Prof. Dr. iur. et lic. oec. HSG Heinrich Koller Xecutives.net-Interview
Prof. Dr. Heinrich Koller Xecutives.net-Interview

Prof. Dr. iur. et lic. oec. HSG Heinrich Koller, Fürsprecher und Notar, war von 1979 bis 1988 Rechtskonsulent der Ciba-Geigy AG in Basel (zuletzt als Direktionsmitglied) und nebenamtlicher Richter am Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt. 1988 wurde er zum Direktor des Bundesamts für Justiz im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement berufen, dem er bis 2006 vorstand. Nebst seiner beruflichen Tätigkeit als Justizdirektor war Heinrich Koller Professor für öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Basel. Heinrich Koller arbeitet heute wieder als Anwalt in einer renommierten Basler Anwaltskanzlei.

Anlässlich eines ersten Interviews im Praxishandbuch Legal Operations Management (Springer 2017) zeigte er auf, was die berufliche Tätigkeit eines Juristen in der Verwaltung, in der Privatwirtschaft und in der Advokatur grundsätzlich unterscheidet. Er strich Fähigkeiten heraus, die für eine Karriere als Verwaltungsjurist, als Wirtschaftsjurist oder Anwalt vorteilhaft sein können – Informationen, die gerade für Juristen in der Berufswahl sehr wertvoll sein können.

In diesem zweiten Interview gibt Professor Koller Auskunft zum Thema Studium der Rechtswissenschaften und zur Vielfalt der rechtlichen Tätigkeiten, die an Universitäten unzureichend vermittelt werden, da in erster Linie die Gerichtstätigkeit und der Anwaltsberuf thematisiert und avisiert werden. Er zeigt auf, warum an juristischen Fakultäten die Vorbereitung auf den Anwaltsberuf eine dominante Rolle einnimmt, wogegen andere juristische Berufe, wie z.B. der Unternehmensjurist in der Privatindustrie (Legal Counsel/Legal Officer), der Verwaltungsjurist, der Compliance-Officer oder der Diplomat, nur eine untergeordnete Rolle spielen, ganz zu schweigen von technischen Berufen, die sich mit Legal Tech auseinandersetzen.

Dieser Umstand engt den Blickwinkel bei der Suche nach dem richtigen Beruf für Jus-Studierende ein, erhalten sie doch von der Universität zu wenig wichtige Hinweise (oder nur am Rande) auf die Vielfalt alternativer Betätigungsfelder für Juristen und die entsprechenden Anforderungen. Professor Koller geht in diesem Interview weiter auf Fragen in Bezug auf den Unterschied von anwaltschaftlicher, notarieller, gerichtlicher, wirtschaftlicher, verwaltungsmässiger und wissenschaftlicher rechtlicher Arbeit ein und zeigt auf, welche Fähigkeiten in diesen Berufen erforderlich und vorteilhaft sind.

Xecutives.net: Herr Professor Koller, Sie sind nicht nur ein Jurist, der auf jahrzehntelange Arbeit in verschiedensten rechtlichen Gebieten und für unterschiedliche Bereiche sowie Institutionen zurückblicken darf, Sie waren auch lange Zeit nebenamtlicher Professor für Öffentliches Recht an der Universität Basel. Somit haben Sie sich auch eingehend mit der Lehre und der Vermittlung von Recht beschäftigt. Warum haben Sie selber beschlossen, nach dem Wirtschaftsstudium noch Recht zu studieren?

Heinrich Koller: Das Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Hochschule St. Gallen faszinierte mich wegen seiner Breite. Neben volks- und betriebswirtschaftlichen sowie rechtlichen Fächern wurden dort auch Technologie, Sprachen, Betriebspsychologie, Soziologie und vieles andere mehr gelehrt. Ich hatte beim Einstieg in das Studium aber überhaupt keine Vorstellung über das, was ich danach machen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, ein Leben lang für eine Unternehmung im Bereich des Marketings oder der Finanzen tätig zu sein; vielmehr suchte ich nach einer sinnerfüllenden konzeptionellen Aufgabe in einer Unternehmung oder im Dienste der Öffentlichkeit, als abwägender Berater und Leiter etwa im Bereich der Strategie, der Organisationsentwicklung, des Personalwesens oder in der Entwicklungshilfe. Jedenfalls wollte ich mich in der Gesellschaft nützlich machen, mich persönlich einbringen – ohne klare Berufsziele.

