Samir

Samir

Samir, geboren 1955, gehört zu den bekanntesten Filmschaffenden der Schweiz. Als Sohn einer Schweizerin und eines Irakers kam er mit 7 Jahren von Baghdad flüchtend mit seiner Familie nach Zürich. Seine Liebe zum Kino und Film entdeckte er schon als kleines Kind. In Baghdad Filme aus Ägypten und Bollywood schauend, wurde ihm klar, dass ihn das Thema Film nicht mehr loslassen würde. Nach Lehrstationen als Typograph und Kameramann bei Condor Films fing er Mitte der 80er Jahre an, eigene Filme zu drehen. Anfang der 90er Jahre begann er auch als Auftrags-Regisseur zu arbeiteten, u.a. für Eurocops. 1994 löste er zusammen mit Werner Schweizer und Karin Koch die Produktionsfirma Dschoint Ventschr Filmproduktion AG aus der Genossenschaft Videoladen heraus und richtete sie neu aus. Seinem ersten grossen Film-Début, „Morlove – eine Ode an Heisenberg“, folgend, schuf er Spielfilme wie „Filou“, aber auch eine ganze Anzahl von Dokumentarfilmen wie insbesondere „Babylon 2“, „Forget Baghdad“ und „Escher, der Engel und die Fibonacci – Zahlen“, in dem er sich mit der Entstehung des Hauptbahnhofes Zürich und der wirtschaftlichen Entwicklung von Zürich zur Zeit der Industrialisierung auseinandersetzt. Mit „Snow White“ (2005) schuf er einen der bekanntesten und meistgesehenen Schweizer Film mit Carlos Leal (Sens Unik) und Julie Fournier in den Hauptrollen. 2006 wurde ihm für sein Kulturschaffen der Aargauer Kulturpreis verliehen. Im Gespräch mit Christian Dueblin spricht Samir über seine Leidenschaft Film sowie seine Ansichten über das Filmschaffen und zeigt auf, wie sich der Film in der Schweiz entwickelt hat und was die Schweiz tun muss, um auch über die Grenzen der Schweiz hinaus filmisch bestehen zu können.

Dueblin: Lieber Samir, Du verfügst über einen interessanten kulturellen Hintergrund, der sich in Deinen Filmen niederschlägt. Du hast irakische Wurzeln und bist in der Schweiz aufgewachsen, wo Du in den letzten 20 Jahren zu einem der bekanntesten Schweizer Filmschaffenden avanciert bist. Was bedeutet der Name Samir?

Samir: „Samir“ stammt aus dem Altarabischen. Der Name bezeichnet eine Person, die in der Wüste im Kreise des Stammes abends am Lagerfeuer und unter Sternenhimmel Geschichten erzählt.

Dueblin: Du erzählst gerne Geschichten und hast das filmische Erzählen von Geschichten zu Deinem Beruf gemacht. Das Erzählspektrum in Deinen Filmen ist sehr breit. Für mich bist Du eine Art Joe Jackson des Filmgeschäfts. Was hält alle Deine Erzählungen im Innersten zusammen?

Samir: Es ist an erster Stelle die Neugier für viele Themen auf dieser Welt. Ich liebe es, Dinge auszuprobieren und zu versuchen, sie anders anzugehen und Lebenssachverhalte mit einer anderen Sichtweise darzustellen. Aber auch einfach in ein Projekt einzusteigen, sich unterordnen zu müssen, finde ich sehr reizvoll. So habe ich in den letzten Jahrzehnten viel gelernt und konnte viele Erfahrungen sammeln. Ich sehe die Breite meines Erzählens heute auch als einen kleinen Nachteil in meiner Karriere. Ich habe mich nicht auf einen „Look“ oder auf eine bestimmte Erzählform festgelegt. Mir persönlich hat das nicht geschadet, ich schaue auf ein erfülltes Leben zurück, aber in Bezug auf meine Karriere könnte man das schon auch als einen Nachteil sehen.

