Reto Invernizzi, Jahrgang 1981, führt in sechster Generation das Hotel und Landgasthaus Kemmeribodenbad in Bumbach, das zur Gemeinde Schangnau im Emmental gehört. Das aufgrund seiner speziellen Lage, seiner Geschichte und wohl auch seiner berühmten «Merängge» wegen weit über die Landesgrenzen der Schweiz hinaus bekannte Landgasthaus hat sich seit seiner Gründung im Jahr 1834 stets den äusseren Umständen anpassen müssen und ist vom einstigen Kurhotel mit Schwefelwasser und Badewannen zu einem schweizweit bekannten Gourmet-Tempel und Seminarhotel geworden. Der Familienbetrieb am Ursprung des Emmentals hat verdientermassen eben das Drei-Sterne-Hotel-Rating der «NZZ am Sonntag» gewonnen, eine tolle Auszeichnung für das über 170 Jahre alte Gasthaus.
Reto Invernizzi hat den Betrieb vor 10 Jahren von seinen Eltern übernommen. Im Interview beschreibt er die Herausforderungen dieses Generationenwechsels und zeigt auf, was ihn dabei besonders beschäftigt hat. Es seien nicht in erster Linie die finanziellen Faktoren, die für das Gelingen solcher Übergaben an eine nächste Generation wichtig seien, sondern die «Soft Factors», mit denen er sich anlässlich seiner Weiterbildung zum Hotelier besonders auseinandergesetzt hat.
Reto Invernizzi beantwortet im Interview mit Xecutives.net Fragen zum Emmental und zeichnet ein besonderes Bild von dessen Einwohnern, an dem Alfred Bitzius alias Jeremias Gotthelf seine Freude gehabt hätte. Schangnau ist seit einigen Jahren auch aufgrund des Schweizer Skistars Beat Feuz in aller Munde. Aber auch die Entwicklungshelferin Elizabeth Neuenschwander stammt aus Schangnau. Was die Meränggen, Wiedertäufer, Beat Feuz, den Hoghant, die Furgge, den Schibegütsch, eine wunderbare Landschaft und den Emmentalerkäse zusammenhält, wird im Gespräch mit Reto Invernizzi besonders klar. Im Übrigen: Wer noch keine Merängge von der Bäckerei Stein in Schangnau genossen hat, sollte das bald im Kemmeriboden nachholen!
Xecutives.net: Lieber Herr Invernizzi, es ist interessant zu beobachten, wie sich parallel zu Ihrem Betrieb auch der Bauernstand in Schangnau und den umliegenden Gemeinden den neuen wirtschaftlichen Herausforderungen anpassen muss. Das Kemmeribodenbad musste sich, so wie auch die Bauern im Emmental mit ihren Höfen, regelmässig neu erfinden, um überleben zu können. Das Emmental schaut des Weiteren zurück auf eine sehr interessante Geschichte. Sie haben das Kemmeribodenbad vor rund 10 Jahren übernommen und stellen die sechste Generation dar, die den Betrieb führt. Wie kam es zum Entscheid, diesen Schritt zu wagen und was geht Ihnen hier am Ursprung des Emmentals durch den Kopf, wenn Sie heute raus ins Emmental schauen?
Reto Invernizzi: Die Frage meiner Eltern, ob ich diesen Betrieb einmal übernehmen wolle, hat mir zuerst sehr geschmeichelt. Ich musste dann aber zuerst, um einen eigenen Entscheid treffen zu können, weggehen und Abstand zum Emmental und meiner Familie und zum Betrieb gewinnen. Wie Sie richtig sagen, geht es um einen Betrieb mit viel Geschichte, der heute in der sechsten Generation in unserer Familie geführt wird. Mir war bewusst, dass das auch mit viel Verantwortung zu tun hat. Ich ging in die USA und nach Kanada und machte dort Erfahrung in der Fünf-Sterne-Hotellerie. Zurück in der Schweiz wusste ich, dass ich den Betrieb übernehmen kann, sofern gewisse Grundvoraussetzungen in der Nachfolgeregelung vorliegen. Es galt, viele Gespräche mit meinen Eltern zu führen. Die Topographie hier am Ursprung des Emmentals ist speziell. Das Emmental besteht vorwiegend aus Hügeln, aus sogenannten «Chrachen», also steinigen Bergflanken gefolgt von Talsohlen. Jeder Chrachen hat seine typischen Eigenheiten, die sich auf die Menschen auswirken. Die Topographie hat somit einen besonderen Einfluss auf den Emmentaler Charakter.
