Bernhard Russi, 1948, gehört zu den bekanntesten Spitzensportlern in der Schweiz und im weltweiten alpinen Skisport. Mit seinem Weltmeistertitel 1970 und seinem darauf folgenden Olympia-Abfahrtssieg in Sapporo im Jahr 1972 wurde er in kürzester Zeit weltbekannt. 30 Jahre alt zog sich Bernhard Russi 1978 aus dem Spitzensport zurück und beschritt neue Wege. Der gelernte Hochbauzeichner plant seit Mitte der Achtzigerjahre im Auftrag der FIS (Fédération Internationale de Ski) Skipisten auf der ganzen Welt, ist als Co-Kommentator am TV tätig und wurde nebst vielem mehr Werbeträger für bekannte Firmen wie Subaru, Intersport, Visilab und Bogner. Die Schweizer Uhrenmarke ALFEX kreierte mit dem Namen Bernhard Russi sogar eine spezielle „Sportedition“! Zurzeit arbeitet er als „Pisten-Architekt“ an den Skipisten für die Olympischen Winterspiele in Sotschi im russischen Kaukasus und lernte dabei auch den ehemaligen russischen Präsidenten Vladimir Putin kennen. Bernhard Russi beantwortet im Gespräch mit Christian Düblin Fragen über die Voraussetzungen für das Bestehenkönnen im Spitzensport, den Umgang mit Siegen und Niederlagen, und von seinen Erfahrungen im Umgang mit Medien und der Öffentlichkeit. Im Sport sieht er Möglichkeiten, künftige Probleme in Bezug auf die Volksgesundheit besser in den Griff zu bekommen und er begreift den Sport als einzige Sprache, die völkerübergreifend von allen richtig verstanden wird.
Dueblin: Sehr geehrter Herr Russi, oft haben Eltern erfolgreicher Kinder wichtige Beiträge zum Erfolg ihrer Kinder geleistet. Was hatten Ihre Eltern für einen Einfluss auf Sie und Ihre Karriere und was haben sie Ihnen auf Ihrem Lebensweg mitgegeben? Bernhard Russi: Wir hatten zuhause traditionelle und klar strukturierte Verhältnisse, wie das damals in der Gegend, in der ich aufwuchs, üblich war. Meine Mutter kümmerte sich um den Haushalt und sie lernte uns Anstand und Ordnung. Mein Vater hat uns Kindern die Arbeitswelt und die Natur näher gebracht. Er war selber ein sehr guter Sportler und somit mein erstes grosses Vorbild. Unsere Wohnung war mit zahlreichen Auszeichnungen und Medaillen bestückt, die er in der Sparte nordische Kombination gewann. Ich würde seine Erziehung heute als sportlich und philosophisch bezeichnen. Als Siebenjähriger fuhr ich mein erstes Rennen, das mit einem Massenstart anfing und welches ich als Erstklässler gewann. Mein Vater war in seiner Funktion als Skiclubpräsident am Ziel und verfolgte dieses Rennen. Als ich zuhause ankam und immer noch im Siegesrausch taumelte, kassierte ich von meinem Vater eine deftige Rüge, die ich bis heute nicht mehr vergessen habe. Er war sehr stolz auf meine Leistung, zeigte mir aber, dass er von meinem mangelnden Respekt meinen Gegnern gegenüber nicht viel hielt. Es könne jeder einmal der Schnellste sein. Das sei kein Grund, sich als besser zu betrachten als andere, meinte er und schloss damit, dass ich zuerst noch ein paar Rennen verlieren müsste, um das zu verstehen und die nötige Demut zu erlangen.