Der Rat zweier angefragter Dozenten, dann halt einfach mal in einem Bereich zu beginnen, konnte mich nicht befriedigen. Das Glück wollte es dann, dass ich mich in meinem letzten St. Galler Semester bei Prof. Dr. Otto Konstantin Kaufmann, damals Rektor der HSG, für die Vorlesung «Grundzüge des abendländischen Rechts» einschrieb. „OKK“, wie man ihn bei uns nannte, wurde kurz darauf ehrenvoll von der Bundesversammlung zum Bundesrichter gewählt und beendete seinen Vorlesungszyklus in kleinem Kreis mit einem Vortrag über «Das Berufsethos des Richters». Das hat mich derart begeistert, dass ich mich vor Ort entschied, noch ein Jus-Studium in Angriff zu nehmen und Richter zu werden.

Ein paar Monate später klärte mich ein anderer, späterer Bundesrichter Hans Dubs . a.o. Professor für Strafprozessrecht in Basel und Gerichtspräsident in Zofingen – darüber auf, dass für eine allfällige Wahl zum Richter wohl nicht nur das Studium der Rechtswissenschaften, sondern auch die Parteizugehörigkeit, die Religion, die Ortsansässigkeit u.a.m. ausschlaggebend sein werden. Ich liess mich davon aber nicht beeindrucken, weil ich inzwischen an meinem Studium in Basel, insbesondere an der Staatslehre, am Strafrecht, am Obligationenrecht usw. viel Freude gefunden hatte. Etwas später kam das Interesse an der Wissenschaft auf, dann aus Einsicht und Sympathie zu meiner Frau die Absolvierung des Fürsprech- und Notariatsexamens und schliesslich – vorab aus ökonomischen Gründen – die Aufnahme der Arbeit als Rechts- und Steuerkonsulent in der chemischen Industrie. Richter (im Nebenamt) bin ich später dann doch noch geworden, auch Chefbeamter und Universitätslehrer.

Und die Lehre daraus? Letztlich hat sich alles wunderbar gefügt; nicht, weil ich das zielgerichtet angegangen wäre, sondern weil ich mit Offenheit und viel Glück jene Tätigkeiten habe ausführen dürfen, die an mich herangetragen worden sind. Es hat sich voll erfüllt, was ich mir von meinem Beruf in bestem Fall erhoffen durfte.

Xecutives.net-Interview Speaker Prof. Dr. Heinrich Koller
Prof. Dr. Heinrich Koller als Referent

Xecutives.net: Mir selber fällt als Jurist auf, dass an den Universitäten, an denen ich studiert habe, nie jemand etwas bspw. zum Beruf des Unternehmensjuristen oder Compliance Officer mitgeteilt oder mit auf den Weg gegeben hätte. Es war vorwiegend die Theorie, oft völlig abgekoppelt von der Praxis, und der Anwaltsberuf, der beleuchtet und damit von den Studierenden natürlich auch in Betracht gezogen wurde. Selber habe ich mich sehr rasch nach dem Studium für die Privatwirtschaft entschieden und mich später unternehmerisch und wirtschaftlich weitergebildet. Bei der Zusammenarbeit mit jüngeren Anwältinnen und Anwälten auf der ganzen Welt stelle ich auch heute fest, dass diese oft sehr viel nach ihrem Studium nachholen müssen, was in der Privatindustrie gefordert und aktuell ist. Was hat es auf sich mit diesem immerwährenden Fokus auf den Anwaltsberuf? Was steckt auch historisch gesehen hinter diesem Fokus an Universitäten, möglicherweise bis zurück in die Zeit, als man in Bologna anfing, das römische Recht wieder zu «reanimieren»?

