Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey (geb. 1939) ist emeritierter Professor für Nationalökonomie und war von 1970 bis 2004 Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik des Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrums (WWZ) der Universität Basel. Von 1996 bis 1998 war er Rektor dieser Universität und in dieser Funktion auch Präsident der Konföderation der Universitäten des Oberrheins. 2004 verlieh ihm die Universität Fribourg den Ehrendoktortitel (Dr. h.c.). Damit wurden seine Verdienste als Forscher und als Berater der schweizischen Wirtschafts-, Finanz- und Regionalpolitik gewürdigt. Im Jahr 2000 erhielt er für sein Engagement für die Region Basel den Förderpreis für eine Starke Region Basel. Professor Frey ist Mitbegründer von CREMA – Center for Research in Economics, Management and the Arts (2004) und seit 2009 Verwaltungsrat der Ziegler Papier AG, Grellingen (2009-2011 Präsident). Im Interview mit Christian Dueblin spricht Professor René L. Frey, auch Vorstandsmitglied der Regio Basilensis, über die Bedeutung der Region Nordwestschweiz und die Zusammenarbeit mit dem angrenzenden süddeutschen und elsässischen Raum. Professor Frey macht im Folgenden auf Chancen und Risiken dieser Region aufmerksam und zeigt, wo sie noch Potenziale ausschöpfen kann. Rund 40‘000 deutsche und 30‘000 französische Grenzgänger passieren täglich im südbadischen und im südelsässischen Raum die Grenzen zur Schweiz, Grund genug, sich mit unseren Nachbarn und der Region eingehend auseinanderzusetzen.
Dueblin: Herr Professor Frey, in den letzten Jahren haben sich die Ereignisse auf den Finanzmärkten überstürzt. Auch in der Schweiz und in unserer Region herrscht Unsicherheit. Was geht Ihnen als Person, die sich ihr berufliches Leben lang mit volkswirtschaftlichen Fragen beschäftigt hat, durch den Kopf, wenn Sie an die derzeitige Situation denken?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Wir haben sowohl in der Schweiz wie auch in unserer trinationalen Region am Oberrhein die Finanz- und Wirtschaftskrise bisher recht gut überstanden. Für die Schweiz liegt ein wichtiger Grund darin, dass sich Fehlentwicklungen der EG bzw. EU nach 1992 – vor allem die „Missgeburt“ Euro – nicht hemmend ausgewirkt haben.
Dueblin: Sie haben für Ihr Engagement für die Region Basel im Jahr 2000 den Förderpreis für eine Starke Region Basel erhalten. In Ihrer Rede sagten Sie damals, es bestehe die Gefahr, dass hoheitliche Gebilde, die sich veränderten Rahmenbedingungen und Ansprüchen nicht anpassen, schleichend an Bedeutung verlieren könnten, so wie das im 19. Jahrhundert den Zünften passiert sei. Wo sehen Sie diesbezüglich in der Region Basel in den letzten zehn Jahren die wichtigsten Fortschritte?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Von drei Bereichen abgesehen (liberale rechtliche Rahmenbedingungen, gute Infrastruktur und gute Ausbildung) ist es nicht der Staat, der für Wachstum und Wohlstand sorgt. Es sind vielmehr die innovativen Unternehmungen, die sich auf globalen Märkten erfolgreich behaupten. Wir haben in unserer Wirtschaftsregion das Glück, über solche Unternehmungen zu verfügen. An erster Stelle zu nennen ist selbstverständlich die chemische Industrie, die sich in den letzten Jahrzehnten zur Pharma- und Life Science-Industrie gewandelt hat. Nicht zu vergessen sind auch die Messe Basel, die Logistik- und Medizinaltechnikunternehmen sowie die zahlreichen kleineren Firmen. Diese stehen zwar weniger im Scheinwerferlicht der Medien, tragen aber doch dazu bei, dass die trinationale Wirtschaftsregion Basel zu den wohlhabendsten der Welt gehört. Als Zeichen der Stärke ist auch die Tatsache zu werten, dass einige Neugründungen in kurzer Zeit zu internationalen Grossunternehmen wurden (z.B. Actelion).
Dueblin: Gibt es auch Rückschritte?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Ja, klar. Im Zusammenhang mit der Fusion von Ciba-Geigy und Sandoz zu Novartis kam es zu mehreren Ausgliederungen. Einige waren sehr erfolgreich und wurden auf ihrem Gebiet zu führenden Weltunternehmen (z.B. Syngenta). Anderen gelang dies weniger gut (z.B. Clariant), verloren ihre Selbstständigkeit (z.B. Verkauf von Ciba Spezialitätenchemie an BASF) oder wurden stark dezimiert (z.B. Huntsman).
