Prof. Dr. Annemarie Pieper

Prof. Dr. Annemarie Pieper

Prof. Dr. Annemarie Pieper, geboren 1941, ist emeritierte Professorin für Philosophie. Sie dozierte während 20 Jahren an der Universität Basel. In diversen Publikationen zu Themen der Philosophie und Ethik hat sie Grundlagen und Massstäbe für Forschung und Wirtschaft entwickelt. Einem breiteren Publikum bekannt wurde Prof. Dr. Annemarie Pieper durch ihre Tätigkeit als Moderatorin der Fernsehsendung „Sternstunde Philosophie“. Nebst ihrem Engagement als Philosophin schreibt Prof. Dr. Annemarie Pieper Romane. Im Gespräch mit Christian Dueblin antwortet sie auf Fragen zu Berührungspunkten von Philosophie und Wirtschaft.

Dueblin: Sehr geehrte Frau Pieper, Sie setzen sich seit Jahrzehnten mit philosophischen Fragen auseinander. Kann man sagen, dass in irgendeiner Zeit, seit es Menschen auf der Welt gibt, sie sich mehr oder weniger mit Philosophie auseinandergesetzt haben?

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Das Hinterfragen ist für Menschen wesentlich. Im Grunde genommen hat man immer Warum-Fragen gestellt. Man wollte Gründe finden für etwas, das einem unverständlich war. Diese Fragen sind im Laufe der Zeit immer und immer wieder gestellt worden, und somit ist immer philosophiert worden. Die ältesten Dokumente, die wir haben, stammen aus der Zeit von Sokrates und Homer, wenn wir einmal nur von der abendländischen Kultur sprechen. Im asiatischen Kulturkreis ist das wieder etwas anders. Aber die Frage nach dem Sinn des Lebens, also die Grundhinterfragung schlechthin, die hat man sich immer gestellt.

Dueblin: Sie haben also nicht den Eindruck, dass man diese Warum-Fragen nach dem Sinn des Lebens in der heutigen Gesellschaft weniger stellt?

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Ich glaube schon, dass dem so ist. Das grundsätzliche Hinterfragen ist allerdings seltener geworden. Die Welt ist und wird heute viel komplexer. Früher gab es Götter oder Orakel, die einem gewisse Ratschläge und Leitlinien im Leben geben konnten. Heute ist der Mensch viel mehr auf sich selber gestellt, und in schnell wechselnden Lebenslagen stürmen von allen Seiten Probleme auf ihn ein. Da stellen sich eher Fragen zu spezielleren Themen des täglichen Lebens als zu früheren Zeiten. Die Wirtschaft etwa ist ein Thema, mit dem wir jeden Tag in verschiedensten Lebensbereichen konfrontiert sind, ob wir das wollen oder nicht. Gerade Fragen zu den Grundlagen des Wirtschaftsystems, das auf unseren demokratischen Prinzipien aufbaut, birgt viele philosophische Probleme. Es ist auch so, dass nicht alle mit diesem Wirtschaftssystem gleich zufrieden sind. Die einen profitieren mehr und die anderen weniger. Diejenigen zum Beispiel, die weniger verdienen, fragen sich, warum andere so viel mehr Rechte und Privilegien haben als sie. Wir können als Beispiel die Working Poor nehmen. Das sind keine Arbeitslosen, sondern Menschen, die von ihrem Lohn für ihre tägliche Arbeit in unserer Gesellschaft nicht leben können. Dann hat man am anderen Ende der Skala Menschen, die soviel verdienen und haben, wie sie in ihrem Leben nie ausgeben können. Damit wird deutlich, dass hier eine sehr breite Kluft entsteht. In der Folge tauchen Fragen auf wie: Ist das gerecht? Ist das solidarisch? Stellt die Wirtschaft die Grundlagen unserer Demokratie in Frage? Das sind alles Fragen, welche ebenfalls die Philosophie betreffen. Man kann also nicht sagen, dass heute weniger philosophiert wird. Die Themenkreise haben sich von der Frage nach dem Sinn des Lebens im Allgemeinen auf Alltagsprobleme verschoben.