Die Neugier musste ich als Antriebfeder haben, denn ich habe in meinem Leben – und ich sage das als Mensch, der sich nach wie vor jung fühlt – drei technologische Veränderungen mitgemacht, die mich alle sehr geprägt haben. Zwei dieser Veränderungen haben dann die ganze Filmindustrie verändert. Die erste Veränderung geschah während meiner Typographenlehre. Irgendwann standen wir Lehrlinge und Typographen vor neusten Typographie-Maschinen und staunten, als man uns erklärte, dass diese in der Stunde eine Million Zeichen setzen können. Das war für mich als Typograph der Anfang vom Ende (lacht). Von einer schon fast mittelalterlichen Schaffensweise – ich habe noch mit Blei gesetzt – ging es zur Technologie des zwanzigsten Jahrhunderts weiter. Ich kam zum Film und lernte dort mit Zelluloid umzugehen, also alles in klassischer Manier: Die Bilder sah man noch auf dem Film! Doch dann kam schon die analoge Videotechnik auf als neuste Technik, und bald schon stand ich vor dem zweiten Anfang von einem Ende. Es kam dann Anfang der neunziger Jahre, nachdem ich auch alles über Video gelernt hatte, zur nächsten grossen Wende, zur Digitalisierung. Das war ein weiterer bedeutender Paradigmenwechsel in meiner Filmkarriere.

Dueblin: … und heute geht es weiter, insbesondere mit 3D-Techniken, die von der Filmindustrie gepuscht werden, die damit Geld verdient …

Samir: 3D hat es schon in den 50er Jahren gegeben. Aber natürlich ist es mit den neusten digitalen Techniken möglich, ganz aussergewöhnliche Sachen zu produzieren. Für mich ist die gesamte Digitalisierung, wie sie heute betrieben wird, der Abschluss aller Technologien, die erfunden worden sind. 3D ist sicher gut für visuelle Effekte, mit denen die Filmindustrie natürlich versucht, die Zuschauer zu verblüffen und bei der Stange zu halten, so wie das Xavier Koller in Deinem Interview beschreibt. Sie ist aber meines Erachtens nicht für jede Geschichte die geeignete Form. Es wird sich zeigen, wie es mit dem Aufwand und dem Ertrag steht.

Dueblin: Der Schweizer Filmemacher Hans Liechti meinte im Gespräch, er habe bei den schnellen Schnitten und den vielen Effekten in Filmen oft den Eindruck, der Regisseur habe Angst vor den eigenen Bildern, so dass er sie schnell wieder wechseln möchte …

Samir: Die Geschichte, die erzählt werden soll, ist die Essenz. Mir kommt das alles vor, wie in der Musik. Man hatte damals als ich ein Teenager war vier Spuren zum Mischen, daraus wurden 16 und später 24. Heute hat man unendliche Möglichkeiten. Will man heute aber einen rauen Punk-Klang erzeugen, braucht man dazu nicht unendlich viele Spuren. Es reicht durchaus eine Spur aus. Das ist im Film ganz ähnlich. Für einen guten Film und eine gute Geschichte kann, anders als beim Schaffen von unglaublichen Effekten, eine Spur ausreichend sein.

Ich denke aber, dass 3D gerade für die vielen animierten Kindergeschichten eine ganz interessante Sache ist. Da werden wir sicher noch Einiges zu sehen bekommen und die Filmindustrie wird neue Innovationen hervorbringen. Ich überlege mir für meinen neuen Dokumentarfilm „Iraqi Odyssey“, 3D-Techniken zu benutzen. Anfang der 90er Jahre habe ich Museumsräume mit Videoinstallationen gestalten können und versucht, auch in der Technik neue Wege zu gehen. Ich kann mir vorstellen, dass ich in meinem neuen Film auf diese Erfahrungen zurück greife. Dieser Film ist in einem gewissen Sinne eine Fortsetzung meines letzten Films „Forget Baghdad“. Dort ging es um die Lebensgeschichte von vier irakisch-jüdischen Kommunisten. Im neuen Film beschreibe ich die Geschichte meiner irakischen Familie.