Dueblin: Theodor Häner, der noch bis vor kurzem die Geschäftsführung der „Unternehmerinitiative Wirtschaftsraum DCH“ unterstützte, stellte in einem Xecutives.net-Fachbeitrag zur Powerregion Südbaden/Nordwestschweiz u.a. fest, dass das Bruttoinlandprodukt (BIP) dieser Region dasjenige von Ländern wie Dänemark, Portugal oder Tschechien überschreite.
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Dieser Vergleich ist nur für die Region Oberrhein insgesamt zutreffend; diese reicht im Norden bis Strassburg und Karlsruhe. Der eigentliche Wirtschaftsraum Basel – abgegrenzt nach dem Pendlereinzugsgebiet – ist wesentlich kleiner, aber bezüglich Pro-Kopf-Einkommen gleichwohl eindrücklich.
Dueblin: Diese Tatsache überrascht viele Menschen, wenn man sie auf ihre eigene Region anspricht. Worauf ist Ihres Erachtens der Erfolg dieser Region zurückzuführen?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Wie erwähnt: auf die weltweit tätigen, innovativen und kompetitiven Unternehmungen. Diese Firmen holen Kaufkraft in unsere Region und befruchten diese direkt via Käufe von Vorleistungen und indirekt via Löhne und Steuern. Die Universität und die übrigen Hochschulen sind ohne sie kaum denkbar. Gleiches gilt für die tolle moderne Architektur, die man in Basel bestaunen kann, ja sogar für den Zolli und den FCB. Nicht zuletzt verdankt Basel seine internationale Ausstrahlung als Kulturstadt unserer erfolgreichen Wirtschaft. Ich verweise auf das Basler Kunstmuseum, die Fondation Beyeler in Riehen, das Theater Basel (zweimal Opernhaus des Jahres), das Musikleben (z.B. AVO Session). Könnten wir noch den Blick auf die Alpen bieten und hätten wir einen See, würden wir Zürich, Genf, Wien usw. als gemäss Rankings derzeit attraktivste Städte in den Schatten stellen. Immerhin hat Basel den Rhein und eine wunderschöne Rheinkulisse. Nicht zuletzt: Wo auf der Welt kann man zwischen zwei Industriekonzernen (Roche und Novartis) in einem Fluss schwimmen, ohne seine Gesundheit zu gefährden?
Dueblin: Wie könnte das politische Bewusstsein der ganzen Region Südbaden/Nordwestschweiz im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Bedeutung gefördert werden?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Die Stadt Basel ist zwar wirtschaftlich der Motor und kulturell das Zentrum der Region, würde aber ohne Umland nicht funktionieren. Dass dieses Umland (je nach geografischer Abgrenzung) hunderte von Gemeinden, fünf Kantone und drei Nationalstaaten umfasst, hat Vor- und Nachteile. Zu den Vorteilen gehört die Vielfalt: wirtschaftlich, sprachlich, kulturell, kulinarisch usw. Die Einwohner und die Firmen können zudem auf kleinem Raum unter einer grossen Zahl von unterschiedlichen staatlichen Regelungen auswählen. Man denke bloss an den Einkaufstourismus: Lörracher tanken in Riehen, Basler kaufen Fleisch in Grenzach und Käse in St. Louis. Vermutlich sind aber die Nachteile grösser. Insbesondere die Planung der Infrastruktur und die Finanzierung der Zentrumsfunktionen sind angesichts der Fragmentierung schwierig. Die Lösung dieser Probleme gehört zu den grössten Herausforderungen der nächsten Zeit, will die Region im globalen Standortwettbewerb auch in Zukunft erfolgreich mithalten.
Dueblin: Tatsächlich leisten sich nur schon Baselland und Basel-Stadt im Umgang miteinander Animositäten. Wenn es schon hier bedeutende Reibungsverluste gibt, wie kann man dann erwarten, dass es zwischen anderen Kantonen und über die EU-Grenze hinweg besser laufen soll? Was könnte die Politik (besser) machen, um diesen Umstand zu verändern und ein Bewusstsein für die Region besser zu fördern?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Meiner Meinung nach werden die Animositäten und Reibungsverluste übertrieben. Natürlich gibt es sie, nur treten sie bei uns deutlicher in Erscheinung als anderswo. Auch in Zürich sind die Spannungen zwischen Zentrum (Kernstadt) und Umland (Agglomeration und ländliche Gebiete) erheblich. Ich kenne Stadtzürcher, die von einem Kanton Zürich-Stadt träumen. Dann könnten sie nämlich wie Basel-Stadt mehr Probleme autonom lösen. Auch könnten sie mit den Bundesbehörden direkt verkehren. Ihre Anliegen würden nicht durch den Kanton überstimmt, weggefiltert oder verwässert.