Xecutives.net: Sie sind hier im Emmental von vielen Bauern umgeben, alles Unternehmer, die sich stets neuen Entwicklungen anpassen müssen. Die vielen Bauernhöfe, die kleine KMUs darstellen, haben sich in den letzten Jahren extrem verändert. Viele haben ihre Betriebe aufgeben müssen oder können einen Hof nur noch hobbymässig führen. Wie haben die wirtschaftlichen Veränderungen auch das Kemmeribodenbad getroffen?
Reto Invernizzi: Diese Fragen und Herausforderungen stellen sich hier tatsächlich jeden Tag. Sie sind nicht selten auch Thema bei uns am Stammtisch im Kemmeribodenbad, wo sich sonntags viele Einheimische treffen und sich austauschen. Die Bauern mussten sich stets neu erfinden und die Entwicklungen schreiten immer schneller voran. Es ist undenkbar, einen Hof heute so zu führen, wie das noch vor 20 oder 30 Jahren der Fall war, was natürlich auch zu Generationenkonflikten führen kann. Keiner weiss genau, was die nächsten Jahre mit sich bringen werden und jeder versucht, für sich und seinen Betrieb Lösungen zu finden. Die Übernahme eines Hofes ist heute mit sehr vielen Risiken verbunden und sie verlangt den jungen Bauern viel Unternehmertum ab. Junge Menschen müssen grosse Lebensentscheide treffen und sind zudem mit der Geschichte ihres Hofes und ihrer Familie konfrontiert. Es stellt sich dann schnell auch die Frage – eine Frage, die auch mich sehr beschäftigt hat -, ob man einen Entscheid wirklich selber fällt, oder ob man aufgrund anderer Faktoren entscheidet, indem man es einfach den Eltern recht machen und der Tradition folgen will. Ich selber musste mich fragen, ob ich meine Familie in Schangnau haben wollte, mit Kindern, die hier aufwachsen und zur Schule gehen, oder ob ich nicht doch lieber einen ganz anderen Weg wählen wollte, bspw. in den USA bleiben, dort ein Hotel führen und eine Familie haben wollte. Mein Vater hat mich natürlich zu überzeugen versucht. Ich fragte mich des Weiteren, und das war eine Schlüsselfrage für meinen Entscheid, ob ich dieses Hotel am Anfang des Emmentals auch übernehmen und führen würde, wenn es nicht mit einer langen Familiengeschichte verknüpft wäre.
Xecutives.net: Was war in Bezug auf diesen Nachfolgeprozess in Zusammenhang mit Ihren Eltern und deren Einstellung und Wünschen wichtig? Ihre Eltern haben das Kemmeribodenbad jahrzehntelang geführt und ihm ihren Stempel aufgedrückt.
Reto Invernizzi: Ein solcher Nachfolgeprozess muss gut durchdacht sein. Bei meiner Ausbildung zum Hotelier habe ich eine Diplomarbeit zum Thema «Erfolgreiche Nachfolgeplanung im Familienunternehmen» verfasst, eine Arbeit, die mir später selber sehr viel genützt hat. Ich hatte damals bewusst die weichen Faktoren beleuchtet, die mir in diesem Prozess auch heute noch besonders wichtig erscheinen. Natürlich gibt es viele andere Faktoren auch, die wichtig sind, so auch juristische und wirtschaftliche Dinge, die stimmen müssen. Ich wollte aber die familiären und psychologischen Herausforderungen, die sich bei der Nachfolge ergeben, beleuchten. So fing ich an, mich mit meinen Eltern über das alte und neue Rollenbild zu unterhalten. So musste ich sie fragen, ob sie sich würden distanzieren können zu dem, was sie selber aufgebaut haben und ich fragte meine Eltern, wie sie reagieren würden, wenn ich es anders machen würde als sie das selber getan haben. Um das etwas überspitzt darzustellen, musste ich herausfinden, wie meine Eltern reagieren würden, wenn ich die Merängge grün färben würde (lacht). Was würde mein Vater dazu sagen? Könnte er einen solchen Entscheid mittragen oder käme es zu Reibung?
An Weihnachten ist mein Vater nach wie vor das Familienoberhaupt und sitzt ganz oben am Tisch. In Sachen Geschäft jedoch sind die Rollen bewusst angepasst worden, was einfach klingt, aber eben doch sehr schwierig ist, auch in Bezug auf die von Ihnen erwähnten Bauernhöfe, wo nicht selten drei Generationen zusammen im selben Haus leben. Nebst dem Rollenverständnis ging es auch bei mir und meiner Familie um die Wohnsituation. Dieser Aspekt der Nachfolgeplanung geht oft vergessen oder man misst ihm zu wenig Gewicht bei. Das führt dazu, dass Nachfolgeprozesse scheitern. Aufgrund einer nichtgeklärten Wohnsituation etwa kann eine ganze Familie auseinanderbrechen.