Regisseur Samir: Szene aus dem Film "Snow White"

Regisseur Samir: Szene aus dem Film „Snow White“

Dueblin: Mich hat der Film „Forget Baghdad“, für den Du den Jury-Preis am Locarno Filmfestival 2002 gewonnen hast, sehr angesprochen und auch überrascht, weil die vier Persönlichkeiten – und es handelt sich um Persönlichkeiten! – sehr wahrhaftig und auch unterhaltend über ihr Leben berichten, ein Leben, das vielen Menschen gänzlich unbekannt ist.

Samir: Diese vier Personen sind gut ausgewählt. Sie sind schriftstellerisch tätig und im Umgang mit der Sprache sehr geübt. Sie haben klare Vorstelllungen, von dem, was passiert ist. Es fällt ihnen leichter als anderen Menschen, ihre Geschichten zu erzählen. Ich habe versucht, den Nahen Osten mit diesem Film anders darzustellen. Ich stelle die Geschichte im Film auf eine Art und Weise dar, wie man das früher nicht durfte und nicht sollte und übrigens auch so, wie sie viele Menschen, auch im Nahen Osten, nicht kennen. Jetzt versuche ich in meinem neuen Film, meine eigene Geschichte und diejenige meiner Familie zu erzählen. Sie stammt aus dem schiitischen Süden und ist in den letzten 50 Jahren über die ganze Welt verstreut worden. Die Diktatur, die Embargos und vieles mehr im Irak haben dazu geführt, dass meine Familie aus dem Irak weggehen musste und auch wollte. Die meisten meiner Familienmitglieder gehören heute zur irakischen Diaspora, die heute 4 bis 5 Millionen Menschen umfasst. Der Film wird gewissen Stereotypen, die wir kennen, einen andern Blickwinkel entgegenhalten und versuchen, die Geschichte und die Geschehnisse der Vergangenheit in einem andern Licht darzustellen.

Dueblin: Als Du sieben Jahre alt warst, bist Du mit Deiner Familie von Baghdad in die Schweiz gezogen. Du hast einen Teil Deiner Kindheit in Baghdad verbracht und bist offensichtlich sehr durch indisches und ägyptisches Kino beeinflusst worden. Wie wirkt sich Deiner Meinung nach diese Zeit im Nahen Osten heute auf Dein Filmschaffen aus?

Samir: Ich war immer wieder mit meiner Tante im Kino und wir sahen uns diese populären Filme aus Ägypten und Indien an. Sie waren und sind auch heute noch sehr beliebt. Sie haben die Menschen unterhalten und geprägt. Bollywood gibt es schon seit den 20er Jahren und es hatte schon immer ein Publikum ausserhalb des Hollywood-Bereiches. Ich bin letztes Jahr mit meiner Frau und meinem Kind in Abu Dhabi eingeladen gewesen, um dort in der Film-Jury des Abu Dhabi-Filmfestivals mitzuarbeiten, das von einem guten Bekannten von mir, einem Amerikaner geführt wird, der mit einer Iranerin verheiratet ist. Deswegen hatte er schon am Festival in San Francisco und in New York immer wieder Filme aus dem Nahen Osten gefördert. In Abu Dhabi fand ich es sehr interessant, zu beobachten, wie die Menschen und Stars aus Hollywood beachtet worden sind. Gérard Dépardieu war dort, aber auch Uma Thurman und viele mehr, die wir alle aus den hiesigen Filmen bestens kennen. Es war verblüffend zu sehen, dass der Event am Abend mit den Bollywood Stars, in dieser Welt von Fünfsternehotels, die in westlicher Manier geführt werden und von indischen „Sklavenarbeitern“ erbaut worden sind, um ein X-faches grösser und mehr besucht war, als die Hollywood-Reception. Es waren unvergleichlich mehr Menschen, die sich für Bollywood und seine Stars interessierten vor Ort. Mich hat das nicht weiter erstaunt, aber für meine Frau und viele Leute, mit denen ich vor Ort gesprochen habe, war das sehr verblüffend. Die westlich geprägten Menschen realisieren erst, wenn sie im arabischen, asiatischen oder auch im afrikanischen Teil der Welt unterwegs sind, dass Hollywood dort überhaupt nicht die Bedeutung hat, die wir uns vorstellen. Hollywood ist also nicht der Nabel der Welt, wie wir hier das oft fälschlicherweise meinen.