Dueblin: Wo sind denn heute für einen „Philosophie-Laien“ Schnittstellen zwischen der Philosophie und der Wirtschaft sonst noch erkennbar?

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Etwas ironisch ausgedrückt, ist es natürlich so, dass jede Bank und jeder Wirtschaftszweig seine eigene Philosophie verkündet. Der Ausdruck wird also auch ganz inflationär gebraucht. Die meisten Leute stellen sich dann vor, sie hätten ein gewisses Konzept und eine gewisse Logik. Die Logik ist zwar ein Teilgebiet der Philosophie, aber man vergisst oft, dass das Handeln in der Wirtschaft eben sehr werbestrategisch ausgerichtet ist und mit Philosophie im eigentlichen Sinn nur bedingt zu tun hat. Es geht um das Geldverdienen und um den Profit, den ein Unternehmen erwirtschaften will und muss. Das wird oft etwas hinter dem Ausdruck Philosophie versteckt, als handle es sich um eine hochanständige Sache. So werden im Rahmen von Werbestrategien Produkte angepriesen, wobei immer unterschwellig mitgeteilt wird, man sei nicht normal oder defekt, wenn man beispielsweise kein Deodorant, nicht bestimmte Kosmetika oder Damenbinden einer gewissen Marke brauche. Die angewendeten „Philosophien“ beziehungsweise Werbestrategien werden dann als Allheilmittel für alles Mögliche verstanden. Dies empfinde ich als unlauter, um nicht zu sagen als unanständig.

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Einführung in die Ethik. ISBN: 978-3-7720-8237-5

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Einführung in die Ethik. ISBN: 978-3-7720-8237-5

Dueblin: Wo kann die Wirtschaft, einmal abgesehen von der Tatsache, dass die Philosophie für gewisse wirtschaftliche Zielsetzungen, wie Sie sie eben beschrieben haben, missbraucht wird, profitieren? Wie kann ein Unternehmen, wenn es sich mit philosophischen Prinzipien auseinandersetzt, Vorteile erwirtschaften und seine Stellung auf dem Markt verbessern?

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Wenn man ganz weit zurückgeht, dann stellt man fest, dass die Ethik, die Wirtschaft, also die Ökonomie, und die Politik eins waren. Das waren drei zusammengehörende Bereiche, welche die praktische Philosophie ausmachten. Das ist heute anders, weil sie voneinander getrennt wurden. Die Politik sieht sich oft gezwungen, manches, was sie eigentlich besser machen könnte, nicht zu tun oder anders zu tun, um die Wirtschaft zu erhalten oder Standortvorteile zu schaffen, also Dinge zu tun, die der Wirtschaft zugute kommen. Die Wirtschaft von sich aus ist ethikfern. Das hat damit zu tun, dass die Ethik Grenzen aufzeigt und beispielsweise soziale Gerechtigkeit und Solidarität anmahnt. Das interessiert die Wirtschaft als solche nicht. Sie unterstellt ein grenzenloses Wachstum. Den Gesetzen des Marktes werden dann gewisse Fairplay- und Gerechtigkeitsregeln entgegen gehalten, damit das demokratische Ganze nicht vollkommen aus der Bahn gerät. Der enge Verbund zwischen Wirtschaft, Politik und Ethik ist heute weitgehend aufgelöst. Der Markt gibt die wirtschaftlichen Gesetze als prioritär aus. Das heisst, man kann die Wirtschaft nicht sozial regeln. Man tut dann auch oft so, als wäre der Markt nicht von menschengemachten Regeln, sondern von einem Naturgesetz beherrscht, das nicht beeinflusst werden kann. Dieser Ideologie zufolge läuft die Wirtschaft von alleine und erzielt Gewinne bis hin ins Unendliche, wenn man ihren Gang nicht stört. Naturgesetze setzen Grenzen, die nicht überschritten werden können. Von Menschen gemachte Regeln können durchaus, je nach Stand der Wirtschaft, verändert werden.

