PD Dr. med. Urs Herzog

PD Dr. med. Urs Herzog

PD Dr. med. Urs Herzog ist gelernter Arzt und Chirurg und einer der drei ranghöchsten Rotarier in der Schweiz. Als Governor dieses Service Clubs leitet er die Geschicke von Rotary in seinem Distrikt. PD Dr. med. Urs Herzog erzählt im Gespräch mit Christian Dueblin wie Rotary aufgebaut ist, was die Ziele von Rotary sind und berichtet über das Engagement von Rotary im Kampf gegen die Kinderlähmung.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Dr. Herzog, Rotary ist ein sehr alter Service Club, der 1905 in Chicago von einer kleinen Gruppe von Geschäftsleuten gegründet wurde. Rotary stellt heute in der Schweiz ein sehr potentes und gut organisiertes Netzwerk dar. Können Sie uns einen Überblick über die Organisation von Rotary Schweiz geben?

PD Dr. med. Urs Herzog: Rotary hat in der Schweiz zurzeit 209 Clubs mit rund 11’500 Mitgliedern und ist in drei Distrikte aufgeteilt, die jeweils von einem Governor geleitet werden. Die Clubs sind in den drei Distrikten etwa gleich verteilt. Mein Distrikt hat über 3’700 Mitglieder. Die Governors werden an der Rotary World Assembly in der Regel für ein Jahr gewählt. Dem Governor stehen Kommissionsmitglieder zur Seite, die sich um die vier klassischen Dienste kümmern, die sich Rotary auf die Fahne geschrieben hat. Der „Gemeindienst“ ist das Sozialwerk von Rotary. Daneben gibt es den „Jugenddienst“, den „Berufsdienst“ und den „internationalen Dienst“. Bei Letzterem geht es um die Verbindung zu anderen Clubs im Ausland und um länderübergreifende Projekte. Das sind kurz zusammengefasst die vier Pfeiler von Rotary International.

Dueblin: Rotary widmet sich einer ganzen Anzahl von gemeinnützigen Projekten. Dafür bedarf es einer gut geregelten Organisation. Wie gehen die Clubs in der Schweiz mit den ganzen Regelwerken um, die zu beachten sind?

PD Dr. med. Urs Herzog: Man muss hier zwischen den einzelnen Kontinenten, auf denen Rotary tätig ist, unterscheiden. Die Regeln und die Organisation sind den jeweiligen Menschen und Gesellschaften angepasst worden. Rotary International mit Hauptsitz in den USA und Rotary Europe beispielsweise können somit nicht genau miteinander verglichen werden. Wohl stimmt die Zielsetzung, was gemeinnützige Projekte anbelangt, gut überein. Im Umgang mit Regeln und in der Organisation gibt es aber Unterschiede. Bei uns in der Schweiz wird Rotary nicht papiergläubig gelebt. Freundschaften, Geselligkeit und „Service above self“ stehen im Vordergrund.

Dueblin: Die Mitglieder von Rotary treffen sich grundsätzlich einmal wöchentlich, was für gewisse Menschen im Beruf eine Herausforderung darstellt. Wie steht es mit den geforderten Präsenzzeiten bei Rotary?

PD Dr. med. Urs Herzog: Wir haben die Präsenzzeiten der heutigen Zeit anpassen müssen. Tatsächlich ist es so, dass viele Menschen nicht mehr nur an einem Ort arbeiten oder immer wieder Auslandaufenthalte anstehen, die ein wöchentliches Treffen im eigenen Club oft verunmöglichen. Die Präsenzpflicht ist vor einiger Zeit von 60% auf 50% reduziert worden. Das hat sich sehr bewährt.

Dueblin: Gerade in den USA hat Rotary eine sehr bedeutende soziale Aufgabe und Funktion. Würde Rotary seine sozialen Dienste von heute auf morgen einstellen, würden ganze Pfeiler des amerikanischen Sozialsystems weg brechen. Wie verhält sich das in der Schweiz?

