René Thoma, Jahrgang 1958, ist seit 2009 Meister E.E. Gesellschaft zur Hären, einer der drei alten, traditionellen und nur männlichen Kleinbasler-Bürgern offen stehenden Kleinbasler-Ehrengesellschaften, den sogenannten „Drei E“. Deren Entstehung reicht bis ins Jahr 1304 zurück (erstmalige urkundliche Erwähnung der Gesellschaft zum Rebhaus). Grossbasel und Kleinbasel sind, wie das nur Baslern ganz klar sein kann, nicht dasselbe. Kleinbasel, auf der deutschen Rheinseite gelegen, stand jahrhundertlang im Schatten des grossen Stadtteils auf der Schweizer Seite des Rheins, das von gewerblich orientierten Zünften und einem entsprechenden Grossbürgertum dominiert wurde. In Kleinbasel entwickelten sich im Verlaufe der Zeit eigene Traditionen, von denen einige noch heute gelebt werden. Die mit Abstand wichtigste ist das älteste Brauchtum der Schweiz, der „Vogel Gryff“ und das „Gryffemähli“. Dieser volkstümliche Feiertag erfreut sich auch heute noch auf beiden Seiten des Rheins grosser Beliebtheit. Im Interview mit Christian Dueblin spricht der Meister E.E. Gesellschaft zur Hären, René Thoma, über gesellschaftliche Besonderheiten in Kleinbasel, Unterschiede zwischen Klein- und Grossbasel, erzählt von den Aktivitäten der Gesellschaften und beschreibt deren Tätigkeiten. Nach Jahren der Stagnation in Zünften, Service Clubs, aber auch Logen gelingt es heute auch den Kleinbasler Ehrengesellschaften, einer besonderen Art von sozialen Netzwerken, wieder, auch jüngere Menschen für diese zu begeistern.
Xecutives.net: Herr Thoma, Sie sind derzeit eine der bekanntesten Personen in Kleinbasel. Als vorsitzender Meister der Drei Ehrengesellschaften für 2015 sind Sie in den nächsten Wochen gefordert. Bald werden der Vogel Gryff und das Gryffemähli stattfinden. Das ist mit viel organisatorischem Aufwand und Repräsentationsaufgaben verbunden. Bevor wir dazu kommen, möchte ich Sie fragen, wie Sie diesen traditionellen Kleinbasler-Anlass als Kind und Jugendlicher erlebt haben?
René Thoma: Ich bin in Kleinbasel aufgewachsen und habe mit Ausnahme von drei Jahren, während denen ich aus beruflichen Gründen in Allschwil wohnte, immer in Kleinbasel gelebt. Meine Eltern stammen aus der Ostschweiz und haben sich hier mit dem Ziel, eine Familie zu gründen, niedergelassen. Ich ging hier in den Kindergarten und in die Schule. Jedes Kind in Kleinbasel kannte die Tradition des Vogel Gryff. Mein Vater arbeitete in einem Baugeschäft in Kleinbasel. Er hatte im Auftrag seines Arbeitgebers, eines ehemaligen Statthalters der Ehrengesellschaft zum Greifen, zusammen mit den Wasserfahrern jeweils das Floss auf dem Rhein für den Wild Maa, den Wappenhalter der Ehrengesellschaft zur Hären, gebaut. Die Flossbauer sind als „Stängelimänner“ immer mit auf dem Floss dabei und fahren mit diesem „den Bach runter“, wie wir das im Kleinbasel sagen. Der Stängelimaa ist derjenige, der in einem holzbefeuerten Ofen das Stängeli für die Zündung des Böllerschusses aus der Kanone glühend heiss macht. Für den Abschuss des Böllers sind an jeder Kanone – es hat deren zwei auf dem Floss – ausgebildete Kanoniere verantwortlich. Das Floss wird aus sogenannten Fährbooten als schwimmenden Elementen gebaut. Dabei werden je zwei Boote zusammengeschraubt. Es ergeben sich also daraus zwei Schiffe. Diese werden auf eine Distanz von etwa 3 Metern auseinander gestellt und quer dazu werden Balken an den Schiffen angebunden. Auf diese Balken werden sodann Bretter gelegt und es entsteht eine Bühne von etwa 6 x 6 Metern. Das ganze Floss hat keinen einzigen Nagel. Auf jedem Boot hat es vorne und hinten einen Rudergänger, sprich Wasserfahrer. Diese rudern das Floss den Rhein hinunter, was bei unterschiedlichem Wasserstand gar nicht so einfach ist, zumal das Floss am Schluss ca. 5 Tonnen wiegt!