Es gibt Ethiker, beispielsweise an der Wirtschaftsuniversität St. Gallen, die sich sehr intensiv mit dualen Systemen auseinandergesetzt und Modelle geschaffen haben, die aufweisen, wie sich Ethik und Wirtschaft zusammen entwickeln könnten, so dass schädliche Nebenwirkungen verhindert oder zumindest eingegrenzt würden. Diese Modelle zeigen auf, wie die Globalisierung auf eine sozial gerechtere Schiene gebracht werden könnte, mit Hilfe von ethischen Regeln, die auf ein Miteinander anstelle eines Gegeneinanders abzielen. Die Verlierer müsste man ja auch wieder ins Boot holen können, und hier sehe ich sehr interessante Schnittstellen zwischen der Wirtschaft und der Philosophie. Niemand ist daran interessiert, seine Kinder in Zukunft mit Body Guards in die Schule zu schicken und in Ghettos zu leben — um sich vor den „Habenichtsen“ zu schützen. Es gibt also vernünftige Gründe, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und zu verhindern, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinanderklafft.

Dueblin: Es gab schon immer eine Art „Corporate Responsibility“ gegenüber dem Staat, auch wenn der Ausdruck noch jüngeren Datums ist. Man erwartet von Politik und Staat, dass sie sich gerecht verhalten, sich solidarisch zeigen und ethische sowie soziale Prinzipien anwenden. Das ist unbestritten und geht wohl zurück bis zu den Tagen der Entstehung der Magna Charta oder der alten Eidgenossenschaft. Nun hat sich aber in den letzten Jahren diese Erwartungshaltung auch auf Unternehmen ausgeweitet. Ein Unternehmen muss sich heute aufgrund des öffentlichen Druckes plötzlich mit Themen auseinandersetzen, die noch vor ein paar Jahrzehnten für ein Unternehmen und dessen Gedeihen schlicht unbedeutend gewesen wären.

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Wenn wir jetzt über demokratische Gesellschaften reden, dann sind das Gesellschaften, die sich auf freiheitliche Prinzipien berufen. Die Ökonomie beansprucht für sich einen liberalen Markt. Das ist die Freiheit der Wirtschaft. Der Staat soll sich nicht in die Handlungen der Ökonomie einmischen. Aber irgendwer muss Grenzen setzen. Die Wirtschaft selber kann das nur ganz bedingt tun. Dann muss eine demokratische Gesellschaft Regeln definieren, vor allem dann, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Die Wirtschaft basiert auf diesen Spielregeln. Ich kann mich nicht ausklinken und sagen, wir machen unsere eigenen Regeln. Es hat sich gezeigt, dass die freie Marktwirtschaft am profitabelsten ist. Wenn man aber sieht, dass nur die einen auf unserer Welt die Werte abschöpfen und die anderen zu wenig bis gar nicht profitieren, dann provoziert man eine Revolution. Ich finde es deshalb wichtig, dass faire Regeln gelten und auch eingehalten werden. Man kann das mit dem Teamsport vergleichen. Leistungen werden allgemein honoriert, wenn sie regelkonform erbracht werden. Natürlich gibt es Tricks und Kniffe, aber Fouls werden vom Schiedsrichter geahndet. Tatsächlich müssen sich Unternehmen heute mit Regeln auseinandersetzen, oft mit solchen, die noch nicht als solche formuliert sind, sich aber schon in der Pipeline befinden. Auch in der Wirtschaft gibt es Schiedsrichter.

Dueblin: Sind diese Schiedsrichter die diversen Ethiken, die heute einen immer grösseren Platz in der Wirtschaft und in unserer Gesellschaft einnehmen? Oder gibt es noch andere Schnittstellen zwischen Wirtschaft und Philosophie, bei denen Einflüsse auf die Wirtschaft zu erkennen sind?