Xecutives.net: Das Kemmeribodenbad war mal ein sehr bekannter Kurort. Die ganze Welt kam noch bis in die Sechzigerjahre nach Schangnau, um Schwefelwasser zu geniessen und Schwefelbäder in Badewannen zu nehmen. Ich selber habe als kleiner Junge viel Wasser im Kemmeriboden getrunken und staunte immer über die alten Badeanlagen, die alten Badewannen, die damals noch in Betrieb waren. Es gab Dutzende solcher Kurorte, von denen heute oft nur noch die Namen bekannt sind. Andere sind zu normalen Gaststätten geworden. Ich denke an das Gurnigelbad, an das Schärligbad und ans Schlegwegbad im Bernbiet, wo auch Lenin und die ganze Welt noch gebadet hatten.
Reto Invernizzi: Noch bis in die Achtzigerjahre konnte man hier im Kemmeribodenbad Schwefelwasser trinken und Schwefelbäder geniessen, so wie in anderen Bädern im Emmental, die es nicht mehr gibt. Nebst den von Ihnen genannten bekannten Badeanstalten gab es bspw. in Rahnflüh die Hôtel Pension Emmental. Das Gurnigelbad in der Region Gantrisch stellte einst übrigens das grösste Hotel Europas dar und das Schlegwegbad verfügte zu seinen Spitzenzeiten über 120 Betten. Die Badekultur hatte damals eine Dimension, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann und es ist sehr spannend, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen.
Das Kemmeribodenbad gehörte auch zu diesen Betrieben, die sich stets den Wünschen der Gäste entsprechend anpassen mussten. Wer das nicht schaffte, ging unter. In den Siebzigerjahren, den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts und aber auch schon vorher hatten diese Bäder im Emmental und Umgebung Probleme. Jedes zweite Bad ist damals eingegangen, weil sich die Bedürfnisse der Gäste verändert hatten, es plötzlich andere Möglichkeiten gab, baden zu gehen und sich der Tourismus insgesamt weiterentwickelte und veränderte. Wer es in diesen Zeiten grosser Veränderung nicht schaffte, sich neu strategisch zu positionieren, gute «Unique Selling Points» zu schaffen, der ging unter. Das Festhalten an den Bädern führte in aller Regel zum Untergang. Wir sprechen von der Zeit, als beispielsweise in Leukerbad im Wallis die grossen Badeanlagen gebaut wurden, mit unerhörten finanziellen Mitteln. Manches Bad im Emmental stand somit vor dem Entscheid, ebenfalls sehr grosse Investitionen zu tätigen oder die Bäder zu schliessen. Dazu kommt, dass wir im Kemmeribodenbad nur kalte Quellen hatten. Die Wasserqualität ist zwar sehr gut, aber das Aufheizen des Wassers war mit riesigem Aufwand verbunden. Das Überleben in dieser schwierigen Zeit ist das Verdienst meiner Eltern, die erkannt hatten, dass es für dieses Badebusiness keinen Erfolg mehr geben konnte. Sie standen vor einer riesigen unternehmerischen Herausforderung.
Heute überlegen wir uns im Übrigen, ob wir nicht einen kleinen Teil dieser nostalgischen Badekultur wiederbeleben wollen. Der Zeitgeist spricht dafür, dass die von Ihnen genannten alten Badewannen wieder genutzt würden.
Xecutives.net: Was haben das Kemmeribodenbad und Ihre Vorfahren offenbar richtig gemacht, um zu überleben? Was waren für Sie persönlich wichtige Entscheide auf diesem Weg?
Reto Invernizzi: Ich bin mit grossem Respekt auf die Bauern und Handwerker hier zugegangen und habe mich für ihre Arbeit und ihr Leben interessiert. Ein Bauer machte noch in alter Tradition Schindeln, ein altes Handwerk, das nur noch wenige beherrschen. Mir war schnell klar, dass das sehr interessant ist, auch für Hotelgäste, und ich schlug dem Bauern und Handwerker eine Zusammenarbeit mit dem Kemmeribodenbad vor. Mit dieser Einstellung ging ich immer weiter und versuchte, Menschen, die etwas Besonderes können oder tun, miteinzubeziehen. Daraus entstanden in den letzten Jahren wunderbare Beziehungen. Die Hotelgäste interessieren sich für diese Menschen, ihre Arbeit und ihre lokalen Produkte, die wir anbieten. Angereichert mit einer kulinarischen Umgebung lassen sich damit sogar Seminare und Events organisieren.