Als mein Bruder und ich 18 Jahre alte waren, durften wir bereits beim Flossbau helfen und mitfahren, später auch am Gryffemähli teilnehmen. So waren wir mit dem Anlass schon als Kinder und Jugendliche verbunden. Später, als ich etwa 29 Jahre alt war, stellte ich mein Aufnahmegesuch und wurde 1989 in die Gesellschaft zur Hären aufgenommen. Meinem Vater wäre es lieber gewesen, wenn ich in die Gesellschaft zum Greifen aufgenommen worden wäre. Er schenkte mir damals zu Weihnachten wunderbare Manschettenknöpfe mit einer Vogel Gryff-Prägung. Ich hatte beim Aufnahmegesuch keinen Ehrengesellschaft-Wunsch geäussert. Daher wurde ich bei der nächsten Vakanz einfach zugeteilt und diese gab es in der Ehrengesellschaft zur Hären. Ich war zufrieden mit der Aufnahme in die Gesellschaft zur Hären, deren Mitglied ich nun seit bald 30 Jahren bin, zumal ich mich aufgrund des Flossbaus mit dem Wappenhalter, dem Wilden Mann („Wild Maa“), sehr verbunden fühlte. Heute sind es im Übrigen meine drei Söhne, die beim Bau des Flosses helfen und die dadurch ebenfalls in einer besonderen Beziehung zu dieser Tradition leben.
Xecutives.net: In Grossbasel gab es renommierte Zünfte, die gewisse Berufsgruppen vereinigten, und in Kleinbasel sind die Ehrengesellschaften entstanden. Was ist der historische Hintergrund dieser Ehrengesellschaften? Woher stammen sie und was verbindet sie heute?
René Thoma: Früher waren die einzelnen Gesellschaften unabhängig voneinander tätig. Auch heute noch sind die Drei Ehrengesellschaften unabhängig. Jede Ehrengesellschaft hat ihr Wappen. Bei der Gesellschaft „zur Hären“ ist es eine Häre, ein Vogelfangnetz. Der Schildhalter des Wappens ist der Wild Maa. Bei der Gesellschaft „zum Greifen“ ist es ein weisses Kreuz auf blauem Grund. Schildhalter hier ist der Vogel Gryff. Bei der Gesellschaft „zum Rebhaus“ besteht das Wappen aus einem Rebmesser auf grünem Grund. Schildhalter ist der Leu.
Bei der Gesellschaft zur Hären waren vor allem Jäger und Fischer sowie niedrige Adlige mit dabei. Später kamen auch Handwerker dazu. In der Gesellschaft zum Greifen waren vor allem Menschen, die den Basler Klöstern nahe standen. Die Gesellschaft hiess ursprünglich Gesellschaft „zum Baum“, dies aufgrund des Namens ihres Gesellschaftshauses. In der Gesellschaft zum Rebhaus waren Rebleute (Winzer) und Bauern vereint.
Der Grund für die Entstehung der Gesellschaften liegt einerseits im Bau der Mittleren Brücke über den Rhein 1225, die Gross- und Kleinbasel verband. Damit wurde es nötig, die Brücke auf der Kleinbaselseite zu bewachen. Anderseits ging es darum, das Bedürfnis nach Einigung und gegenseitiger Hilfe zu befriedigen. Zudem ging es darum, die Geselligkeit zu pflegen. Die Gesellschaften hatten zahlreiche Aufgaben, so z.B. die Befestigung und Bewachung der Stadt, Truppenbildung im Kriegsfall, Gewährleistung der inneren Sicherheit, Achten auf Feuersgefahr, Aufsicht über Weidgang, Weinlese und Ernte von Nüssen und vieles andere mehr. Wir gehen davon aus, dass die Gesellschaften etwa so alt sind, wie die Zünfte im Grossbasel. Sie gehen auf die Mitte des 13. Jahrhunderts zurück.