Heinrich Koller: Ihre Frage ist mehrschichtig; sie zielt einerseits auf Inhalte und Ausrichtung des Unterrichts, aber auch auf die Art der Vermittlung, andererseits auf die Anforderungen der Praxis. Ich betone seit langem, dass der heutige Unterricht in mehrfacher Hinsicht nicht zu genügen vermag. Dabei denke ich nicht einmal in erster Linie an die Fokussierung auf den Rechtsanwendungsjuristen, den «Subsumtionsjuristen» (Anwendung einer Rechtsnorm auf einen Lebenssachverhalt bzw. der Unterordnung eines Sachverhaltes unter die Voraussetzungen der Norm), sondern die bloss noch beschränkte Vermittlung des Stoffes, die früh einsetzende Wahlmöglichkeit, das definitive «Ablegen» von Fächern und damit einhergehend der Verzicht auf die Vertiefung in den Hauptfächern und die Unmöglichkeit der Herstellung von Querbezügen in allen Bereichen des Rechts.

Wir sollten die Studierenden nicht zu Spezialisten in diesem oder jenem Fachgebiet ausbilden, sondern zu breit angelegten Juristen, die über ein gutes Grundwissen und vor allem über Methodensicherheit verfügen. Das Spezialwissen muss man sich so oder so später in der Praxis aneignen, sei es im Bau- oder Steuerrecht, in der Strafverteidigung oder in Life Science. Dabei verkenne ich nicht, dass neben der Vermittlung der Grundlagenfächer (Einführung in die Rechtswissenschaft, Methodenlehre, Rechtsgeschichte, die allgemeinen Lehren des Privat- und Strafrechts, des Staats- und Völkerrechts) auch Grundzüge der Volks- und Betriebswirtschaft, der Rechtsinformatik usw. im Angebot sein sollten.

Was nun die Ausrichtung des Studiums auf die klassischen Juristenberufe (Anwalt, Notar, Richter, Gerichtsschreiber) anbelangt, ist dafür neben der herkömmlichen Fokussierung auf die hauptsächlichsten juristischen Berufsgattungen wohl auch die Fraktionierung des Studiums in das Bachelor- und in das Masterprogramm zu nennen. Das Bachelorstudium sollte innerhalb von 6 Semestern absolviert werden, lässt also kaum Vertiefungen zu und ist nicht mehr als eine erste Plattform, welche die Möglichkeit zum Weiterstudium eröffnet; sinnvollerweise auch zum Wechsel an eine andere Universität, einen Aufenthalt im Ausland oder den Ausstieg aus dem Studium. Berufstauglichkeit kann dem Juristen, der seine Ausbildung mit dem Bachelor abschliesst, kaum attestiert werden.

Die meisten Studierenden setzen deshalb ihr Studium bis zum Master fort, haben dabei aber eine recht grosse Freiheit bei der Wahl der Fächer. Das hat zur Folge, dass auch der Masterabsolvent keine Gewähr mehr bietet für eine breite und vertiefte Ausbildung. Die jungen Berufsleute sehen sich deshalb mit der Situation konfrontiert, die Mängel mit einer intensiveren (längeren) Vorbereitung auf die Anwaltsprüfung zu beheben, weil die Praxis – seien das nun Unternehmungen, Gerichte oder Verwaltungen  – heutzutage vielfach das Anwaltsexamen als Mindesterfordernis für den Berufseinstieg erachtet. Wer in einem juristischen Beruf tätig sein will, muss deshalb (heute mehr denn je) das Anwaltsexamen machen, auch wenn eine Tätigkeit als Anwalt oder Notar nicht anvisiert wird. Das ist wohl einer der Gründe für die Ausrichtung des Studiums.

Es wäre jedoch zu viel verlangt, wenn man vom Studium der Rechtswissenschaften auch gleich die Vorbereitung auf alle Fassetten des Berufslebens erwarten würde. Sonst müssten für den beratenden Anwalt zwingend auch Verhandlungstechnik, Vertragsgestaltung, Zeitmanagement, für den Unternehmensjuristen Sprachen, Struktur- und Strategiefragen, Finanz- und Rechnungswesen, für den Verwaltungsjuristen zusätzlich Legistik und für das Gerichtspersonal Befragungspsychologie u.a. angeboten werden. Es gibt Dinge, die man von einem Absolventen zwingend voraussetzen muss (so etwa logisches Denken, Ausdrucksfähigkeit und Schreibstil) und von Berufstätigen zwingend erwarten darf; dazu gehören die Vertiefung des Wissens über die Branche und der Erwerb der für eine erfolgreiche Tätigkeit in einem bestimmten Gebiet notwendigen Fähigkeiten. Ansatzweise sollten solche Anforderungen bereits im Studium aufgezeigt werden. Wie dies geschehen könnte, wird später zu erläutern sein.