Xecutives.net: Es fällt auf, und das widerspiegelt sich auch in der Auszeichnung, die Sie eben von der «NZZ am Sonntag» entgegennehmen konnten, den ersten Platz im Drei-Sterne-Hotel-Rating, dass der Betrieb mit 47 Angestellten perfekt geführt ist. Es ist eigentlich alles perfekt, so hat man als Gast zumindest das Gefühl. Dieses Gefühl habe ich in anderen Hotels manchmal nicht und man fragt sich dann, was sie anders machen. Das ist oft gar nicht so einfach erklärbar. Kurt H. Illi und Beat Krippendorf, beides Tourismusexperten, haben an dieser Stelle dazu sehr deutlich Stellung bezogen. Was machen Sie persönlich anders?
Reto Invernizzi: Wir haben uns sehr viel über die Art und Weise, wie wir den Betrieb führen wollen Gedanken gemacht. Mit 47 Angestellten braucht es klare Strukturen und ein absolut glasklares Leitbild. Der Entscheid, den Betrieb so zu führen, wie das zurzeit der Fall ist, und der uns nun im «NZZ am Sonntag»-Ranking den ersten Platz beschert hat, hat sicher auch mit der familiären Konstellation zu tun. Die Tatsache, dass wir auch hier leben, hat einen grossen Einfluss auf die Führung des Betriebes. Wir sind jeden Tag in Kontakt mit den Gästen und unserem Personal. Ich bin jeden Tag am Puls des Geschehens und nehme auch die Zwischentöne wahr.
Ich halte nicht so viel von Ausdrücken wie «Vision» und «Mission». Sie werden im Management oft gebraucht. Ich selber spreche lieber von Sinnhaftigkeit und Leitwerten. Diese haben wir sauber definiert und entsprechend auch das Personal rekrutiert und geschult. Zu unseren Leitwerten gehört nebst vielem mehr, dass wir den Menschen gegenüber, ob Gäste oder Geschäftspartner, freundlich auftreten und Interesse zeigen. Freundlichkeit muss aber definiert sein, weil jeder sonst etwas anderes darunter versteht. Ein simples „Grüessech“ und „Adie“ reicht nicht. Diese Leitwerte muss man wahrhaftig leben. Man kann sie von oben stimulieren und beeinflussen.
Wir stellen in unserem Restaurant bspw. Fotografien von unseren Partnern aus Schangnau und der Umgebung auf. Bei unseren Partnern hängen ebenfalls Bilder vom Kemmeribodenbad. All diese Fotografien sind mit Geschichten verbunden, für die sich die Gäste interessieren. Für die Einheimischen sind diese Geschichten normal, wie die Tatsache, dass es im Wintert viel Schnee hat. Für viele Gäste jedoch, die nicht von hier stammen, sind die Geschichten, und auch der Schnee, etwas Exotisches. Sie treffen in unserem Betrieb überall auf solche Geschichten.
Xecutives.net: Dieser Erfolg ist aber auch Resultat grosser Innovationen, die alle auch mit Risiken verbunden sind. Wie gehen Sie Innovationen an?
Reto Invernizzi: Um innovativ zu sein, bedarf es Investitionen. Das ist klar. Eine Idee, die man verfolgt, bedarf bis zu 3 Jahren bis sie trägt resp. wirtschaftlich erfolgreich wird, und es kann eben auch sein, dass eine Idee keinen Erfolg bringt. Das stellt einen als Unternehmer vor grosse Herausforderungen, wie das auch bei den Bauern der Fall ist. Auch sie müssen sich immer wieder neu erfinden, bspw. von der Milchwirtschaft zur Fleischwirtschaft wechseln, Zimmer anbieten, Waren verkaufen, was alles ebenfalls mit vielen Investitionen und mit viel Arbeit verbunden ist. Es geht aber nicht nur um die Finanzen. Schauen Sie, wenn wir hier einen Bus mit Menschen verabschieden, dann gehen unsere Mitarbeitenden mit Abschiedstransparenten vors Haus und wünschen den Gästen eine gute Heimfahrt. Das hat nichts zu tun mit finanziellem Aufwand. Hier geht es einfach nur um emotionale Kompetenz. Es bedarf dazu viel Wahrhaftigkeit. Man muss als Hotelier Menschen mögen und sie gerne bedienen, ihnen spannende Dinge zeigen, die sie selber nicht kennen und ihnen den Zugang zu schönen Geschichten und zur schönen Natur ermöglichen, wie wir das u.a. mit unserem Bankgeheimnisweg der Emme entlang machen.