Xecutives.net: Zentraler Anlass ist der jährlich stattfindende Vogel Gryff, der sich grosser Beliebtheit in der Bevölkerung erfreut. Zehntausende von Menschen finden sich im Januar in Basel ein, um den Anlass mit zu verfolgen. Was hat es mit dem Anlass historisch auf sich?
René Thoma: Der heute noch sehr bekannte Vogel Gryff war ein Rekrutierungs- und Wehrschauanlass. Es wurden am Vogel Gryff Waffen inspiziert und Männer für den Militärdienst rekrutiert. Die Gesellschaften haben das an unterschiedlichen Daten gemacht. Die Gesellschaft zum Rebhaus organisierte sich jeweils am 13. Januar, am 20. Januar die Gesellschaft zur Hären und am 27. Januar die Gesellschaft zum Greifen. Diese Daten haben sich über Jahrhunderte gehalten und heute findet der Vogel Gryff verbunden mit dem Gryffemähli immer abwechselnd an einem dieser Daten statt. Fällt einer der Daten auf einen Sonntag, wird der Anlass jeweils auf einen Samstag vorverlegt. Der Vogel Gryff ist somit, ähnlich wie die Basler Fasnacht, eine sehr alte Tradition, die rund 750 Jahr zurückreicht.
Während dem Vogel Gryff sind vier „Uelis“ unterwegs, die Geld sammeln. Mit diesem Geld wurden früher und werden auch heute noch minderprivilegierte Menschen unterstützt. In erster Linie werden Heizkosten und Schuhe bezahlt. Weiter werden gemeinnützige Institutionen, vor allem in Kleinbasel, unterstützt. Seit rund 25 Jahren sammeln zudem in der Adventszeit drei Hirten am Claraplatz Geld für gemeinnützige Projekte. Früher gab es übrigens nur drei Ueli, für jede Gesellschaft einen. Nach dem 2. Weltkrieg ist ein vierter dazu gekommen, damit für die notleidende Bevölkerung mehr gesammelt werden konnte.
Xecutives.net: Ein jährliches Highlight ist der Tanz des „Wild Maa“ auf dem Rhein, der auf besagtem Floss, wie man so schön sagt, „bachab schwimmt“.
René Thoma: Der Vogel Gryff startet für die Zuschauer um 10:30 Uhr beim Horst, oberhalb der Schwarzwaldbrücke, bei einem Fischergalgen. Vorher treffen sich die Vorgesetzten und das „Spiel“ der drei Ehrengesellschaften mit den Ehrengästen zum traditionellen „Läberliessen“ im Stammhaus, dem Café Spitz. Der Horst ist uns von einem Gesellschaftsbruder vor einigen Jahrzehnten geschenkt worden. Das Floss startet also beim Horst und auf ihm befindet sich der Wild Maa mit zwei Tambouren und zwei Bannerherren. Die Tambouren trommeln den Rheinabmarsch, der Wild Maa verneigt sich und tanzt nur für die Zuschauer in Kleinbasel. Grossbasel kehrt er immer den Rücken zu. Er landet beim Kleinen Klingental. Dort warten der Vogel Gryff und der Leu auf ihn und es findet der erste gemeinsame Tanz statt. Diese Gestalten tanzen, umgeben von den sammelnden Uelis, bis in die Nacht hinein. Der letzte Tanz findet dann im Stammhaus der Ehrengesellschaften statt.
Die Ehrengesellschaften schaffen es mit diesem und auch anderen Spenden-Engagements, jährlich mehrere Zehntausend Franken zusammen zu bekommen. Letztes Jahr waren es fast 80‘000 Franken, die gesammelt und für soziale Zwecke verteilt worden sind.
Xecutives.net: Die Drei Ehrengesellschaften Kleinbasels, die für den Vogel Gryff verantwortlich sind, sind soziale Netzwerke, ähnlich Zünften oder Logen. Wie sind die Gesellschaften aufgebaut, was sind ihre Eigenheiten und wie kann man Mitglied werden?
René Thoma: Man bewirbt sich heute bei allen Ehrengesellschaften, ähnlichen Prinzipien folgend, wie sie auch in Zünften, Service Clubs und Logen vorzufinden sind. Soweit möglich wird heute auf die Wünsche betreffend die Zugehörigkeit zu einer der drei Gesellschaften eingegangen. Jede Gesellschaft hat 150 Mitglieder, die Brüder genannt werden. Die Zahl 150 hat sich aus rein praktischen Gründen ergeben. Es ist in Kleinbasel nicht ganz einfach, Säle in Restaurants oder Hotels zu finden, die 150 Menschen aufnehmen und in denen so viele Menschen bewirtet werden können.