Xecutives.net: Die FAZ geht auf eine Studie von Soldan ein und stellt fest, dass man jahrelang von rund 40’000 Unternehmensjuristen in Deutschland ausgegangen sei und man heute feststelle, dass weniger Studenten den Anwaltsberuf ins Auge fassen, was auch auf Legal Tech und weitere Berufsmöglichkeiten für Juristen zurückzuführen sei (https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/recht-steuern/juristen-erstmals-seit-jahrzehnten-weniger-anwaelte-15038068.html). Der Juristenmarkt ist somit in Bewegung, was auch zahlreiche Aktionen von grossen Anwaltsbüros zeigen, die, um den Anschluss nicht zu verlieren, ganze Software-Unternehmen einkaufen. Was stellen Sie selber in Sachen «Bewegung» auf dem Juristenmarkt fest?

Heinrich Koller: Die Digitalisierung ist sicher ein Faktor, der auch den Beruf des Juristen verändern wird. Die «Roboter» werden uns Vieles abnehmen: die Recherche nach Literatur und einschlägigen Gerichtsurteilen, die Abfassung von Texten und die Übermittlung von Dokumenten, auch die Administrierung und Archivierung werden effizienter gestaltet werden können. Das gilt jedoch nicht nur für unseren Beruf. Umso mehr sollte sich der Rechtsgelehrte auf seine Grundfunktionen besinnen, nämlich Rechtsprobleme und Rechtsstreitigkeiten und die damit verbundenen Risiken zu vermeiden, dazu nachhaltige Lösungen vorzuschlagen und in verbindliche Formen zu giessen. Die dabei erworbenen Fähigkeiten des systematischen und logischen Denkens, die Fähigkeit zum rechten und gründlichen Erfassen und die Genauigkeit im Erklären und im Ausdruck prädestinieren den Juristen zur Erfüllung von Aufgaben in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Es ist deshalb absehbar, dass die Juristen mit der zunehmenden Verrechtlichung des gesellschaftlichen Lebens mehr denn je gefragt sein werden: in Banken, Verbänden, Unternehmen, Kultur und Medien, vor allem aber beim Staat – und zwar nicht (nur) als Spezialisten, sondern als Generalisten in der Problemlösung! Anders lässt sich nicht erklären, weshalb heute im Unterschied zu anderen Berufsgattungen 95% der Universitätsabgänger innerhalb eines Jahres eine Beschäftigung finden.

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Xecutives.net: Dr. iur. Hans Bollmann geht im Interview auf die Frage ein, ob es sich hier nicht um alte Überbleibsel einer längst vergangenen Zunftkultur handelt, wie das der kürzlich verstorbene Dr. Arnold Hottinger, seines Zeichens Orientalist und Journalist für Zeitungen und TV in einem Gespräch mit mir ausführte. Er meinte durchaus kritisch, dass es die Juristen über die Jahrhunderte verstanden hätten, sich die Brötchen unter sich aufzuteilen, indem der Zugang zur „Zunft“ stets kontrolliert wurde. Mir fällt auf, dass das tatsächlich heute in den meisten anderen Berufsbereichen, auch aufgrund einer stetig fortschreitenden Globalisierung, nicht mehr möglich ist. Vielleicht wären da noch die Apotheker zu nennen, die ähnliche Zustände vorliegen haben und ebenfalls über die Jahrhunderte sehr gut organisiert waren. Dr. iur. Hans Bollmann teilt diese Meinung im Interview zum Thema Anwaltsberuf nicht. Was halten Sie persönlich von Dr. Hottinger’s Einschätzung?

Heinrich Koller: Bei den Anwälten und Notaren mag ein gewisses Standesdenken durchaus noch vorhanden sein, nicht so bei den Wirtschafts- und Verwaltungsjuristen, und immer weniger bei der zunehmen Anzahl von Professoren oder den Richtern, die sich heute vermehrter Kritik ausgesetzt sehen. Im Unterschied zu den Zünften kennt das Rechtswesen keine Zugangsbeschränkungen. Im Gegenteil – das mit der Verrechtlichung aller gesellschaftlichen Bereiche gestiegene Bedürfnis nach rechtlicher Beratung und die relative Kürze des Studiums haben die Anzahl der Absolventen und die Konkurrenz unter Juristen (besonders der Anwälte) beträchtlich erhöht.