Du hast nach dem Einfluss dieser Filme aus meiner Jugend auf mein Schaffen gefragt: Am Beispiel des Films „Snow White“ erkennst Du, dass in meinen Filmen etwas mehr Melodramatik drinsteckt, als in anderen Schweizer Filmen. In jeder leidenschaftlichen und dramatischen Szene findest Du im Film aufgrund meines kulturellen Hintergrundes etwas mehr Melodramatik und etwas mehr Leidenschaft. Der Film kam übrigens speziell bei den jungen Zuschauern sehr gut an, denen offensichtlich diese Melodramatik gefiel. In der Schweiz haben fast 100‘000 Menschen „Snow White“ gesehen. Wir haben 25‘000 DVD verkauft. Der Film kam dann später auch nach Ostasien und wurde in Japan, Taiwan, Singapur etc. gezeigt. Er war dort ein grosser Hit.

Ich hatte gestern eine Diskussion mit einem meiner Assistenten. Er gab mir seinen Film zur Begutachtung. In der Eingangssequenz des Films sagt ein Mann zu seiner Frau, er habe sie betrogen. Sie dreht sich langsam um und schaut ihn an. In meinem Film wäre an dieser Stelle das Geschirr geflogen. Sie hätte sich lauthals beschwert und mit Tellern nach ihrem Mann geworfen. In der emotionalen Skala zwischen Kairo und Stockholm wäre ich also eher auf der Höhe von Neapel zu finden (lacht).

Dueblin: Er lief zusammen mit einem Deiner Début-Werke, „Filou“, auch am Basler Gässli Film-Festival, zu dem Dich der Jungfilmemacher Giacun Caduff als Ehrengast eingeladen hatte. Letztes Jahr wurde Xavier Koller eingeladen. Warum hast Du Dich ohne Zögern entschieden, die vielen jungen Filmschaffenden und Filminteressierten zu unterstützen?

Samir: Giacun und seine „Bande“ machen hier etwas sehr Ungewöhnliches für die Schweiz. Sie mobilisieren viele Menschen für die Filmkunst und verströmen Begeisterung für den Film. Mir war die Unterstützung von jungen Talenten schon immer ein grosses Anliegen. Wir haben uns schon in den 90er Jahren um die jungen Regisseurinnen und Regisseure gekümmert, von denen heute viele bekannte Filmschaffende geworden sind. Wir haben deshalb schon 1997 für unsere Produktionsfirma „Dschoint Ventschr“ und unseren Einsatz für junge Filmschaffende den Zürcher Filmpreis verliehen bekommen.

Regisseur Samir mit Kameramann

Regisseur Samir mit Kameramann

Dueblin: Du hast eingangs vom Geschichtenerzählen gesprochen und Deinen Namen erklärt. Geschichten am Lagerfeuer erzählen, war einmal ein sehr günstiges Business-Konzept. Heute sieht das anders aus. Es geht auch in der Filmwelt oft um Geld und Investments.