PD Dr. med. Urs Herzog: Rotary nimmt auch in der Schweiz sehr viele gemeinnützige Aufgaben wahr. Das soziale System in den USA ist jedoch nicht mir der Schweiz vergleichbar. In der Schweiz würde das Sozialsystem bei einem Ausbleiben unserer Dienste nicht zusammenbrechen. Sehr wohl gäbe es aber diverse Nischen und Härtefälle, die nicht mehr gebührend Beachtung finden würden. Ich spreche von der Unterstützung von Randgruppen, Kindern oder Menschen in sehr schwierigen Situationen.

Dueblin: Arbeitet Rotary in der Schweiz mit dem Staat zusammen oder werden die diversen Projekte von Rotary allein abgewickelt?

PD Dr. med. Urs Herzog: Es gibt wenig Parallelen mit dem Staat. Rotary setzt seine Projekte selber um. Wir wollen nicht den Staat ersetzen. Natürlich gibt es gewisse Schnittstellen. Wir kümmern uns um Bedürfnisse von Menschen, die möglicherweise vom Staat übersehen worden sind oder für die keine staatlichen Leistungen vorgesehen sind. Dort springen wir, nach eigenem Ermessen, ein und helfen. Solchen Fällen nehmen wir uns lokal an und behandeln sie diskret. Es gibt aber bei grossen regionalen und internationalen Projekten, wie beispielsweise bei der Bekämpfung von Polio, Kontakte zum DEZA, zur WHO und zu anderen Organisationen.

Dueblin: Wie findet Rotary diese Nischen und wie geht Rotary auf die angesprochenen Randgruppen zu?

PD Dr. med. Urs Herzog: Es gibt verschiedenste Möglichkeiten. In unserem Club gibt es beispielsweise eine Gemeindeschwester. Sie hat natürlich aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit Kontakt zu diesen Randgruppen und macht uns auf gewisse Fälle aufmerksam. Vor wenigen Jahren haben wir Sammelaktionen für die hochwassergeschädigten Menschen und Familien in der Schweiz durchgeführt. In solchen Fällen werden wir von betroffenen Clubs und den Medien informiert. Schliesslich kann es auch vorkommen, dass wir angeschrieben und um Hilfe gebeten werden. Vor kurzem haben wir in der Schweiz einen international organisierten Poliotag durchgeführt. Die Sammlung wird zu einem riesigen Erfolg führen. Ich habe grosse Freude an diesem Einsatz und glaube, dass wir unser Sammelziel – eine Million Franken! – erheblich übertreffen werden.

Rotary Sammelaktion Kinderlähmung

Rotary Sammelaktion Kinderlähmung

Dueblin: Sie selber sind Arzt und haben sich beruflich mit Polio auseinandergesetzt. Es darf heute festgestellt werden, dass die Kinderlähmung aufgrund des jahrzehntelangen Einsatzes der Rotarier erheblich zurückgegangen ist. Wie zeigt sich heute die Bilanz dieser Krankheit?

PD Dr. med. Urs Herzog: Leider mussten wir in einigen Regionen der Welt Rückschläge hinnehmen. Gerade in Nigeria, aber auch in Indien, Afghanistan und in Pakistan sind in letzter Zeit wieder Fälle von Kinderlähmung aufgetreten. Indien, mit monatlich rund 500’000 Geburten, stellt natürlich eine immense logistische Herausforderung für Impfungen dar. Südindien ist weitgehend von Polio befreit, nicht so aber gewisse Regionen im Norden, wo die Krankheit nach wie vor endemisch herrscht. Im Norden von Nigeria gibt es einen virulenten Stamm von Polio. Auch dort ist die Logistik sehr schwierig zu handhaben. Das Vertrauen der Bevölkerung ist nicht optimal und die Zusammenarbeit mit den Behörden erweist sich als schwierig. Auch die jährlichen Pilgerreisen nach Mekka sind problematisch, da das Polio-Virus schnell über die Grenze geschleppt wird und sich andere Menschen anstecken.