Xecutives.net: Im Rahmen des Buches „Praxishandbuch Legal Operations Management“ haben sich viele Juristen mit unterschiedlichen Facetten von Legal Operations Management auseinandergesetzt, also dem Organisieren von Recht und Rechtsabteilungen in der Verwaltung und in Unternehmen. Dabei wurde klar, dass der Beruf des Anwalts und derjenige des Unternehmensjuristen sich teilweise fundamental unterscheiden, auch der Beruf des Verwaltungsjuristen. Weder ist ein Anwalt einfach so, nur aufgrund seiner Ausbildung ein guter Unternehmensjurist, noch kann der Unternehmensjurist, wenn er denn über das Anwaltspatent verfügt, einfach so ein guter Anwalt sein. Was haben Sie selbst bei der Führung von Hunderten von Juristinnen und Juristen in der Verwaltung und Privatwirtschaft feststellen können?

Heinrich Koller: Jeder Beruf im Rechtswesen kennt seine besonderen Voraussetzungen. Wer keinen Bezug hat zur Wirtschaft und kein Flair für die wirtschaftlichen Zusammenhänge, Mühe hat mit Sprachen und sich nicht in ein Team einfügen kann, sollte nicht Unternehmensjurist werden. Ebenso sollte nicht als Anwalt tätig sein, wer mit dem Zeitmanagement auf Kriegsfuss steht, wissenschaftliche Genauigkeit liebt, gerne Hintergrundarbeit leistet oder es an Ausdrucksfähigkeit mangeln lässt. Umgekehrt zählt beim Verwaltungsjuristen nicht in erster Linie die Sprachfertigkeit, sondern der schriftliche Ausdruck, und nicht die Schnelligkeit, sondern wissenschaftliche Gründlichkeit. Ähnlich verhält es sich bezüglich der Freude am Führen und der Arbeit im Team.

Einiges kann man sich im Verlaufe der beruflichen Tätigkeit als Fähigkeit aneignen, anderes muss man als Voraussetzung mitbringen. Ich habe mir deshalb als Direktor im Bundesamt für Justiz mit den mehr als 200 Juristinnen und Juristen die Mühe genommen, bei allen Anstellungen vor dem Entscheid ein persönliches Gespräch zu führen, um sicher zu sein, ob sich das Persönlichkeitsprofil der Bewerber (Eignungen, Neigungen, Stärken, Schwächen, Erfahrungen und Wünsche) auch tatsächlich mit dem Stellenprofil deckt. Selbsterkenntnis und Einsicht in das künftige Berufsfeld sind wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche und erfüllende Betätigung.

Der Wechsel von einem in das andere Berufsfeld ist durchaus möglich. So haben viele meiner Kollegen aus der Rechtsabteilung in Führungspositionen des Managements gewechselt, nur wenige in die Advokatur. Hingegen haben sich viele jüngere Advokaten, die ohne besondere Affinität in diesen Beruf gestartet sind, nach ein paar Jahren für eine feste Anstellung in Industrie und Verwaltung beworben; aus Einsicht, nicht aus Not. Generell lässt sich sagen, dass die wissenschaftlich und politisch Interessierten in der Regel bei ihrer angestammten Betätigung bleiben (Lehre und Forschung, Verwaltung, Verbandswesen usw.), während viele in der Advokatur als «Juniors» beginnen, dann aber nach einigen Jahren ein neues Betätigungsfeld suchen.