Für die Aufnahme müssen diverse Kriterien erfüllt werden. Der Bewerber muss 18 Jahre alt sein, mindestens seit zwei Jahren in Kleinbasel wohnen oder hier Grundeigentum besitzen und er muss Basler Bürger mit einem tadellosen Leumund sein. Wir verlangen von den Interessenten einen Strafregisterauszug. Vor der Aufnahme finden Gespräche zwischen den Interessenten und den Vorgesetzten statt. Jede Gesellschaft hat sieben Vorgesetzte. Einer dieser sieben Vorgesetzten ist der Meister. Er hat einen Stellvertreter, den Statthalter. Ausserdem gibt es einen Schreiber und vier weitere Vorgesetzte.
Xecutives.net: Die Meister der Drei Ehrengesellschaften wechseln jährlich mit dem Vorsitz ab. Im Jahr 2015 werden Sie diese Vorsitzfunktion übernehmen. Wie wird man Vorsitzender aller Gesellschaften und mit welchen Aufgaben ist das Amt verbunden?
René Thoma: Im Jahr 2009 wurde ich als Meister meiner Gesellschaft gewählt. Der Meister wird für 6 Jahre gewählt und jedes Jahr übernimmt einer der drei Meister den Vorsitz für alle drei Gesellschaften. 2015 habe ich die Ehre, diesen Vorsitz übernehmen zu dürfen. Der vorsitzende Meister übernimmt diverse organisatorische Aufgaben und muss u.a. auch Reden halten. Mein Vorgänger hatte dieses Amt 15 Jahre inne. Die Hauptsache, mit der der vorsitzende Meister beschäftigt ist, sind natürlich der Vogel Gryff und das Gryffemähli. Der Anlass muss jeweils im Vorjahr organisiert werden. Es müssen viele Reservationen vorgenommen werden, es werden Ehrengäste angefragt und eingeladen und der vorsitzende Meister darf eine Rede halten.
Nur am Vogel Gryff und am Gryffemähli sind alle Gesellschaften zusammen vereinigt. Im Laufe des Nachmittags tritt das Spiel im Saal, wo das Gryffemähli stattfindet, auf. Es ist dies sicher der wichtigste Programmpunkt nebst der Meisterrede. Zudem tritt die 3E-Clique und unser Chor auf und es werden Gastreden gehalten, Ehrungen ausgesprochen, Neuaufnahmen durchgeführt und der vorsitzende Meister muss Bericht erstatten über Mitglieder, die verstorben sind, um nur einige Aufgaben zu nennen.
Der Hauptanlass für die Bevölkerung ist aber der Umgang des Spiels bis tief in die Nacht hinein. Die drei „Tiere“ tanzen jeweils an unterschiedlichen Orten im Kleinbasel vor den Vorgesetzten. Jeder Vorgesetzte bekommt mindestens einen Tanz aller drei Tiere vorgeführt. Dies gilt als Dank an die Vorgesetzten für die geleistete Arbeit. Zudem gibt es Tänze nur für Kinder und andere Persönlichkeiten oder Institutionen, die sich um Kleinbasel oder unsere Stadt verdient gemacht haben.
Xecutives.net: In den Medien beliebt, ist die Auseinandersetzung mit den Ehrengästen, die teilweise sehr prominent sind. Jedes Jahr fragt man sich, wer an die Reihe kommt. Sie dürfen sich natürlich im Vorfeld des Vogel Gryff nicht über die Ehrengäste äussern, die dabei sein werden. Wer aber sind in der Regel die Menschen, die eingeladen und damit von den Drei Ehrengesellschaften geehrt werden?