Samir: Richtig, ohne Geld geht es auch bei uns nicht. Auch wenn wir in der alternativen Genossenschaftsbewegung gross geworden sind, haben wir seit 1994 bei der Dschoint Ventschr AG auch Shareholders. Unser Traum war, dass sich die Menschen im Kollektiv mithilfe der Videotechnik selber darstellen und ausdrücken können. Allerdings haben sich die Gegebenheiten in den letzten Jahren anders entwickelt als wir gedacht hatten. Du kannst heute für einen Bruchteil des Preises, den man vor 20 Jahren für eine professionelle Videokamera bezahlen musste, eine Filmkamera kaufen, die zehn Mal so gut ist, wie unsere Kameras damals. Und natürlich haben nur wenige Menschen, die damals in unserem Kollektiv Video-Kurse besuchten, ihre eigenen Filme gemacht. Wir mussten erkennen, dass der Zugang zu technischen Geräten mit einem vernünftigen Preis nicht ausreicht, um gute Filme zu machen…

Dueblin: Die Schweiz ist ein Sonderfall in Sachen Film. Wir sind nicht nur klein, sondern sprachlich zersplittert, was es für die Filmschaffenden noch einmal schwieriger macht, Absatzmärkte zu finden. Andere Länder sind auch klein, haben sich aber in der Filmbranche durchsetzen können, beispielsweise Dänemark. Machen wir in der Schweiz etwas falsch?

Samir: Die Grösse eines Landes ist ein wichtiges Kriterium. Dazu kommt noch, wie Du richtig sagst, dass in der Schweiz mehrere Sprachen gesprochen werden und die Schweiz über eine sehr differenzierte Gesellschaft verfügt. Es gibt wenige Ort auf der Welt, die so heterogen sind und wo trotzdem der Gestaltungswille einer Nation vorhanden ist. Das ist grossartig und einzigartig. Verschiedenste Kulturen mit verschiedensten Sprachen und Eigenheiten haben sich vor mehr als 150 Jahren entschlossen, miteinander ein Land zu gestalten, so dass es für alle passt. Doch als Filmmarkt ist die Schweiz extrem nachteilig. Wir können als Filmemacher unter 3,5 Mio. deutschsprechenden Menschen nicht Filme produzieren, die sich selber tragen, wie amerikanische Filmschaffende das können, die ein Zehn—oder Hundertfaches an potentiellem Publikum vor sich haben. Die Kinoindustrie in der Schweiz ist deshalb auf die Unterstützung von Bund und Fernsehen angewiesen.

Dueblin: Xavier Koller und Hans Liechti haben im Interview auch über die alten Schweizer Filme gesprochen, die damals herausragend und sehr erfolgreich waren. Heute, rund 60 oder 70 Jahre später, sieht die Filmwelt in der Schweiz anders aus. Wie siehst Du die Entwicklung des Films und den Zustand der Filmlandschaft in der Schweiz?

Samir: Der Markt war damals wirklich ganz anders. Das hat verschiedene Gründe. Damals wurden die guten Filme in der Schweiz noch von einem Millionenpublikum geschaut und der Konkurrenzdruck war nicht so gross wie heute. Wir sprechen von Publikumszahlen, die heute nur noch bei Fussball-Meisterschaftsspielen im TV erreicht werden können. Der Kinomarkt begann durch den Einfluss des Fernsehens zu erodieren und sich weitgehend aufzulösen. Filmemacher wie Franz Schnyder, der beispielsweise bei „Ueli der Knecht“ die Regie führte, und Kurt Früh, bekannt durch „Polizischt Wäckerli“ und „Bäckerei Zürrer“, waren in den 50er Jahren enorm erfolgreich. Doch danach haben sie trotz herausragender Filme, Flops produziert, Filme, die niemand mehr sehen wollte, weil sich der Markt eben verändert hatte. Die Menschen gingen nicht mehr so oft wie früher ins Kino. Es stellte sich somit bald die Frage, wie man den Schweizer Film trotzdem weiter ermöglichen sollte. Es kam zu staatlichen Subventionen und zur Zusammenarbeit der Filmschaffenden mit dem Fernsehen. Daraus entwickelte sich in den 70er Jahren mit dem „68er-Aufbruch“ eine ganz neue Generation von Filmemachern. Viele haben mich in jungen Jahren sehr beeinflusst, vor allem die Filme der welschen Regisseure wie Alain Tanner oder Gorretta. Viele dieser Filmschaffenden waren getragen von einer Stimmung des Aufbruchs und alle haben sozialpolitisch ähnlich gedacht. Diese Phase dauerte vielleicht bis Mitte der 80er Jahre, die Zeit, in der ich und andere Kolleginnen und Kollegen anfingen, Filme zu machen. Doch die westlichen Gesellschaften folgten nicht den Ideen der 68er, sondern wurden immer mehr vom Hedonismus geprägt. Und im übertragenen Sinne unterstützten wir mit unserer Parole aus der radikalen Jugendbewegung: „Legal, Illegal – Scheissegal“ auch diese Tendenz. Jeder sollte machen, was er wollte.