Wir dürfen aber trotzdem sehr stolz sein auf unser Resultat. Seit 1985 ist die Polio-Krankheit auf der Welt um 99% reduziert worden. Das ist vorwiegend Rotary und seinen Mitgliedern zu verdanken, die sich für das Projekt mit Geld und persönlichem Engagement eingesetzt haben. Die Bill und Melinda Gates-Stiftung hat Rotary kürzlich 100 Millionen Dollar vermacht. Der Betrag muss von Rotary in den nächsten drei Jahren verdoppelt werden. Wir müssen diesen Betrag also ebenfalls aufbringen. Das Geld darf nur für den Kampf gegen die Kinderlähmung verwendet werden.

Dueblin: Traditionelle Netzwerke müssen heute um ihre Mitglieder kämpfen. Man stellt fest, dass die Aufnahmehürden für viele dieser Netzwerke in den letzten Jahren erheblich heruntergesetzt werden mussten. Wie verhält es sich in Bezug auf die Rekrutierung bei Rotary?

PD Dr. med. Urs Herzog: Unser Motto ist „Qualität vor Quantität“. Wir streben ein moderates Wachstum an. In den letzten eineinhalb Jahren sind wir in der Schweiz um rund 3% gewachsen. Wir haben mehr Zu- als Abgänge bei Rotary. Mit der Jugendorganisation Rotaract haben wir einen interessanten Nachwuchspool, aus dem wir junge Mitglieder gewinnen. Die Rotaract-Organisation wurde in diesem März 40 Jahre alt. Viele dieser jungen Rotaracter sind auch in andere Service Clubs abgewandert, weil Rotary immer davon ausging, dass man Menschen mit langer Berufserfahrung und gehobener Stellung rekrutieren sollte. Neben diesen interessanten Kandidaten sind aber auch Handwerker und Menschen aus dem Dienstleistungssektor herzlich willkommen. Es gibt im Übrigen diverse Clubs, die keine Mitglieder mehr aufnehmen, die älter als 40 Jahr alt sind. Das ist ein klar erkennbarer Trend!

Auch die Klassifikationen der Berufe haben sich geändert. Zu Zeiten von Paul Harris, dem Gründer von Rotary, gab es noch keine IT oder Kommunikationsberufe, und auch der Dienstleistungssektor mit den Banken und Versicherungen hatte einen anderen Stellenwert in der Gesellschaft. Heute nehmen wir Menschen mit Berufen auf, die es damals gar noch nicht gab. Viele Clubs nehmen zudem Frauen auf, die ebenfalls Berufen nachgehen, für die Rotary gar keine Klassifizierung vorsah. Das alles muss bei der Frage der Rekrutierung beachtet werden.

Dueblin: Traditionelle Netzwerke stehen heute vor der Herausforderung, dass viele Menschen nicht mehr jahrelang am selben Ort wohnen und beim selben Arbeitgeber beschäftigt sind. Somit wird es zunehmend schwieriger, sich in einem traditionellen Netzwerk für eine längere Zeit zu engagieren. Wie geht Rotary mit dieser Herausforderung um?

PD Dr. med. Urs Herzog: In den USA ist ein Rotarier im Schnitt etwas über 8 Jahre Mitglied bei Rotary. In der Schweiz ist das anders. Mitglieder treten nur selten aus dem Club aus. Es kommt jedoch vor, dass der eine oder andere den Club innerhalb von Rotary wechselt.

Dueblin: Man stellt fest, dass es bei Service Clubs, auch bei Rotary, Klassenunterschiede gibt. Ein Club auf dem Land kann in Bezug auf seine soziale Zusammensetzung nicht mit einem Club in einer Grossstadt oder in einer grösseren Agglomeration verglichen werden. Gibt das keine Spannungen zwischen den Mitgliedern?