Wir haben meiner Ur-Urgrossmutter ein Zimmer gewidmet bei uns im Gaden. Das Zimmer heisst «Heugaden 1878». Elisabeth Gerber erhielt damals von ihrem Vater 1878 einen Schrank, mit der Aussteuer drin. Wir haben diesen Schrank nun in Szene gesetzt. Wir haben original Heu aus Schangnau genommen, um es zu pressen. Damit haben wir die Wände des Zimmers gemacht. Den Schrank habe ich von lokalen Handwerkern ausbauen und renovieren lassen. Er stellt auf eine gewisse Weise das Tor zu vielen Geschichten dar. Die Gäste reagieren darauf sehr positiv und sie lesen nicht selten das Tagebuch meiner Vorfahren, das in jedem Zimmer aufliegt. Das Bett stammt von einem Schlafspezialisten, der seine interessierten Privatkunden zu uns schickt fürs Probeschlafen. Wir haben aufgrund dieser Zusammenarbeit ein Top Bett und der Schlafspezialist hat eine tolle Lokalität, eine Win-win-Situation für ihn und uns. Schafft man es mit alldem, Menschen zu berühren und zu begeistern, dann kommen sie wieder und sprechen über ihre schönen Erfahrungen.
Xecutives.net: Ich war unlängst mit Besuchern bei Ihnen und staunte nicht schlecht, als man uns nach einem Hamme-Teller (Anmerkung der Redaktion: Hamme ist eine spezielle Form von Schinken im Emmental) fragte, ob wir noch einen Nachschlag haben möchten. Wir mussten das ablehnen, weil der erste Teller schon sehr gross war. Diese Frage aber, ob man noch etwas mehr haben möchte, führte zu Begeisterung, so dass man Stunden später noch darüber sprach und wohl jeder nach Hause ging und über dieses Vorkommnis berichtete.
Reto Invernizzi: (Lacht) Das ist ein schönes Beispiel. Es macht hier gar keinen Sinn, eine Geldflussrechnung zu machen. Sie haben schön beschrieben, was nachher alles passiert ist. Solche Geschichten machen die Runde und das Angebot für einen Nachschlag ist wahrhaftig gemeint. Dafür hat der Küchenchef auch ein Budget, das höher ist als an anderen Orten. Es darf dann aber nicht so sein, dass es einen reut, wenn man dann noch mal etwas auf den Teller legen soll. Da liegen auch noch mal 100 Gramm Hamme oder mehr drin. Unserem Küchenchef tut das gar weh, wenn er Ihnen vorschlägt, noch mal etwas Hamme zu bekommen und Sie das Angebot ablehnen. Das gehört zu unserem Leitbild und zu unserer Unternehmenskultur, die wir im Emmental pflegen.
Xecutives.net: Jeremias Gotthelf hat das Emmental und seine Bewohner sehr passend beschrieben. Es wird auf einem Bauernhof im Emmental immer etwas angeboten und wer das ablehnt, der muss mit einer Rüge rechnen. Die Gastfreundschaft wird auf vielen Bauernhöfen nach wie vor gepflegt. Was erkennen Sie im Emmental weiter, was zeichnet die Menschen in dieser Region Ihres Erachtens aus?
Reto Invernizzi: Die Emmentaler haben diese Gastfreundschaft in den Genen vererbt bekommen. Sie wollen zeigen, dass sie für Sie parat sind und angerichtet ist. Das ist eine Ehrensache. Ich spreche mit vielen Gästen und Bauern und sehe, dass sich das Thema Grosszügigkeit immer positiv auswirkt, für beide Parteien. Es gibt auch Menschen, die das ausnutzen, aber das sind wenige. Es gibt hier viele sogenannte «Chrachen», was so viel wie «abgelegene Orte» bedeutet. Es gibt eine Talsohle und auch Spitzen, also Ecken und Fels. Somit gibt es zwischen den Tälern und den Chrachen Kanten. Diese sind prägend für die Emmentaler Kultur. Das macht den Emmentaler speziell, denn man kann ihm diese Kanten nicht nehmen. Gemäss gewissen Menschen sollen auch die Emmentaler immer alles rund machen. Es soll alles rund laufen und auch von den Emmentalern abgenickt werden. Der Emmentaler hat mit dieser Einstellung schon aufgrund der Topographie ein Problem. Er hat eben diese Kanten auch im Kopf und lässt sich nicht einfach ein X für ein U vormachen. Das ist auch eine Frage der totalen Kontrolle, mit der der Emmentaler nichts anfangen kann. Aber es sind eben genau diese Ecken und Kanten, die zu Geschichten führen, die wir gerne hören, auch unsere Gäste. Dieser Umstand muss erhalten bleiben und muss von den jetzigen Generationen erkannt, gepflegt und enkeltauglich gemacht werden.