Die meisten Filmschaffenden aus dieser Zeit sind Unternehmer geworden. Ich zähle mich auch dazu. Wir wurden also nicht Lehrer oder Professoren oder arbeiteten für öffentliche Institutionen, gingen auch nicht in die Politik, wie das vorher lange Zeit der Fall war, sondern wir suchten unsere eigenen Wege auch als Unternehmer. Damit haben wir zwar mitgeholfen, dass die Gesellschaft heute liberaler und offener geworden ist. Wir wurden damit aber auch zu den Totengräbern unserer eigenen kulturellen Errungenschaften. All das resultierte auch in den neueren Jugendbewegungen, die sehr unpolitisch geprägt sind, wie beispielsweise der Technoszene. Sie basiert auf Partykultur, Körperkult und Drogen. Zu dieser Szene haben die Filmschaffenden keinen Zugang gefunden. Mit „Snow White“ habe ich sehr spät versucht, mich diesem Thema anzunähern.

Dueblin: Es dürfte sich bei „Snow White“ um Dein bekanntestes Filmwerk in der Schweiz handeln. Der Film war ein grosser Erfolg, hat aber offenbar auch bizarre Diskussionen über Drogen ausgelöst. Wie siehst Du die Wirkung dieses Films heute rückblickend und ganz persönlich?

Samir: (Lacht) Es war schon erstaunlich. Als der Film gezeigt wurde, fing die Polizei in Zürich an, alle Clubs auf Drogen zu durchsuchen und es kam zu vielen Razzien. Dabei gab es diese Clubs schon seit 10 Jahren und sie waren gut frequentiert. „Snow White“ hat übrigens noch eine zweite Karriere gemacht. Der Film wurde in vielen Schulen und in Kirchen gezeigt als abschreckendes Beispiel in Bezug auf die Gefahren von Drogen. Der Film war offenbar gut als Anlass geeignet, um mit Jugendlichen über die Drogenproblematik zu sprechen. Ich selber habe mit dem Film keine moralischen Lehrziele verfolgt. Dieser Effekt hat mich selber sehr erstaunt.

Dueblin: In den letzten Jahren sind einige Filme in der Schweiz produziert worden, die als schweizerische Blockbusters bezeichnet werden könnten. Ich denke an „Grounding“, „Achtung fertig Charlie“, „Mein Name ist Eugen“, „Sennentuntschi“ und „Die Herbstzeitlosen“, alles ganz beachtliche Filmwerke. Was zeichnet diese Filme aus, oder anders gefragt, was haben diese Filme gemeinsam, dass sie in der Schweiz erfolgreich sind?

Samir: Bei allen diesen Filmen beschäftigen sich die Macher konkret mit unserem Land. Die Schweiz ist ein kulturell dermassen reiches Land mit all seinen Geschichten und Legenden wie z.B. „Sennentuntschi“. Wobei ich anmerken muss, dass dieser Film kein finanzieller Erfolg ist. Bei einer solch erdrückenden Medienkampagne und einem Massenstart von 50 Kopien sind 150’000 Zuschauer nicht sehr viel. Doch darum geht es nicht, denn der Film behandelt eine genuin Schweizerische Geschichte, die an die griechischen Sagen erinnert, und ich würde mir wünschen, dass diese Geschichte auch einmal ganz ursprünglich erzählt wird. Die andern Filme behandeln dezidiert Themen, die Berührungspunkte mit unserer Gesellschaft aufweisen, und sind deshalb erfolgreich, weil die Menschen Geschichten aus ihrem eigenen Leben und dem eigenen Kulturkreis sehen wollen. Andererseits steht es für Schweizer Filme, die keinen konkreten Bezug zu unserer Gesellschaft herstellen wollen, weniger gut. Sie sind oft schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Dueblin: Das geht auch vielen Filmen aus anderen Ländern so. Bedauerst Du das als Filmschaffender mit einem breiten kulturellen Hintergrund ganz besonders für die Schweiz?