PD Dr. med. Urs Herzog: Ich würde das nicht als Klassen- sondern als Mentalitätsunterschied bezeichnen. Es gibt die ruralen und die urbanen Clubs. Zwischen diesen Clubs gibt es zweifelsohne soziale und finanzielle Unterschiede. Diese spielen aber keine Rolle, denn ein ländlicher Club kann sich ebenfalls einbringen. Wir haben das anlässlich des erwähnten Poliotages sehr gut beobachten können. Sehr reiche, aber auch weniger reiche Rotarier sind auf die Strasse gegangen, haben den Kontakt zu Menschen gesucht und zusammen gesammelt. Dafür braucht es ein gutes Projekt und klare Zielsetzungen. Spannungen zwischen einzelnen Club kann ich somit nicht beobachten.

Dueblin: Oft versprechen sich Menschen beim Eintritt in ein Netzwerk materielle Vorteile. Wie gehen Sie mit dieser Erwartungshaltung um?

PD Dr. med. Urs Herzog: Das ist natürlich die falsche Denkweise. Die Rotary-Plattform darf nicht zur Wahrung geschäftlicher Interessen dienen. Das ist bei Rotary klar geregelt. Natürlich kann man nicht verhindern, dass Menschen, die sich kennen und sich vertrauen, sich auch austauschen und unterstützen. Auch kommt es vor, dass Rotary beispielsweise Start Ups unterstützt. Das Geschäft sollte aber vom Clubleben getrennt werden. Wir sind ein freiwilliger Verein mit dem Motto „service above self“. Da braucht es auch etwas Toleranz, denn wir sind nicht ein Polizeistaat. Es gibt aber gewisse Grundsätze, die eingehalten werden müssen. Es ist meine Aufgabe als Governor, darauf zu achten, dass diese Grundsätze beachtet werden. Was überhaupt nicht in Frage kommen darf und wo ich sehr gereizt reagiere, ist, wenn Rotary politisch eingesetzt wird und man beispielsweise bei Wahlen die Rotary-Mitgliedschaft missbraucht. Wir hatten solche Fälle und sahen uns gezwungen einzuschreiten.

Was sind die Herausforderungen der nächsten 10 Jahre für Rotary? Rotary braucht ein gewisses Wachstum, und es gibt einiges an Konkurrenz. Damit meine ich nicht nur andere traditionelle Netzwerke wie Logen oder Service Clubs, sondern auch neue Netzwerke im Internet. Das kommt darauf an, was der alle drei Jahre tagende „Gesetzgebende Rat“ von Rotary beschliessen wird. Dort werden die Weichen für grössere Projekte und Strategien gestellt. Es gibt bereits einen „Future Vision Plan“. Man will sich auf weniger Themen konzentrieren, diese aber profunder angehen. Es sind insbesondere sechs Themen, mit denen sich Rotary auseinandersetzen will, dazu gehört unter anderem auch die Friedensforschung.

Dueblin: Was ist ihr Einfluss und der Einfluss von Rotary Schweiz auf die Strategien und Entscheide von Rotary International?

PD Dr. med. Urs Herzog: Der Einfluss eines Governors ist ein „Fünfhundertzweiundreissigstel“. Es gibt weltweit 532 Gouverneure und Distrikte. Keiner dieser Distrikte spielt eine bevorzugte Rolle. Jeder Club hat die Möglichkeit, gute Leute zu stellen, die Einfluss auf die Organisation haben. Rotary funktioniert sehr demokratisch. Demzufolge kann sich auch die kleine Schweiz mit nur drei Distrikten und drei Governors im Directors Board in der Hauptzentrale und an den jährlichen Treffen einbringen, mal ganz abgesehen von den diversen Kommissionen und Subkommissionen, die es gibt.

Dueblin: Herr Dr. Herzog, ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen und Rotary weiterhin viel Erfolg!

(C) 2008 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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