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Die angewandten Ethiken haben sich in den letzten Jahren sehr vermehrt. Die Ökonomie ist eine Handlungswissenschaft. Die Schnittstelle zur Ethik ist deshalb sehr zentral. Es gibt daneben noch andere Schnittstellen, wie beispielsweise zur Wissenschaftstheorie. Dabei geht es mehr um Modelle und Fragen der Strategie. Ich würde aber schon sagen, dass die Ethik die wichtigste Schnittstelle zur Wirtschaft ist. Es gibt heute Wirtschaftsethik, Ökoethik, Bioethik …

Dueblin: Bevor wir dieses Thema weiter verfolgen, möchte ich Sie fragen, wie Sie die Moral von der Ethik unterscheiden.

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Die Moral ist das gewachsene Wertesystem, das von unseren christlichen und abendländischen Werten geprägt ist. Wir werden erzogen im Kontext dieser Überzeugungen. Die Ethik verhält sich zur Moral wie die Theologie zur Religion. Ich bin ein religiöser Mensch oder nicht, aber als Theologe denke ich darüber nach, was Religion ist. Und genauso fragt der Ethiker, was Moral ist. Er hinterfragt die Normen und Regeln, die wir akzeptieren und den Moralkodex, der bei uns über Jahrhunderte gewachsen ist. Er fragt sich, ob diese Regeln unsere Freiheiten zu sehr einschränken, und er macht sich Gedanken, ob wir neue Regeln brauchen. Das ist sozusagen die Metaebene der Ethik.

Es gibt viele Selbstverständlichkeiten, die wir jeden Tag tun und die mit Moral zu tun haben. Wir helfen einer alten Frau über die Strasse oder einer Mutter, ihren Kinderwagen ins Tram zu heben. Aber in Fragen von Konflikten, immer dann, wenn wir Wertentscheidungen treffen müssen, wird es komplizierter. In diesen Situationen kann es sein, dass gewisse Meinungen und Tatsachen kollidieren und wir nicht leicht zu entscheiden wissen, was richtig ist. Hier ist die Ethik als Wissenschaft sehr hilfreich. Sie kann Hilfsmittel sein, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Der Ethiker fragt sich dann, nach welchen Prinzipien Lösungen gefunden werden sollen. Kant hat den kategorischen Imperativ formuliert, aber es gibt beispielsweise auch die goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Die kann man in jedem konkreten Einzelfall anwenden. Hier sind wir dann schon auf der Ebene der Ethik, auf der es um das Grundsätzliche geht.

Dueblin: Bis noch vor einigen Jahren hat die Kirche in Bezug auf Moral und wohl auch auf Ethik eine entscheidende Rolle gespielt. In der modernen westlichen Welt verliert die Kirche aber immer weiter an Gewicht. Entstehen hier möglicherweise Lücken, gerade in Bezug auf ethische Fragestellungen, die nun nicht geschlossen werden können?

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Die Ethik ist noch nicht als Ersatz für die Religion anerkannt. Ich höre oft von Eltern, sie würden die Kinder zu Hause moralisches und ethisches Verhalten lehren. Das ist sicher wichtig, aber es wäre ein Missverständnis, anzunehmen, Moral sei eine reine Privatangelegenheit. Es geht letztlich darum, dass man auch über die Prinzipien nachdenken muss, was es zum Beispiel heisst, gerecht zu sein. Antworten auf diese Fragen können im Ethikunterricht in der Schule diskutiert werden. Warum muss ich gerecht sein? In welchen typischen Handlungen und Verhaltensweisen kommt Gerechtigkeit vor?

Die theologische Ethik war in einem höheren Prinzip fundiert, in einem Gottesprinzip. Solange Menschen an einen Gott glauben, nehmen sie natürlich auch Regeln an, die von Seiten der Religion und der Priester bis hin zum Papst verkündet werden. Je demokratischer und je autonomer wir geworden sind, je mehr der Einzelne somit selbstverantwortlich von seiner Freiheit Gebrauch machen will, desto weniger möchte er von anderen gesagt bekommen, was er tun soll. Dann berät man sich vielleicht mit Gleichgesinnten, mit der Familie oder mit Freunden in einer kritischen Situation, aber man konsultiert weniger den Pfarrer. Die Menschen glauben heute nicht mehr an Höllenstrafen, zumindest nicht die jüngeren. Man muss Handlungen vernünftig begründen können, ohne Zuflucht zu nehmen zu einem Gott, der angeblich etwas gebietet oder verbietet. Wir müssen uns alle einigen, welche Regeln wir haben möchten. Menschenrechte sollten weltweit anerkannt sein.