Samir: Ja, das bedaure ich für die Schweiz ganz besonders. Wir haben mit unserer Kulturförderung und aufgrund unserer demokratischen Gesellschaft die Möglichkeit, in unserer Ausdruckweise sehr frei zu sein. Das ist in anderen Ländern bei Weitem nicht der Fall. Deshalb finde ich es schade, dass man nicht etwas mehr wagt. Als Beispiel, wie man es anders machen könnte, nenne ich immer wieder Dänemark. Dänemark und seine Filmindustrie zeigen schön auf, dass es auch anders geht. Die Speerspitzen der Filmindustrie waren und sind immer die radikalen Filme und nicht der Mainstream.

 

Regisseur Samir am Filmset

Regisseur Samir am Filmset

Dueblin: So wie „Morlove – eine Ode an Heisenberg“, Dein Video-Filmdébut aus den 80er Jahren.

Samir: Ja, auch das war eine Speerspitze, weil ich neue Wege gefunden habe, eine Geschichte zu erzählen, Wege, die damals einzigartig waren. Es kann sich bei der Speerspitze um radikale Themen handeln oder auch um die Anwendung radikaler erzählerischer Mittel.

Ein Blick auf Dänemark lohnt sich sehr: In der Schweiz kann die Filmindustrie alles in allem mit rund 40. Mio. Franken pro Jahr rechnen. Das ist übrigens nur ein Drittel des Geldes, das allein ein Opernhaus Zürich bekommt. In Dänemark kommt die Filmindustrie immerhin auf rund 120 Mio. Franken. Wir sind etwa gleich gross wie Dänemark. Ein Unterschied ist allerdings, dass in Dänemark nur eine Sprache gesprochen wird.

Menschen aus dem dänischen Filmgeschäft, die heute weltberühmt sind, wie etwa Lars von Trier, haben sich durch aussergewöhnliche Filme im Geschäft durchsetzen können. Diese Filme liefen auch nicht sehr gut in den dänischen Kinos, trugen aber den Ruf der dänischen Filmemacher in die Welt. Hätte Dänemark nicht auf solche Menschen gesetzt und sie gefördert, wären solche Erfolge nicht möglich gewesen. Nur eingeschworene Cineasten haben anfänglich diese Filme, auch diejenigen von Lars von Trier, gesehen. Die Resonanz des dänischen Films konnte durch seine Erfolge unglaublich erhöht werden. Dänemark hat heute einen wunderbaren Ruf als Filmland, der bis nach Hollywood reicht. In der Folge konnte Dänemark dann auch viel mehr Mainstream-Filme realisieren.

Dueblin: Man wollte in der Schweiz lange Jahre „populäre“ Filme haben. Sie sind gefördert worden. Mit populären Filmen schafft man aber keine Speerspitzen, wie Du sie wünschst.

Samir: Wir sind ein demokratischer Staat mit vielen Freiheiten für die Bürger. Diese müssen besorgt sein, dass das so bleibt. Es kann auf keinen Fall sein – und das war in der Schweiz leider lange Zeit so -, dass der Staat den Filmschaffenden sagt, was sie tun sollen sprich was sie für Filme produzieren müssen. Auch die Filmschaffenden stellen eine Sicherheit dafür dar, dass der Staat nicht plötzlich eine Eigendynamik entwickelt. Stell Dir mal vor, man hätte Nicolas Hayek vorgeschrieben, welche Uhren er produzieren solle. Das ist nicht Sache des Staates. Hayek war für die Uhrenindustrie auch eine Speerspitze, eine Avantgarde. Wenn der Staat Vorschriften erlässt, wie Filmschaffende zu arbeiten haben, verhindert er, dass sich eine Avantgarde entwickeln kann. Ich glaube aber, dass wir alle viel gelernt haben und sich schon viel verändert hat.

