Ralf Niesel, 1964, erlernte nach einigen Semestern Physik-Studium an der Universität in Ulm (D) das Handwerk des Klavierbauers und setzt sich seit über 20 Jahren mit dem Verkauf, der Reparatur und dem Unterhalt von Tasteninstrumenten auseinander. Seine Karriere führte ihn zu einer grossen Anzahl Klavier- und Flügelherstellern auf der Welt, darunter Namen wie Bechstein, Steinway und Fazioli, um nur einige exquisite Klavier- und Flügelmarken zu nennen. Ralf Niesel leitet seit 2002 das Musikhaus Jecklin in Zürich und berät Kunden bei der Wahl von Tasteninstrumenten. Was unterscheidet ein modernes Klavier von einem Instrument, das von Wolfgang Amadeus Mozart gespielt worden ist? Was zeichnet einen Steinway-Flügel aus, der 190’000 Franken kostet? Was sind die Erwartungen von Spitzenpianisten an den Klavierbauer und Klavierstimmer? Warum werden in der Schweiz, aber auch in vielen anderen Ländern, keine Klaviere und Flügel mehr gebaut? Ralf Niesel beantwortet nach diversen Xecutives.net-Interviews mit Spitzenmusikern auf der ganzen Welt Fragen zum Thema Flügel und Klavier und erlaubt uns einen Blick hinter die Show-Bühne.
Dueblin: Herr Niesel, mir scheint, dass wir in Bezug auf ein Klavier oder einen Flügel, mit dem schon jeder irgendwo in Kontakt gekommen ist, generell nur ganz wenig verstehen. Auf einem modernen Flügel lastet auf den Saiten eine hohe Spannung, die sich auf rund 150’0000 – 210’0000 Newton summiert, was der Gewichtskraft von 5 bis 8 Rolls Royce-Limousinen entspricht. Das ist eine enorme Spannkraft, die nur dank besten Materialien und Spitzentechnik möglich ist.
Ralf Niesel: Die Spannung aufzunehmen alleine ist Dank der Verwendung von Grauguss nicht allzu schwierig. Diese enormen Zugkräfte jedoch so zu stabilisieren, dass beim Transport oder gar nur beim Verschieben des Flügels nicht massive Veränderungen mit Auswirkungen auf Stimmung und/oder die Regulation auftreten, ist nur durch eine ausgeklügelte Verbindung von Holzspreizen (Raste) und der Gussplatte möglich. Dass die dabei verwendeten Materialien perfekt ausgewählt und verarbeitet werden müssen, sind weitere unabdingbare Voraussetzungen.
Dueblin: Was unterscheidet einen Flügel, auf dem heute beispielsweise Mozart gespielt wird, vom originalen Instrument, dem Hammerklavier, das diesem Genie im 18. Jahrhundert zur Verfügung stand?
Ralf Niesel: Der prägnanteste Unterschied dürfte in den dynamischen Möglichkeiten liegen. Moderne Instrumente können aufgrund der viel massiveren Bauweise eine deutlich grössere Klangenergie entwickeln und sind somit ebenbürtige Partner zu Orchestern. Die heutigen Instrumente tragen ihren Klang auch in die hintersten Ränge der Konzertsäle mit vielen hundert Plätzen. Ein weiterer Unterschied ist der grössere Tonumfang des modernen Flügels. Hammerflügel aus der Zeit Mozarts umfassten 4 1/2 bis 5 Oktaven; ein modernes Piano 7 1/4 Oktaven. Das entspricht rund 30 Tasten mehr.
Dueblin: Die Preise der Instrumente bewegen sich zwischen einigen Tausend Franken bis hin zu den Kosten eines gehobenen Ferraris. Was macht ein so teures Instrument aus?
Ralf Niesel: Zeit ist ein wichtiger Faktor bei der Produktion von Spitzenflügeln. In der Regel vergehen vom ersten Handstreich bis zu dem Tag, an dem der edel glänzende Flügel das Werk verlässt circa zwei Jahre. Die erlesenen Materialien werden noch heute zu einem sehr grossen Teil von Hand bearbeitet. Damit ein Maximum an Zuverlässigkeit und Langlebigkeit erzielt werden kann, sind nach einzelnen Arbeitsschritten immer wieder Ruhezeiten einzuplanen, um beispielsweise die Holzfeuchte auszugleichen oder Verspannungen abzubauen. Regulations- und Intonationsschritte müssen bei einem Spitzenflügel mehrfach wiederholt werden. Nur so erreicht man höchstmögliche Stabilität in den natürlichen Materialien Holz, Filz und Leder.