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Angewandte Ethik. ISBN: 3-406-42061-3

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Angewandte Ethik. ISBN: 3-406-42061-3

Dueblin: Sie haben davon gesprochen, dass Schulen Ethik vermitteln sollten. Wird das heute auch gemacht?

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Ethikunterricht an Schulen gibt es in Deutschland schon lange. In der Schweiz ist das schwieriger. Als ich in den siebziger Jahren in München dozierte, habe ich die ersten Pläne für Ethikunterricht an der Schule mitgestaltet. Damals war das Fach vor allem für Kinder gedacht, die vom Religionsunterricht abgemeldet wurden, und man dachte, diese Kinder müssten von woanders Wertvorstellungen vermittelt bekommen. Aber man muss klar sagen, die Schule vermittelt keine Moral. Man erwartet nach wie vor, dass Kinder Lebensart im Elternhaus lernen. Es geht um alles, was sich gehört, was anständig ist und mit „Etikette“ zu tun hat, dass man den anderen nicht ins Kreuz tritt … Das ist das eine, aber das andere, das Nachdenken darüber, warum das sinnvoll und notwendig ist, das kann oft in einem Elternhaus nicht vermittelt werden. Dieses Nachdenken sollte im Ethikunterricht an den Schulen gefördert werden. Als nach der „Wende“ die ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik hinzukamen, stand man plötzlich vor Hunderttausenden von Kindern, die nie in einem Religionsunterricht waren. Diesen Kindern sind ganz andere Wertvorstellungen, beispielsweise über Marxismus und Leninismus, vermittelt worden. Diese Kinder waren sehr wohl erzogen worden, aber trotzdem in einem doktrinären und starren Umfeld aufgewachsen. Die Ethik versucht, die Menschen auf dem Grundsatz von Freiheit und Autonomie mündig zu machen. Der Ethikunterricht hat sich da meines Erachtens sehr bewährt und hat einen grossen Beitrag zu diesem Prozess leisten können.

Natürlich wollten auch die Kirchen wieder Religionsunterricht anbieten. Das war aber sehr schwierig in einer Gesellschaft, in der die Religion jahrzehntelang keine Rolle mehr spielte. Der Ethikunterricht ist daher zu einem Grundbestandteil des Schulstoffs geworden und hat heute in unserer multikulturellen Welt eine noch grössere Bedeutung bekommen.

Dueblin: Was aber kann der Ethikunterricht und die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen bewirken?

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Sie sehen das beispielsweise sehr gut bei muslimischen Familien, in denen ganz andere Werte, als wir sie hier leben, vertreten werden. Diese Menschen brauchen eine andere Art der Vermittlung von Werten unserer Kultur, in der sie leben. Diese Menschen müssen verstehen, wie unsere Normen und Regeln historisch und theoretisch gewachsen sind, um damit umgehen zu können. Sie müssen diese Erkenntnisse dann mit den Werten ihrer eigenen Kultur vergleichen können. Ich finde das sehr wichtig.

Gerade Kinder – es gibt ja auch eine Ökologie-Ethik, die ganz neu ist – müssen sensibilisiert werden. Fragen, ob die Natur schützenswert ist oder ob man Regeln für den Umweltschutz definieren muss, sind fundamental. Früher stellten sich solche Fragen gar nicht. Heute ist das anders. Kinder sind dafür sehr zugänglich und lernen spielend. Wirft einer eine braune Glasflasche in den grünen Behälter, dann reagieren sie sofort und sagen: Was machst Du denn da? (lacht) Aber hier fängt es eben an. Auch Tiere sind für Kinder etwas ganz anderes als für Erwachsene. Dass Tiere keine Sache sind, sondern schützenswürdige Lebewesen, müssen Sie Kindern gar nicht beibringen. Das ist für sie selbstverständlich.

Dueblin: Wie kann Philosophie in der Politik eine Rolle spielen?