René Thoma: Am 20. Januar 2015 um 13:00 Uhr werden ihre Namen auf unserer Website (www.vogel-gryff.ch) veröffentlicht. Die Ehrengäste müssen eine besondere Leistung vollbracht haben und sie müssen selbstverständlich ehrenwert sein. Man versucht, aus den verschiedensten Gesellschaftszweigen Menschen zu gewinnen. Unter den Ehrengästen finden sich oft auch Politiker. Fast alle Bundesräte waren bei uns zu Gast. Auch Nationalratspräsidenten, Regierungsräte und Grossratspräsidenten werden angefragt, aber auch interessante Menschen aus Wirtschaft, Wissenschaft, der Welt des Sports, Kunst und Kultur, Kirche und Militär. Bundesrat Ueli Maurer, Bernhard Russi, Arthur Cohn, Severin Schwan, Gigi Oeri, Benjamin Huggel und Daniel Vassella waren schon bei uns, um nur einige Namen von Ehrengästen aus der Vergangenheit zu nennen.
Xecutives.net: Wie bei vielen anderen Netzwerken, vor allem auch Zünften und Logen, geht es den Drei Ehrengesellschaften auf der einen Seite um die Wahrung der Tradition. Auf der anderen Seite müssen sich die Gesellschaften mit dem Jetzt und Heute auseinandersetzen. Stecken diese Aspekte in Ihrem Thema Vision, über das Sie dieses Jahr sprechen werden?
René Thoma: Ja, das ist für mich ein ganz grundsätzliches Thema. Für mich ist die Wahrung von Traditionen ein wichtiger Punkt. Tradition hat auch bei uns mit Identifikation und Zugehörigkeit zu tun. Die Mitglieder der Ehrengesellschaften sind alle auf besondere Weise mit Kleinbasel verbunden und wir versuchen, Traditionen aufrechtzuerhalten, die Hunderte von Jahren alt sind. Dabei geht es darum, gewisse Sachen zu bewahren und aufzuzeigen, woher wir kommen und was unsere Vorfahren machten. Meine Vision ist es, Alt und Jung zusammenzubringen, eine grosse Herausforderung. Seit meiner frühen Jugendzeit bin ich in Sachen Jugendwerk und Jugendarbeit tätig und habe in meinem Leben bestimmt 70 Jugendlager geleitet. Die Zusammenarbeit mit der nachfolgenden Generation war für mich immer wichtig, nicht nur privat, sondern auch in den Gesellschaften und im Beruf als Ingenieur.
Ich sehe die Beschäftigung mit der nächsten Generation aber nicht nur für die Ehrengesellschaften als wichtig an, sondern für die Gesellschaft ganz generell. Es ist schade, dass die verschiedenen Generationen oft nicht voneinander profitieren können und aneinander vorbei leben. Dabei gäbe es so viel Gemeinsames, das man anpacken könnte. In Basel sind rund 5000 Zunft- und Gesellschaftsbrüder aktiv. Die Mitglieder – Alte und Junge – haben dort das Privileg, sich einfach und unkompliziert mit andern Generationen auseinandersetzen zu können. Es gibt eine junge Generation, die gerne etwas anpacken will, der aber oft das Geld oder/und das Netzwerk fehlt, um gewisse Sachen umsetzen zu können. Dann haben wir die Generation, die wirtschaftlich am Hebel ist und dadurch in der Politik und in der Gesellschaft Einfluss nehmen kann. Schliesslich gibt es eine ältere Generation, die über grosses Wissen, viel Lebenserfahrung und oft auch über Geld verfügt. Wenn man diese Generationen für gewisse Projekte zusammenbringen kann, ist das wunderbar. Die Ehrengesellschaften haben gezeigt, dass sie das Fundament für solche Zusammenarbeiten sein können. Ich könnte Ihnen über zahlreiche Projekte berichten, die zeigen, wie diese Generationen miteinander am selben Strang ziehen können. Als Meister kann ich in Bezug auf diesen Kontakt zwischen den Generationen Einfluss nehmen. Ich bin mir sicher, dass es genügend Menschen gibt, die gute Ideen haben. Darum bringe ich, wenn ich etwas sehe oder angefragt werde, Menschen zusammen. Ich ermuntere ältere Menschen, zuzuhören und zeige jüngeren Menschen, dass sie keine falsche Scheu haben müssen und sich trauen sollen, auf die ältere Generation zuzugehen. Manchmal reicht auf beiden Seiten ein kleiner Schubser…
Xecutives.net: Es ging den Gesellschaften lange Zeit ähnlich wie Zünften, Service Clubs und Logen, die überalterten. In den letzten Jahren ist es aber offenbar gelungen, wieder jüngere Menschen für ihre Traditionen gewinnen zu können, was die langen Wartelisten der Drei Ehrengesellschaften zeigen. Wie beurteilen Sie diesen Wandel? Hat er mit der Offenheit der Gesellschaften zu tun, oder ist es die Suche nach Beständigkeit und Traditionen, die bei Jüngeren wieder „in“ sind?