Xecutives.net: Eine grosse Zielsetzung der Rechtsabteilung in einem Unternehmen besteht darin, die Risiken für das eigene Unternehmen, unter Beachtung sämtlicher Unternehmensbereiche, zu senken oder gar vollständig zu elimineren, wogegen der externe Anwalt in aller Regel fallbezogen das Beste aus einer Rechtsstreitigkeit machen soll. Ihr Kollege Prof. Dr. iur. Rolf Watter meinte im Interview im Rahmen des vorgenannten Buches, dass die Arbeit eines Anwalts oder Unternehmensjuristen in einem Unternehmen auch völlig irrelevant sein kann, was für einen Juristen ernüchternd sein kann. Es kann sein, dass ein Unternehmen und dessen Führung aus gegebenen Gründen eben einen Fall überhaupt nicht aus der juristischen Perspektive heraus betrachtet, sondern sich für einen Weg ganz ohne rechtliche Aspekte entscheidet. Indem man bspw. in einem Schadenfall Geld bezahlt, obwohl man das rechtlich nicht müsste.

Heinrich Koller: Natürlich kann es frustrierend sein, wenn man im Entscheidungsprozess übergangen wird. Wer in der Beratung tätig ist, muss sich jedoch von Anfang an bewusst sein, dass er oder sie nicht selbst entscheidet. Die Verantwortung für den Entscheid, mithin auch für die Konsequenzen, tragen andere; als Berater ist man lediglich für die richtige und vollständige Aufklärung über die rechtlichen Probleme, Risiken und alternative Lösungen zuständig.

Ich habe während meiner Zeit als Rechts- und Steuerkonsulent in der chemischen Industrie in Basel erleben dürfen, dass nie gegen das Recht, aber aus übergeordneten Gründen wohl gelegentlich gegen den Rat der Rechtsabteilung entschieden worden ist. Im politischen Umfeld ist die Haltung zum Recht eine leicht andere, nicht bei Rechtsanwendungsakten, aber in der Gesetzgebung, wo das Recht den Politikern «zur Verfügung» steht.

Als Direktor des für die Rechtsberatung und Gesetzgebung zuständigen Amtes in Bundesbern habe ich rasch erkennen müssen, dass viele Stellungnahmen und Anträge aus rechtlicher Sicht berechtigt und richtig waren, aber eben doch nur eine von mehreren Betrachtungsweisen darstellten. Entscheidend ist nicht, dass man recht bekommt, sondern dass man angehört wird, sich einbringt (notfalls auch gegen Widerstand), auf die Risiken hinweist und – zwingend – Alternativen aufzeigt. Bei meinem letzten Bundesrat (namens Blocher) waren die geprüften Alternativen meistens ebenso wichtig wie der Antrag selbst; bei einem blossen «nein» oder «geht so nicht», musste man jedenfalls nicht lange auf eine Antwort warten.

Das ist die subjektive Seite der Bemerkung meines Kollegen Watter, aber es gibt auch eine objektive Betrachtungsweise: Wer aus Kostengründen auf eine seriöse Prüfung der Rechtsfragen und auf einschlägige interne oder externe Rechtsberatung verzichtet, denkt sehr, sehr kurzfristig. Das kann das Unternehmen oder die Verwaltungsstelle langfristig teuer zu stehen kommen. Man denke etwa an die horrenden Strafzahlungen der Grossbanken in den vergangenen Jahren, die Folgen von amerikanischen Sammelklagen bei Umwelt- und Gesundheitsschäden oder die lähmende Dauer von Prozessen vor höheren Gerichten. Die Rechts- und Compliance-Abteilungen müssen deshalb mutig, hartnäckig, ja penetrant auftreten und ihre Meinung vertreten.

Heinrich Koller mit den Bundesräten Joseph Deiss und Christoph Blocher (2006)
Heinrich Koller mit den Bundesräten Joseph Deiss und Christoph Blocher (2006)

Xecutives.net: Ich selber beobachte bei Assessments von Rechtsabteilungen im europäischen Raum immer wieder, wie Rechtsabteilungen nur ungenügend geführt werden, nicht etwa vom General Counsel, sondern vom Management der Unternehmen. Es fehlt an klaren Zielen und Budgetvorgaben. In Sachen wertschöpfende Aktivitäten in der Rechtsabteilung selbst, erkenne ich gerade im Industriesektor Nachlässigkeiten, die sich in grossen Schäden für das Unternehmen auswirken können. Es kommt vor, dass eine Rechtsabteilung, oder gewisse Bereiche derselben, zu reinen Gutachterabteilungen werden. Dagegen erkenne ich, dass andere Abteilungen oft mit harter Hand geführt werden und es werden Strategien und messbare Resultate gefordert.

