staaten für Energie aus Russland auch mit Rubel bezahlen können. Das ist ein fatales Zeichen der Schwäche, das Putin zu nutzen weiss. Das einzige Land, das zurzeit wirklich konsequent für die Demokratie und Freiheit kämpft, ist die Ukraine.

Xecutives.net: In NRW in Deutschland ist eben gewählt worden. Erstaunlich finde ich nicht die Resultate der SPD oder der CDU, sondern das Resultat der Grünen, die um rund 11% Wähleranteil zugelegt haben, ein Paukenschlag. Annalena Baerbock ist als Vertreterin der Grünen sehr mit der Ukraine beschäftigt und sie scheint zurzeit eine der wenigen Personen zu sein, die Klartext redet. Die Personen in der Regierung insgesamt scheinen mir aber zurzeit nicht unbedingt diejenigen Personen zu sein, die sich in Bezug auf Russland in den letzten Jahren sehr kritisch geäussert hätten. Auch Gerhard Schröder hat hier in Bezug auf Russland der SPD einen Bärendienst erwiesen.

Marina Weisband: Es ist nicht richtig, dass sich die Grünen in den letzten Jahren nicht kritisch geäussert hätten. Annalena Baerbock war die einzige Person, die auch während des Bundeswahlkampfes regelmässig auf die Aussenpolitik zu sprechen kam. Sie und ihre Partei waren die einzigen, die Nord Stream 2 kritisierten. Es wurde auf die hohe Energieabhängigkeit zu einem Staat, der die Menschenrechte mit Füssen tritt und Teile der Ukraine annektiert hat, aufmerksam gemacht. Die Partei der Grünen hat am klarsten gegen Putin kommuniziert. Die Grünen sind diejenigen, die am klarsten eine gerade Linie fahren und Solidarität mit der Ukraine fordern.

Es ist so, dass die Grünen aus der pazifistischen Tradition der Achtzigerjahre stammen, aber die Grünen haben ihre Auseinandersetzung gehabt im Jugoslawien Krieg. Joschka Fischer war damals Aussenminister und die Grünen mussten diesen Einsatz beschliessen. Sie mussten sich der Frage stellen, was dem Frieden mehr dient, keine Waffen oder Völkermord in Kauf nehmen. Damals hatte sich die Partei bei dieser Diskussion fast gespalten. Die Grünen wollten lieber den Völkermord verhindern, als auf den Einsatz von Waffen zu verzichten. Den Aggressor mit Waffen zu beliefern bedeutet Kriegstreiberei, aber den Verteidiger zu beliefern, ist ein Schritt in Richtung Frieden. Das hat die grüne Partei schon ausdiskutiert und nun zieht die deutsche Gesellschaft nach. Das erklärt auch das gute Wahlresultat der Grünen in NRW.

Xecutives.net: Sie geben Frau Annalena Baerbock und Herrn Robert Habeck eine gute Note. Wie sehen Sie Olaf Scholz in diesem Konflikt?

Marina Weisband: Olaf Scholz hat keine gute Figur gemacht. Er kommuniziert nicht klar. Er hat nicht ein Mal gesagt, dass die Ukraine den Krieg gewinnen sollen. Er hat das nicht als Ziel definiert. Er hat über Waffenstillstand gesprochen. Offenbar hat er nun in einem Telefonat Putin darüber aufgeklärt, dass in der Ukraine keine Nazis an der Macht sind.

Die Art von Führung, die wir jetzt brauchen, eine klare Linie, klare Ziele und Solidarität mit der Ukraine, ein Land, das überfallen wurde, fehlt mir von Deutschland, aber auch von Frankreich und übrigens auch von der Schweiz.

Xecutives.net: Frau Weisband, was wünschen Sie der Ukraine?

Marina Weisband: Ich will nur, dass die Ukraine wieder Frieden hat. Das kann sie nur haben, wenn sie die russische Armee von ihrem Territorium vertreibt, und das scheint zurzeit nur mit Gewalt möglich zu sein.

Xecutives.net: Frau Weisband, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch und Interview und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute!


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