Dueblin: Hans Liechti und Xavier Koller, aber auch viele andere bedeutende und erfahrene Filmschaffende sind klar der Meinung, dass es gelingen muss, gute Geschichten zu erzählen, denn technisch können wir mit Hollywood und Bollywood nicht mithalten. Das leuchtet ein. Nun kommen aber Schweizer und zeigen uns beispielsweise mit Filmen wie „Cargo“, dass wir trotzdem technisch Unerhörtes leisten können. Was können wir von solch unglaublich gut gemachten Filmprojekten lernen?

Samir: Die Grundidee ist grossartig. Ich mag den Film „Cargo“ sehr. Gerne möchte ich noch einmal die Uhrenindustrie bemühen: Wenn man erfolgreich sein will, muss man etwas tun, das aussergewöhnlich ist, beispielsweise Swatch Uhren erfinden und auf den Markt bringen. Der Film „Cargo“ ist für die Schweiz vollkommen aussergewöhnlich. Vergleicht man ihn aber mit anderen Science Fiction-Filmen, ist er einfach einer von vielen guten Science Fiction-Filmen. Die Produzenten und Macher des Films haben aufgezeigt, dass sie mit fast gar keinem Geld etwas so Gutes hervorbringen können, für das andere in Hollywood gleich mal 100 Millionen Franken oder sogar ein Mehrfaches davon benötigen. „Cargo“ ist das beste Promotion-Tool für den Regisseur. Damit zeigt er, dass er es in technischer Hinsicht mit jedem aufnehmen kann – und das mit wenig Geld. Das ist grossartig! Den Machern stehen nun in Hollywood die Türen offen. Der Film ist in der Schweiz jedoch keine 20‘000 Mal gesehen worden.

Noch besser wäre es jedoch gewesen, wenn die Macher von „Cargo“ einen Science Fiction-Film hinbekommen hätten, von dem das Publikum sagen würde, er sei schlicht unglaublich und völlig aussergewöhnlich. Ich denke, man hätte diesen Film mit einem besseren Drehbuch aussergewöhnlicher machen können. Der schwedische Film „So finster die Nacht“ zeigt, wie man das erreichen kann. Der junge Regisseur Tomas Alfredson erzählt darin eine Vampirgeschichte im winterlichen Schweden, eine Geschichte zwischen zwei pubertierenden Kids. Nun könnte man beim Wort Vampirgeschichte anfangen zu gähnen und sagen, das sei alles schon dagewesen. Dieser Film ist jedoch so aussergewöhnlich gut, dass er an jedem Filmfestival auf der Welt gezeigt wurde. Er ist das beste Filmexportprodukt Schwedens der letzten Jahrzehnte. Alfredson schaffte mit einem Avantgarde-Film, an den wohl anfänglich niemand geglaubt hat, den internationalen Durchbruch und arbeitet zurzeit an der John-le-Carré-Verfilmung „Tinker, Tailor, Soldier, Spy“ mit Gary Oldman in der Hauptrolle. Das muss den Filmschaffenden, aber auch jedem Investor und den Filmbehörden in der Schweiz zu denken geben.

Dueblin: Samir, was wünschst Du Dir und der Filmindustrie für die Zukunft?

Samir: Ich wünsche mir mehr radikale Filme, welche sich mit den brisanten Themen in unserem Land auseinandersetzen! Das bringt den Schweizer Film zweifelsohne weiter. Für mich wünsche ich mir ein langes und weiterhin interessantes Leben und hoffe, dass meine Filme weiterhin dispers aussehen.

Dueblin: Lieber Samir, ich wünsche Dir weiterhin alles Gute und viel Erfolg bei Deinen Projekten!

(C) 2011 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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