Dueblin: Sie meinten in Ihrer Rede im Jahre 2000 auch, dass Sie die Idee eines Kantons Nordwestschweiz als nicht realistisch betrachten, bei einer Abstimmung aber für einen solchen Grosskanton stimmen würden. Ist Ihrer Meinung nach ein solcher Grosskanton auch heute noch sinnvoll? Könnten dadurch Finanzen eingespart und die ganze Region gestärkt werden?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit innerhalb der trinationalen Region ist wichtig und muss verstärkt werden. Darum bemühen sich viele Institutionen und Gremien – vielleicht zu viele. Auf Gebietsfusionen zu hoffen, ist unrealistisch. Ich bleibe bei dieser Ansicht. Auf Jahre hinaus würden politische Energien gebunden, da und dort alte Wunden aufgerissen. Als Ökonom und Finanzwissenschaftlicher bezweifle ich, ob die finanziellen Ersparnisse so gross wären, wie von den Befürwortern behauptet. Soweit es solche gibt, werden sie nämlich dadurch aufgefressen, dass eine voll ausgebaute Stadtgemeinde Basel geschaffen werden müsste. Überdies werden nach aller Erfahrung eingesparte Finanzen im politischen Prozess jeweils verwendet, um die öffentlichen Leistungen zu verbessern, auch wenn dies die Bevölkerung gar nicht wünscht. Kommt hinzu, dass der intraregionale Steuer- und Leistungswettbewerb geschwächt würde – für mich ein Hauptnutzen des kleinräumigen schweizerischen Föderalismus. Wettbewerb sorgt nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im staatlichen Bereich für Effizienz und Innovation.
Haben Firmen wir Roche oder Novartis, zwei ganz bedeutende Player in unserer Region, die Politik des Dreiländerecks nicht schon längst mit ihrer pragmatischen Vorgehensweise überholt, und wo könnte die Politik möglicherweise ganz besonders von diesen Unternehmen lernen?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Zum Glück haben wir die zwei von Ihnen genannten Unternehmen. Das zwingt uns zu einer offenen Haltung – offen den geografischen Nachbarn, aber auch Europa und der ganzen Welt gegenüber. Ohne diese Herausforderung würden wir leicht in eine selbstgenügsame Behäbigkeit verfallen.
Dueblin: Ein zentrales Thema für die Region und für den Wirtschaftsstandort ist der Verkehr. Sie haben immer wieder aufgezeigt, dass gemeinsame Lösungen schwierig sind, weil Stadt und Land gerade in Bezug auf dieses Thema andere Bedürfnisse haben. Wo sehen Sie verkehrstechnische Lösungswege, die auch umsetzbar sind und der Region wirtschaftlichen Nutzen bringen?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: In unserer Region ist man sich über die wichtigsten Verkehrsvorhaben weitgehend einig: Ausbau der S-Bahn und von Tramlinien, Schienenanbindung des Flughafens, Bau des Wisenbergtunnels. Nicht überzeugt bin ich vom Herzstück. Erstens: Die Gebiete, wo zusätzliche Arbeitplätze entstehen (Novartis Campus, Roche-Hochhaus, Allschwil, Dreispitz), werden dadurch nicht erschlossen. Zweitens: Wie viele Personen wollen regelmässig vom Bahnhof SBB zum Badischen Bahnhof fahren? Die wenigen, die es gibt, haben bereits eine rasche Bahnverbindung. Und drittens: Die bessere Erschliessung der Innenstadt gäbe nur dann einen Sinn, wenn wir bereit wären, die Innenstadt baulich gewaltig zu verdichten. Das sehe ich nicht. Jede Veränderung der Dachlandschaft, sei sie noch so klein, stösst auf Widerstand. Und moderne, attraktive Bauvorhaben innerhalb der früheren Stadtmauern werden regelmässig an der Urne abgeschmettert.
Dueblin: Sehr geehrter Herr Professor Frey, was wünschen Sie sich persönlich, der Region Nordwestschweiz aber auch der ganzen Schweiz, die sich zurzeit mit schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen auseinandersetzen muss?
Prof. Dr. Dr. h.c. René L. Frey: Zwei Dinge: Erstens, Innovation im wirtschaftlichen Bereich, damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer regionalen Unternehmen gestärkt wird. Zweitens, Innovation im politischen Bereich, damit neue Problemlösungen eine Chance erhalten. Basel und die Nordwestschweiz müssen nicht gross werden. Klein, aber fein – das muss die Strategie sein. «Weltstadt im Westentaschenformat» haben wir das einmal in einer Publikation genannt.
Dueblin: Herr Professor Frey, ich bedanke mich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute!
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Links
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– Wikipedia
– Universität Basel: Ehrendoktor