René Thoma: Es spielt beides eine Rolle. Die Gesellschaften sind Neuem und Modernem gegenüber aufgeschlossen und in der Gesellschaft kann festgestellt werden, dass Menschen sich in einer schnelllebigen und oft wenig nachhaltigen Welt wieder Traditionen zuwenden. Es ist aber nicht so, dass wir nur den Traditionen nachhängen würden. Es geht einfach darum, gewisse Sachen, die sich lange Jahre bewährt haben, zu bewahren.
Und tatsächlich war es lange Zeit so, dass die Gesellschaften nicht von Interessenten überrannt worden sind. Es ging uns nicht anders als Logen, Service Clubs und Zünften, die am Überaltern waren. In den letzten 15 Jahren hat sich das meines Erachtens aber sehr verändert. Wir haben in den Gesellschaften wieder längere Wartelisten. Das hat sicher auch ganz generell mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun. Die Menschen wollen wieder wissen, wohin sie gehören und woher sie kommen. Sie suchen Beständigkeit und Heimat. Mir fällt bspw. auf, dass viele jüngere Menschen wieder an Schwingfeste gehen. Lange Zeit war diese Sportart nur für gewisse speziell Interessierte noch „in“. Heute gehen Hundertausende an diese Anlässe und wollen die Geschehnisse um die alte Schweizer Sportart verfolgen. Ähnliches spielt sich in gewissen sozialen Netzwerken ab. Wir stellen fest, dass das Traditionsbewusstsein wieder zunimmt. Sicher spielen auch politische Vorgänge auf der ganzen Welt eine Rolle, auch das Thema Ausländer, mit dem sich Kleinbasel speziell auseinandersetzen muss. Die Menschen brauchen einfach eine Heimat und diese finden sie unter anderem auch bei uns.
Xecutives.net: Der Ausländeranteil Kleinbasels beträgt über 40%, was natürlich Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Strukturen Kleinbasels hat. Wie gehen die traditionellen Drei Ehrengesellschaften mit dieser Herausforderung um? Sehen sie sich als Bollwerk gegen Überfremdung oder sieht man all das als Entwicklung, die es möglichst gut mitzusteuern gilt?
René Thoma: Ich stelle oft fest, dass falsche Ansichten über die Ehrengesellschaften herrschen. Die Öffentlichkeit nimmt uns am Vogel Gryff wahr und sieht uns mit Banner und schwarzen Hüten. Das ist aber nur eine Seite, die Seite der Pflege von Traditionen. Die Ehrengesellschaften weisen aber auch eine andere Seite auf. Sie stehen allem und allen offen, die die besprochenen Aufnahmekriterien erfüllen. Da im Kleinbasel tatsächlich sehr viele Ausländer wohnen, gibt es mittlerweile sehr viele Mitglieder, deren familiäre Wurzeln in die entferntesten Länder zurückreichen. Bei uns treffen Sie auch dunkelhäutige Menschen an. Das ist aber nichts neues, denn alle Mitglieder haben, wenn man lange genug zurückschaut, ihre familiären Wurzeln ausserhalb von Basel. Was sich heute zeigt, ist einfach eine Beschleunigung der Vorkommnisse, die wir teilweise mit Sorge beobachten und auf die wir Einfluss zu nehmen versuchen.
Xecutives.net: Kleinbasel steht diesbezüglich tatsächlich vor grossen Herausforderungen. Auf der einen Seite profitiert die Stadt durch kulturelle Vielfalt, die anziehend wirkt, und auf der anderen Seite gibt es bspw. Schulklassen, in denen keine Schweizer mehr zu finden sind. Wie lässt sich dieser hohe Ausländeranteil in Kleinbasel überhaupt erklären?