Prof. Dr. Annemarie Pieper: Ich habe viele Politiker beraten, aber auch Unternehmer, die gewisse Sachverhalte einmal aus einer anderen Perspektive sehen wollten. Politik ist in erster Linie nicht ethisch, sondern pragmatisch. Man kann nicht immer das Beste durchsetzen, sondern man muss oft Kompromisse schliessen. Die Politik ist auf Konsens ausgerichtet. Das finde ich ein sehr wichtiges Element, und der Konsens stellt eine Grundvoraussetzung für unsere Demokratie dar. Als Politiker muss man, und das hat mich immer von der Politik fern gehalten, zu fest von seinen eigenen Idealen Abstand nehmen. Es gab Verantwortliche, die bekannt dafür waren, immer wieder die Elite aus bestimmten Gebieten an einen Tisch zu setzen und gewisse Fragen gemeinsam und allumfassend zu diskutieren. In der Schweiz hat das Altbundesrat Flavio Cotti sehr geschickt gemacht. Einerseits kann man natürlich dieses Vorgehen auch missbrauchen, um dann trotzdem seine eigenen Ziele unter dem Deckmantel einer gespielten „Offenheit“ zu verfolgen. Andererseits kann man damit den persönlichen Erkenntnishorizont erweitern und gewisse Bevölkerungsgruppen sehr intelligent mit ins Boot holen. Ich glaube, dass das der richtige Ansatz ist, Wege zu finden, um mit Problemen auf dieser Welt umzugehen. Aus den verschiedensten Lagern werden dann Idealvorstellungen und Lösungsvorschläge zu gewissen Problemen vorgetragen. Das kann dazu beitragen, dass man bei politischen Kompromissen das Idealziel nicht vollkommen aus den Augen verliert. Das scheinen mir gute Politiker zu sein, die so vorgehen. Das gilt übrigens genau gleich auch für Unternehmer.

Dueblin: Sehr geehrte Frau Professor Pieper, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute.

(C) 2008 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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Literaturliste (Deutsche Nationalbibliothek):

1. Gut und Böse
Pieper, Annemarie. – München : Beck, 2008, 3., durchges. Aufl. ,ISBN: 978-3-406-41877-8       
2. Einführung in die Ethik
Pieper, Annemarie. – Tübingen : Francke, 2007, 6., überarb. und aktualisierte Aufl., ISBN: 978-3-7720-8237-5
3. Die Klugscheisser-GmbH
Pieper, Annemarie. – Basel : Schwabe, 2006, ISBN: 978-3-7965-2219-2
4. Van-e feminista etika?
Pieper, Annemarie. – Budapest : Áron, 2004, ISBN: 963-9210-40-4
5. Mitgefühl: Stärke und Gefahr?
Pieper, Annemarie. – Luzern : Romero-Haus, 2004
6. Glückssache
Pieper, Annemarie. – München : Dt. Taschenbuch-Verl., 2003, ISBN: 3-423-30872-9
7. Søren Kierkegaard
Pieper, Annemarie. – München : Beck, 2000, Orig.-Ausg., ISBN: 3-406-41956-9
8. Gibt es eine feministische Ethik?
Pieper, Annemarie. – München : Fink, 1998, ISBN: 3-7705-3320-8
9. Angewandte Ethik
Pieper, Annemarie (Hrsg.) – München : Beck, 1998, Orig.-Ausg., ISBN: 3-406-42061-3
10. Selber denken
Pieper, Annemarie. – Leipzig : Reclam, 1997, Orig.-Ausg., 1. Aufl., ISBN: 3-379-01585-7 
11. Was sollen Philosophen lesen?
Pieper, Annemarie. – Berlin : Erich Schmidt, 1994, ISBN: 3-503-03079-4
12. Aufstand des stillgelegten Geschlechts
Pieper, Annemarie. – Freiburg im Breisgau : Herder, 1993, Orig.-Ausg., ISBN: 3-451-04231-2
13. Ética y moral
Pieper, Annemarie. – Barcelona : Ed. Crítica, 1991, ISBN: 84-7423-483-2