Heinrich Koller: Das liegt in der Natur der Sache. Man kann zwar die Anzahl rechtlicher Begutachtungen über die Jahre in etwa einschätzen (Anzahl Lizenzverträge, Gutachten, Steuerfälle), nicht aber die kostspieligen grossen Fälle (Akquisitionen, Fusionen, Klagen usw.). Das heisst aber nicht, dass man deswegen die Rechtsabteilungen nicht führen könnte oder sollte. Jede Abteilung müsste Ziel- und Budgetvorgaben haben, denn es lässt sich durchaus planen, ob man die Struktur eines Konzerns (Stammhaus- oder Holdingstruktur), die Einheitlichkeit der Vertragsgestaltung, die Weiterbildung, Reisen usw. jetzt oder später vorantreiben will.

Die durchschnittliche zeitliche Belastung der Mitarbeitenden bzw. die Zahl der (angeordneten) Überstunden können einen Hinweis darauf geben, wie es um den Arbeitsanfall steht – vorausgesetzt natürlich, es werde von der Führung angemessen kontrolliert. Schwieriger dürfte es hingegen sein, den realen Nutzen (oder mit Ihren Worten die Wertschöpfung – ein Begriff aus der Geldwirtschaft) zu messen. Die Kosten der Rechtsabteilung sind «Gemeinkosten», die wie der «Overhead» (der «Verwaltungsapparat» einer Unternehmung) nur beschränkt mess- und zuteilbar sind. Die wirtschaftliche «Wertschöpfung» der Rechtsabteilung für das Unternehmen oder einer Anwaltskanzlei für die Gesellschaft zu bestimmen, fällt freilich nicht einfach, vermutlich ebenso schwer, wie die Bestimmung des Nutzens einer Gemeindebibliothek oder des Personalrestaurants.

Nun gilt es allerdings wieder zu differenzieren. Im Bundesamt für Justiz zum Beispiel gab es sehr wohl eine detaillierte Jahresplanung und budgetäre Vorgaben. Man kannte den Grundstock an jährlich durchschnittlich zu behandelnden Beschwerden oder von parlamentarischen Vorstössen und den Stand der laufenden Gesetzesvorhaben bzw. der Grund von Verzögerungen. Neue Gesetze oder Rechtshilfeverträge wurden in enger Absprache mit dem Departementsvorsteher geplant, priorisiert und an die Hand genommenen, ebenso musste der Personaletat jährlich einer Überprüfung standhalten – ein schwieriger Prozess.

Xecutives.net: Ich würde gerne noch einmal auf die „Wertschöpfung“ zurückkommen. Bleiben wir im Industriesektor: Wenn die Führung der Rechtsabteilung die unternehmerisch eingeschlagene Richtung und Strategie mit ihren Risiken und Schadenpotentialen nicht versteht, sie nicht unternehmerisch denken und handeln kann, wird sie erfahrungsgemäss nicht die richtigen Vorkehrungen zur Besserung und für den Erfolg beitragen können. Sie mag zwar rechtlich denken, nur wirkt sich das Gedachte nicht effektiv im Sinne eines Unternehmens aus. Hier sehe ich in der Praxis grosse Probleme, auch in grossen Rechtsabteilungen.

Heinrich Koller: Da stimme ich Ihnen voll zu. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb in den letzten Jahren die Chefs der Rechtsabteilungen wieder vermehrt Einsitz genommen haben in die Geschäftsleitung. Denn der Jurist muss über die Absichten der Geschäftsleitung bezüglich Ausweitung und Weiterentwicklung der Geschäftstätigkeit, über die Strategien – eigene und jene der Konkurrenz – sowie über die Risiken und das Schadenspotential gewisser Vorhaben informiert sein. Insofern muss er ein fantasievoller «Mitdenker», ein «Alternativen-Denker», ein «Geschäftsfeldentwickler», ein «enabler» (Möglichmacher) sein, um es mit plakativen Worten auszudrücken.

Wer sich in einer Rechtsabteilung nur als Bedenkenträger gebärdet, keine Lösungen erarbeitet und es an einfallsreichen Vorschlägen fehlen lässt, muss sich nicht wundern, wenn der «schöpferische Wert» der Rechtsabteilung verkannt wird und nur das störende Element und die Bremswirkung juristischer Beratung in den Köpfen der Geschäftsleute haften bleibt.