Dueblin: Anfang des letzten Jahrhunderts gehörte in den meisten Haushalten ein Klavier zum Inventar einer gepflegten Wohnung oder eines gepflegten Hauses. 1900 gab es in Europa unzählige Klavierhersteller. Das hat sich seither sehr geändert. Was beobachten Sie heute auf dem Markt?
Ralf Niesel: Die Musik und das aktive Musizieren spielen in vielen Familien noch immer eine sehr wichtige Rolle. Die steigenden Schülerzahlen an den Musikschulen zeigen die Bedeutung, die der Musik in der Erziehung beigemessen wird. Bei den „Wunschinstrumenten“ steht das Klavier zusammen mit der Geige seit Jahren an der Spitze. Darum finden sich auch in vielen Haushalten Klaviere. Den Herstellern zu schaffen macht sicher die hohe Lebensdauer eines guten Pianos, welches oft über Generationen weitergegeben wird oder die „Konkurrenz“ der elektronischen Tasteninstrumente. Wer also ein gutes Instrument hat, kauft nicht so schnell wieder ein neues.
Dueblin: Die meisten Klaviere und Flügel kommen heute aus Asien. Wie ist das zu erklären und wo können wir in Europa bei der Produktion dieser Instrumente noch mithalten?
Ralf Niesel: Die Verlagerung nach Asien ist, wie bei vielen Produkten, über den hohen Lohnkostenanteil bei der Herstellung zu erklären. Diese Instrumente entsprechen aber oftmals nicht dem klanglichen Empfinden resp. den klanglichen Ansprüchen und Wünschen der Kunden. Sofern der finanzielle Rahmen es zulässt, werden meist die Instrumente, die in unserem Kulturkreis produziert werden, bevorzugt. So ist es auch zu erklären, dass beispielsweise Fazioli vor knapp 30 Jahren den Einstieg in die Produktion mit einem Spitzenprodukt „made in Italy“ wagen konnte. Fazioli gehört heute zur Spitze der Flügelbaukunst.
Dueblin: Warum hat die Schweiz im Klavier- und Flügelbau eine einst gute Stellung auf dem Markt verloren?
Ralf Niesel: Die Schweizer Hersteller produzierten zu sehr mit dem Fokus auf den mittleren Qualitätsbereich. Gerade hier war die Anzahl der Mitbewerber im europäischen Markt sehr gross. Die höheren Standortkosten in der Schweiz konnten im Wettbewerb nicht durch das Kriterium „swiss-made“ kompensiert werden. Zusätzlich wurden die relativ kleinen Produktionen (Burger & Jacobi baute als grösster Schweizer Hersteller in den besten Jahren rund 800 Klaviere) durch günstigere Instrumente aus Japan bedrängt. Yamaha als Vergleich, baute in den besten und stärksten Jahren bis zu 200’000 Klaviere und Flügel. Mit der Schliessung der Firma Sabel im Jahr 1992 endete die Klavierproduktion in der Schweiz.
Dueblin: Spitzenpianisten wie Grigory Sokolov oder Helene Grimaud stellen allerhöchste Anforderungen an die Instrumente, die ihnen für Konzerte zur Verfügung stehen. Selten nehmen Künstler auch ihre eigenen Instrumente mit zu den Konzerten. Sie haben mit vielen Pianisten zusammengearbeitet. Jedes Instrument scheint wie eine Füllfeder gewisse Charakteristiken aufzuweisen, die einem Künstler liegen oder eben nicht. Was erwartet ein Spitzenklavierspieler von Ihnen, wenn er hier in der Schweiz auf einem Instrument ein Konzert gibt?
Ralf Niesel: Sie wollen ihr Programm bestmöglich interpretieren und suchen somit nach „DEM“ Instrument, welches sie hierbei perfekt unterstützt. Je nach Programm müsste man somit für einen Klavierabend unterschiedliche Flügel auf dem Podium zur Verfügung stehen haben. Daher wünschen sich die meisten Pianisten zunächst eine Auswahlmöglichkeit unter mehreren Flügeln. Nach der Auswahl des Flügels wird dann genau abgesprochen, was an Klang und Spielart noch individuell eingestellt werden soll. Manchmal handelt es sich nur um Kleinigkeiten. Es kann aber auch vorkommen, dass die Konzerttechniker kleine Wunder vollbringen müssen (lacht).