Xecutives.net: Genannter Jeremias Gotthelf, mit richtigem Namen Alfred Bitzius, hat sich eingehend mit den Emmentalern und ihren Ecken und Kanten auseinandergesetzt. Er hat die Emmentaler als eigen, manchmal abergläubig, genügsam, stur, oft wortkarg und doch als sehr wohlgesinnt beschrieben. Auch ist ihre «Obrigkeitsgläubigkeit» noch heute wenig ausgeprägt, was auch mit der Geschichte der Wiedertäufer (s. dazu auch das Interview mit Priscilla Imboden über die Amischen in den USA) im Emmental zusammenhängt.
Reto Invernizzi: Ich würde die Emmentaler ebenfalls als sehr genügsam bezeichnen. Gewisse Ressentiments, wie man sie im Berner Oberland und auch in anderen vom Tourismus geprägten Regionen erkennen kann, auch im Tessin, von wo mein Vater herkommt, gibt es im Emmental eher nicht. Man sagt den Emmentalern nach, sie seien zehn Jahre hinter der Welt her. Das mag sein, hilft den Emmentalern aber auch, ihren eigenen Charakter zu bewahren. Sie schauen dann zurück, wenn sie erkennen, dass sich ein Wandel eben zum Negativen entwickelt hat und widmen sich wieder in Ruhe ihren eigenen Sachen. Hier im Emmental ist jeder mit seiner eigenen Sache, oft mit seinem eigenen Hof, beschäftigt. Man ist mit sich selber, mit dem Hof, dem Wetter, dem Holzen, dem Vieh und dem Bebauen und der Pflege des Landes beschäftigt. Interessant ist zu sehen, wie ein Dorf wie Schangnau plötzlich zusammenhält, wenn Beat Feuz wieder ein Rennen gewinnt. Das sind Momente, wo das ganze Dorf an einem Strick zieht und man gemeinsam eine grosse Begeisterung an den Tag legt.
Xecutives.net: Wir werden noch auf den Skistar zu sprechen kommen. Zuvor möchte ich Sie aber noch in Bezug auf Ihre Erfahrungen nach Ihrem Auslandaufenthalt befragen. Sie waren einige Zeit weg vom Emmental und haben Erfahrungen in der Hotellerie sammeln können. Was fiel Ihnen auf, als Sie wieder in Ihre alte Heimat zurückkehrten? Haben Sie gewisse Dinge anders betrachtet als zuvor?
Reto Invernizzi: Ich bin hier aufgewachsen, mich hatten die Berge zu dieser Zeit «gedrückt» und ich musste weg, zuerst nach Thun, dann in die USA und nach Kanada. Als ich nach 18 Monaten zurückkam, stellte ich fest, dass viele Menschen immer noch in Bezug auf dasselbe gehadert und gejammert hatten. Es schien die Zeit etwas stehen geblieben zu sein. Das zeichnet die Menschen aber auch sehr aus. Sie sind wie sie sind und ein neuer Präsident in den USA beispielsweise beeindruckt hier nur wenig. Man würde ihm, wenn er vorbeiläuft, einfach «Sälü» sagen. Die Emmentaler sind es sich gewohnt, jedem Du zu sagen und alles etwa gelassen zu nehmen.