René Thoma: Der hohe Anteil an Ausländern hängt mit den tiefen Mietzinsen in Kleinbasel zusammen. Hier bedarf es eines kurzen Rückblickes auf die Geschichte der beiden Basel: In Grossbasel konnte sich aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklungen ein gutsituiertes Bürgertum entwickeln. Alte „Paläste“ und Villen in Grossbasel sind Zeugen einer florierenden Stadt, die sich am Rheinknie industriell entwickeln konnte. In Kleinbasel hingegen lebten schon immer die Gewerbetreibenden und einfachen Handwerker. Sehr exquisite Wohnorte gibt es hier zwar auch, jedoch in viel geringerer Anzahl. Auch war Kleinbasel lange Zeit, das gilt auch heute noch für gewisse Teile von Kleinbasel, das Vergnügungs- und Rotlichtviertel. Diese wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterschiede führten dazu, dass in Kleinbasel günstige Mietobjekte zu finden sind, die für Menschen, die nicht viel Geld haben, erschwinglich sind. Das hat dazu geführt, dass in Kleinbasel sehr viele Studenten leben und sich sehr viele Ausländer in Kleinbasel niedergelassen haben. Das ist aber kein neues Phänomen. Das war schon immer so. Kleinbasel war immer der Stadtteil von Basel, in dem sich Menschen aus anderen Ländern niederliessen, und man hat immer Wege der Integration gefunden. Ich selbst habe dies hautnah an meinem Wohnort erlebt.
Wer in Basel wohnt, weiss, dass zwischen Kleinbaslern und Grossbaslern unterschieden wird. Jeder weiss, woher er kommt und ist stolz auf seine Herkunft. Schon immer gab es zwischen den beiden Basel auch Neckereien. Viele behaupten, dass der Lällenkönig auf der Grossbaslerseite den Kleinbaslern die Zunge rausstrecken würde, was historisch jedoch nicht belegt ist und wohl auch nicht stimmt. Auf Kleinbaslerseite dient der Vogel Gryff bis zu einem gewissen Grad der Provokation des Nachbarn auf der anderen Rheinseite, bspw. durch den von Ihnen beschriebenen Tanz des Wild Maa auf dem Floss, der Grossbasel nur den Rücken zeigt. Wo erkennen Sie als eingefleischter Kleinbasler auch heute nebst den Herausforderungen um hohe Ausländeranteile noch Unterschiede, wenn es um die beiden Stadtteile geht?
René Thoma: Geht man heute in Kleinbasel in ein Restaurant oder in eine Bar, ist man sehr schnell per Du im Gegensatz zu Grossbasel, wo das eher nicht passiert. Die Handwerker und Gewerbetreibenden hatten in Kleinbasel untereinander einen unkomplizierten Umgang, der bis heute nachwirkt. Auffällig ist auch, dass gewisse Menschen aus Grossbasel nie ins Kleinbasel gehen würden, um dort bspw. einzukaufen. Dieses etwas antiquiert anmutende Verhalten geht ebenfalls auf die Vergangenheit zurück. Sicher sind diese Spannungen heute aber nicht mehr so, wie noch vor hundert Jahren. Beide Stadtteile haben sich entwickelt und sie sind aufeinander angewiesen.
Xecutives.net: Herr Thoma, was wünschen Sie sich nebst den von Ihnen beschriebenen Visionen für das Kleinbasel?
René Thoma: Das wichtigste ist, dass Menschen miteinander reden und vor allem auch zuhören können. Das Ausspielen zwischen Gross- und Kleinbasel bringt nichts. Ich verstehe gerade ältere Menschen, die in Sorge sind. Dies insbesondere wegen der wachsenden Kriminalität und Rücksichtslosigkeit gewisser Menschen anderen gegenüber, was leider auch in Kleinbasel vorkommt. All das führt zu Unsicherheiten in der Gesellschaft und resultiert in einer seelischen Verarmung der Menschen, wogegen wir ankämpfen müssen. Vertrauen und „sich Getrauen“ sind aber ganz massgebliche Voraussetzunten für ein gesundes Zusammenleben der Bevölkerung. Speziell wichtig für Kleinbasel ist und bleibt somit, dass sich die Menschen sicher fühlen können. Schliesslich denke ich, dass die Schweiz ganz allgemein immer vom guten Kompromiss profitiert hat. Das sollten wir uns auch in Basel zu Herzen nehmen.
Xecutives.net: Herr Thoma, ich bedanke mich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen und den Drei Ehrengesellschaften weiterhin alles Gute und einen gelungenen Vogel Gryff.
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Links
– Drei Ehrengesellschaften Kleinbasels: 3E
– Vogel Gryff – Wikipedia