Dueblin: Es kommt mir dabei die bekannte Geschichte mit dem Jazz-Pianisten Keith Jarrett in den Sinn, der 1975 in Köln ein Konzert geben sollte. Es gab bis kurz vor seinem Auftritt Probleme mit einem Flügel und man musste auf ein altes Instrument ausweichen, auf dem er vorerst nicht spielen wollte. Er tat es nach langem hin und her dann doch und das Konzert wurde trotz mangelhaftem Flügel legendär.
Ralf Niesel: (Lacht) Stellen Sie sich vor, er hätte das Konzert abgesagt! Das müsste heute als grosser musikalischer Verlust gewertet werden. Dieses Konzert hat heute für viele Klavierliebhaber Kultstatus. Die Verantwortung, die auf den Veranstaltern von Konzerten aber auch auf den Technikern lastet, ist enorm. Gerade direkt vor den Konzerten ist die Anspannung bei den Künstlern meist sehr gross und sie können auf Störungen empfindlich reagieren. Ein perfekt für den Pianisten vorbereiteter Flügel gibt Sicherheit. Diese Sicherheit müssen wir Techniker gewährleisten.
Dueblin: Sehr interessant scheint mir die Tatsache zu sein, dass man beim Stimmen eines Klaviers oder eines Flügels nicht rein technisch vorgehen kann. Es reicht nicht aus, die einzelnen Töne gemäss elektronischen Apparaturen zu stimmen. Dieses rein mathematische oder physikalische Stimmen würde für unser Ohr falsch tönen. Zudem weichen viele Akkorde minimal mathematisch ab und tönen erst so für unser Ohr harmonisch. Wie lassen sich diese Phänomene erklären?
Ralf Niesel: Wir sprechen hier von der Inharmonizität der Saite. Beim Anschlagen einer Taste entsteht nicht nur ein Ton mit einer Frequenz, sondern ein Klang aus Grundton und vielen Obertönen. Mathematisch verhalten sich die Obertöne bei den Frequenzen in Vielfachem zum Grundton. Die Oktave zum Beispiel hat rechnerisch die doppelte Schwingungszahl des Grundtons. Aufgrund der Versteifung der Saiten in den Begrenzungspunkten verschieben sich die Obertöne um Bruchteile nach oben. Über die 88 Töne ergibt sich so eine summierende Verschiebung gegenüber den rechnerischen Werten. Die Stimmer sprechen hier auch von Spreizung.
Da jedes Instrument (auch identischer Bauweise) unterschiedlich starke Ausprägungen der einzelnen Obertöne zeigt, muss diese Spreizung von Instrument zu Instrument angepasst werden. Schliesslich kommt dann noch der Faktor „Ohr“, der eine Rolle spielt: Wir alle nehmen Töne und Klänge unterschiedlich wahr. Darum stimmen auch zwei Konzerttechniker nie exakt gleich.
Dueblin: Ein Flügel in einem Konzertsaal „atmet“ und kann sich während eines Konzertes verändern. Im Extremfall kann der Flügel kollabieren, d.h. die Stimmung nimmt rapide ab und der Flügel verliert seine harmonische Form. Wie muss man sich das erklären und was tun Sie in einem solchen Moment?
Ralf Niesel: Diese Problematik taucht in grossen Konzertsälen extrem selten auf, da diese meist ihre eigenen Flügel haben und die Instrumente akklimatisiert sind. Heikler wird es, wenn Flügel speziell zu Konzerten angeliefert werden und sich dann auf ein anderes Klima einstellen müssen. Für alle Fälle sitzen die Konzerttechniker auch während der Aufführung im Publikum.
Dueblin: Können Sie uns eine Anekdote schildern, die Ihnen einfällt und die Sie in Ihrem Beruf als Klavierbauer und Klavierstimmer geprägt hat?
Ralf Niesel: (Lacht) Es gibt eigentlich nicht „DIE“ Anekdote. Spannend zu erleben sind die unterschiedlichsten Aussagen von Toppianisten zu ein und demselben Instrument. Erhielt man von einem Künstler beim Feedback-Gespräch das grösste Kompliment zur Klangschönheit und Spielart eines Flügels, kann einen Tag später genau dieser Flügel von einem zweiten Künstler vernichtend beurteilt werden. Ein Ausruhen auf den Lorbeeren gibt es auf dem Podium deshalb nicht. Bei jedem Konzert muss man sich auf neue Herausforderungen einstellen und gefasst machen.
Dueblin: Sehr geehrter Herr Niesel, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg!
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Links
– Homepage vom Musikhaus Jecklin
– Homepage vom Klavier- und Flügelbauer Fazioli
– Homepage vom Klavier- und Flügelbauer Steinway