Interessant fand ich, wie es um die Geschichten stand, so wie eben zuvor, als ich noch zuhause war. Das wurde mir nach meiner Rückkehr aus dem Ausland sehr bewusst. Da hat doch vor 100 Jahren der Urgrossvater eines Jungen hier einem Nachbarn auf einem anderen Hof ein Huhn oder eine Schaufel gestohlen. Diese Geschichten kennen schon die kleinen Kinder und sie haben Einfluss auf das Miteinander von heute und oft auch auf das von morgen. Jeder, der hier einen Hof hat, kennt solche Geschichten. Manchmal gehen sie auch 200 Jahre zurück (lacht). Ich finde diese Geschichten aber absolut faszinierend. Wo gibt es das in einer Stadt, dass ein Junge im Kindergarten überhaupt weiss, dass der Nachbar vor 100 Jahren überhaupt ein Huhn oder eine Schaufel hatte (lacht). Ganz interessant ist in diesem Zusammenhang das Buch von Katharina Zimmermann «Die Furgge». In diesem Buch wird das Leben einer Wiedertäuferin und ihrer Familie aus Schangnau beschrieben, ein enorm lesenswertes Werk, wenn man sich mit der Geschichte des Emmentals auseinandersetzen möchte.
Xecutives.net: Wir müssen nun natürlich auch auf die weltbekannte «Merängge» zu sprechen kommen, die Sie von der Bäckerei Stein von Christian Oberli beziehen. Diese Merängge hat sicher sehr viel zum Erfolg des Kemmeribodenbads beigetragen. Ich stelle fest, dass viele Menschen, auch aus anderen Ländern, Ihren Gasthof in Zusammenhang mit dieser Süssspeise kennen. Als kleiner Junge erzählte mir Christian Oberli, dass er Merängge auch nach Arabien und die USA lieferte, was mich enorm beeindruckte. Wie kam es zu dieser Synergie mit einem lokalen Bäcker und Confiseur hier in Schangnau?
Reto Invernizzi: Wir müssen zurückschauen ins Jahr 1939. Damals gab es hier im Emmental zu viel Milch und «Nidle», auf gut Deutsch «Sahne». Mein Grossvater ging damals zum Vater von Christian Oberli, dem Chef der Bäckerei Stein, und bat ihn um Rat. Er wollte wissen, was man mit dieser Nidle und mit der Milch machen könnte, um sie sinnvoll einzusetzen. Es waren damals sehr viele Kurgäste im Kemmeribodenbad. Daraus entstand die Idee der Merängge. Die beiden haben dieses Dessert wohl nicht selber von Grund auf erfunden. Viele Regionen schimpfen sich Erfinderin der Merängge, so auch die Meiringer und die Fribourger. Das spielt aber keine Rolle. Die beiden entwickelten eine besonders gute Art einer Merängge. Sie wurde bald schon im Kemmeribodenbad zu einem Hit.
Damals wurde ein wunderbarer Kreislauf in Gang gesetzt, der noch heute funktioniert. Grund für den Erfolg ist auch heute noch, dass die Nidle frisch in 40 Liter Kannen angeliefert wird. Damals gab es drei Varianten von Merängge, die angeboten wurden: Es gab die grosse Portion mit zwei Schalen Merängge und viel Nidle, dann gab es die Variante klein, mit einer Schale und Nidle und schliesslich eine kleine Merängge mit einer Kugel Glace. Das ist heute noch genauso! Wir haben sie nicht grün gefärbt! Die Gäste gehen auch heute, so wie bereits 1939, zurück nach Hause und berichten von dieser speziellen Speise. Heute müsste man sagen, ging die Idee viral. Sie geht noch heute viral, Grund, dass viele Menschen das Kemmeribodenbad nicht nur mit dem Brienzer Rothorn, dem Hoghant, der Furgge, dem Emmentalerkäse und den Iglus, sondern eben auch mit dieser besonderen Süssspeise verbinden.
Dieser Erfolg ermöglichte es meinen Grosseltern und schliesslich auch meinen Eltern und uns, weiter zu denken. Sie fingen an, Hochzeiten zu organisieren und den Gasthof als Seminarhotel zu nutzen. All das hat schliesslich dazu geführt, dass es das Kemmeribodenbad heute noch gibt.
Auch hierzu gibt es übrigens eine interessante Geschichte: Wir haben einen Merängge Humidor eingerichtet. Christian Oberli von der Bäckerei Stein bringt jeden Morgen zwischen 10:00 Uhr und 11:00 Uhr seine Süssspeise und platziert sie in einem speziellen Schrank, der für die richtige Luftfeuchtigkeit und Temperatur sorgt. Die Gäste bekommen das mit, was regelmässig in Gesprächen zwischen Christian Oberli und den Gästen resultiert. Nicht selten hilft ein Gast, die Meränggen in den Schrank zu legen. Später kommt der Küchenchef und holt die Meränggen aus dem Humidor, wiederum ein Spektakel für viele Gäste, die sich schon auf das Endresultat am Tisch freuen können.