Damit sei nichts gesagt gegen seriöse juristische Begutachtung von Geschäftsvorgängen und gründliche Abschätzung bzw. Vermeidung allfälliger Risiken. Das braucht es; nur kann das auch eine externe Fachstelle. Die inhouse Juristen können und müssen mehr: Sie müssen selbst auch «Unternehmer» (mit spezifischem Wissen) sein. Darin liegt der Wert und die Wertschöpfung der Rechtsabteilung!

Portrait Prof. Dr. iur. et lic. oec. HSG Heinrich Koller
Portrait Prof. Dr. iur. et lic. oec. HSG Heinrich Koller

Xecutives.net: Ein Berufszweig, den Sie sehr gut kennen, ist derjenige des Verwaltungsjuristen. Sie haben seine Arbeiten und Herausforderungen im letzten Interview eingehend beschrieben. Hat sich an der Attraktivität für die Berufswahl an Universitäten – auch des Verwaltungsjuristen – in den vergangenen 20 Jahren etwas geändert?

Heinrich Koller: Durchaus. Das Ansehen des Verwaltungsjuristen ist meines Erachtens in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Gestaltungsmöglichkeiten in der Begutachtung und Legiferierung sind gross, die Anforderungen in wissenschaftlicher Hinsicht – vor allem auf Bundesebene – erheblich. Nicht umsonst sind Staatsstellen bei jungen Akademikern mit Interesse an Lehre und Forschung begehrt. Während meiner Amtstätigkeit in Bern sind über ein Dutzend Mitarbeitende an Universitäten berufen worden, und fast alle Direktionsmitglieder waren nebenamtlich auch lehrtätig, im Privat- und Strafrecht, im Staats- und Verwaltungsrecht und im internationalen Recht.

Das Bundesamt für Justiz mag in dieser Hinsicht zwar speziell sein, doch sind auch auf kantonaler Ebene regelmässig viele interessante und bedeutsame Stellen ausgeschrieben. Das Beamtentum ist abgeschafft, die früher üblichen Witze verklungen. Es braucht keine Corona-Pandemie mehr, um die Unentbehrlichkeit und den Wert einer qualifizierten Verwaltung hervorzuheben.

Xecutives.net: Es ist zweifelsohne so, dass gewisse Themen heute von Universitäten, aber auch gerade von Fachhochschulen, gefördert werden, so auch Themen der Digitalisierung, die sicher an Bedeutung weiter gewinnen werden. Wo sehen Sie Möglichkeiten, den Beruf des Unternehmens- bzw. Verwaltungsjuristen, bei Jus-Studierenden besser bekannt zu machen und die Förderung entsprechender Interessenten an Universitäten zu verbessern?

Heinrich Koller: Es ist von mir aus gesehen zwingend nötig, die Absolventen des Jus-Studiums besser auf die Vielfalt der möglichen Betätigungen und ihren Berufseinstieg vorzubereiten. Die Stellensuchenden sind entgegen den Zielen des Bologna-Systems und wegen der Eigenfinanzierung ihres Studiums nicht jünger geworden. Deshalb ist es auch aus ökonomischen Gründen nicht zu verantworten, die Bewerber irgendwo «auflaufen» zu lassen. Ich erachte es deshalb als notwendig, im Masterstudiengang externe Fachleute aus den verschiedenen Berufen zu Worte kommen zu lassen und in einem ein- bis zweitätigen obligatorischen Seminar am Ende des Lehrgangs die Einsicht in die Anforderungen der jeweiligen Berufszweige zu vertiefen.

Empfehlenswert ist auch die Absolvierung von mehreren Praktika, ein Auslandaufenthalt und das Gespräch mit erfahrenen Berufsleuten. Man scheue sich nicht, Verantwortliche in Industrie und Verwaltung, an Gerichten und in Anwaltskanzleien, um Rat anzugehen; man wird nicht zurückgewiesen werden!

Xecutives.net: Sehr geehrter Herr Koller, ich bedanke mich für dieses Interview, die stets guten Gespräche und interessanten Erfahrungsaustausche und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute!

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