Xecutives.net: Es gab eine Zeit in der Hotellerie, in der alle das gleiche, oder mehr oder weniger das Gleiche gemacht haben, so auch in Bezug auf die Bäder im Emmental. Es wurde gebadet und man wurde verköstigt. Reicht das heute noch aus, um Erfolg zu haben in der Gastronomie, wenn man dasselbe tut, wie das auch anderen tun? Mit anderen Worten, gibt es in der heutigen Welt und Gesellschaft noch eine gemeinsame Basis, auf der sich alle Hotels und Restaurants mit einer gewissen Sicherheit bewegen und erfolgreich sein können?
Reto Invernizzi: Das reicht heute nicht mehr aus. Ein Betrieb wie das Kemmeribodenbad braucht heute ein klares Profil. Wir können hier nicht dasselbe zur selben Qualität und zu denselben Preisen anbieten, wie das andere tun. Es braucht Argumente, dass die Gäste den Weg, vorbei an vielen Gaststätten, zu uns in den Kemmeriboden auf sich nehmen. Wer nicht ein eigenes Profil hat, wird sich nicht durchsetzen können. Es geht heute um die «Unique Selling Points». Diese USP müssen zum Betrieb passen, auch zur Umgebung und sie müssen glaubwürdig vermittelt werden.
Xecutives.net: Nebst den Iglus und den Meränggen hat noch ein weiteres Vorkommnis Schangnau ins Rampenlicht der Welt befördert. Beat Feuz, der Skistar, ist ein gebürtiger Schangnauer und nach wie vor eng mit dem Dorf verbunden. Man ist extrem stolz auf ihn und auch er dürfte ein Grund sein, warum viele Menschen diese schöne Gegend besuchen und den Namen Schangnau kennen.
Reto Invernizzi: Ich denke, dass Beat Feuz die Merängge überholt hat. Er ist auch einer aus dem Schatten, ein «Schattenbub», wie man mich auch nannte, wohnt dort, wo lange keine Sonne scheint. Das prägt den Charakter und man muss sich mit diesem Schatten arrangieren. Aufgrund dieses Schattens kam bei mir die Idee der Iglus auf, die wir hier seit gut 10 Jahren anbieten und die zu einem grossen Erfolg bei den Gästen geworden sind. Man kann in den Iglus essen und gar übernachten. Der Schatten ist dabei eine gute Basis. Auch Beat Feuz musste sich arrangieren. Beim Aufstehen fand er sich selber zwischen zwei Wäldern, mit der Furgge und dem Hoghant im Rücken, vor ihm ein kleiner Skilift. Das prägt die Menschen hier natürlich. Auch ihm ist es aber gelungen, aus diesem Schatten etwas Positives zu schaffen. Er sagte sich, wenn ich halt schon im Schatten bin, dann hat es wenigstens Schnee, um Ski zu fahren. Er war schon als kleiner Junge der schnellste Skifahrer. Beat Feuz fuhr mir und meinen Schulkollegen, die alle rund 9 Jahre älter sind, schon damals um die Ohren.
Seine Eltern betreiben den Rosegg Skilift, der heute noch viele Gäste anzieht. Beat Feuz ist auf dem Boden geblieben, auch heute noch. Er kommt, wenn er mal Zuhause ist, gerne mit seiner Frau Kathrin zu uns essen und er schätzt den Kontakt mit Menschen sehr.
Xecutives.net: Herr Invernizzi, was wünschen Sie Schangnau und dem Emmental für die Zukunft?
Reto Invernizzi: Ich wünsche mir von tiefstem Herzen, dass Schangnau den Rank findet und den Wert unserer Region mit ihrem breiten Gewerbe zu schützen vermag. Ich wünsche mir, dass meine und alle Kinder hier eine Möglichkeit finden werden, sich zu entwickeln, persönlich und beruflich. Schangnau hat nur 1000 Einwohner. Wir haben aber drei Metzgereien, drei Bäckereien, zwei Käsereien und auch sonst viele Handwerkbetriebe. Das ist für ein solches Dorf nicht selbstverständlich und wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt. Das ist alles kein Zufall. Es braucht jedoch den Beitrag von einem jeden. Auch wir im Kemmeriboden können etwas beisteuern, indem wir zusammen mit den Menschen in Schangnau arbeiten, so dass auch meine Kinder noch eine intakte Natur, Metzgereien und Bäckereien haben werden.
Xecutives.net: Herr Invernizzi, ich bedanke mich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen und Ihrer Familie sowie ganz Schangnau alles Gute für die Zukunft!
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