Aus dem Familienalbum (c) Bernhard Russi
Dueblin: Man erzählt sich, Ihr Vater habe Ihnen damals auch gesagt, Sie sollten wieder vom Siegespodest runterkommen, wenn Sie rauf gingen…
Bernhard Russi: (Lacht) Ja, er sagte zu mir damals (WM 1970) ich müsste wieder vom Siegespodest runterkommen, wenn ich nachher mit ihm Abendessen gehen wollte. Das ist ein schönes Beispiel und Lehrstück, um zu zeigen, wie wichtig es ist, als guter Sportler schon in jungen Jahren gute und erfahrene Menschen um sich zu haben. Ich hatte das grosse Glück, nebst meinen Eltern weitere herausragende Menschen zu kennen, die mich ebenfalls sehr prägten. Meine Coaches, meine Trainer und auch Kollegen aus der Mannschaft haben mich vieles gelehrt, worüber ich heute sehr froh bin. Dueblin: Sie gehören zu den prominentesten Menschen in der Schweiz, von denen man sagt, sie seien mit beiden Füssen auf dem Boden geblieben. Eine weitere solche Persönlichkeit ist sicher auch Roger Federer. Was hat Sie nebst Ihren Eltern und Ihrem Umfeld davor bewahrt, trotz Ihrer sowohl sportlichen als auch unternehmerischen Erfolge abzuheben?Bernhard Russi: Ich bin tatsächlich immer sehr bewusst auf dem Boden geblieben. Das habe ich nicht getan, weil ich das etwa als öffentlichkeitswirksam betrachtet hätte, sondern weil es meiner Natur als Mensch und meiner Einstellung dem Leben gegenüber entspricht. Ich hatte nie das Gefühl, ich sei der Beste. Wohl hatte ich aber immer wieder das Gefühl, dass ich ein Rennen gewinnen kann. 1972 beispielsweise wusste ich nach einem intensiven Training, dass ich an den Olympischen Spielen in Sapporo gewinnen könnte, wenn ich mein Bestes gebe. Ich war aber immer auch sehr realistisch eingestellt. Mir war klar, dass ein solcher Sieg auch nur eine Momentanaufnahme ist. Gewinnt jemand ein Skirennen, dann war er in den wenigen Minuten des Rennens der Beste. Wäre das Rennen später durchgeführt worden, wäre das möglicherweise schon nicht mehr der Fall.
Das hat im Übrigen auch dazu geführt, dass ich schon bald angefangen habe mich nicht nur auf mich selber, sondern mich selber vor meinen eigenen Fahrten auf die Fehler meiner sportlichen Gegner zu konzentrieren und diese genau zu analysieren. Ohne die Fehler meiner sportlichen Gegner konnte ich nicht gewinnen. Diese Einstellung und Vorgehensweise hat Vor- und Nachteile: Vorteil ist, dass man dabei vor grausamen Abstürzen nach Niederlagen verschont wird. Nachteil ist, dass man diesen Siegesrausch nicht so erlebt, wie das andere tun. Dieses Gefühl des Rausches ist ein „Extremgefühl“ und es kann hilfreich sein, Seriengewinne zu erringen. Menschen, die so veranlagt sind, glauben, was ihnen ihr Umfeld einflösst. Sie riskieren aber, irgendwann den Sinn für die Realität zu verlieren. Davor habe ich mich selber geschützt.
Dueblin: Es braucht aber für einen Sieg trotzdem eine unerhörte Disziplin und selbst wenn man nicht Erster wird, müssen gewisse grundsätzliche Voraussetzungen wie Ehrgeiz, intensivstes Training und auch eine gewisse sportliche Prädisposition vorliegen. Wo denken Sie, haben Sie schliesslich diese Energie für Ihre Einstellung dem Leben und den Erfolgen gegenüber bekommen und genommen? Bernhard Russi: Es ist sicher Andermatt, ein Ort in den Bergen, der mich sehr geprägt hat. Das Aufwachsen in dieser Bergregion, umgeben von wilder Natur, und die Einstellung den Bergen und Tälern gegenüber führt alleine schon zu einer gewissen Härte und Disziplin, die man zweifelsohne aufweisen muss, um Spitzenresultate zu erzielen. Ich habe schon sehr früh verstanden, dass man nicht nach ganz oben kommt, wenn man nicht mehr macht als die anderen. Ohne einen grösseren Einsatz, als ihn die Mehrheit leistet, kann man den „Olymp“ nicht erreichen. Ich habe oft Bergtouren unternommen und dabei auf den letzten Metern erfahren, wie es ist, nach langen Strapazen noch einmal sein Letztes und Bestes zu geben. Dafür muss man sich selber überwinden. Das sind Erfahrungen, die für mich sehr hilfreich waren. Das formt auch den eigenen Charakter. Schliesslich wusste ich, dass ich diese Bergregion und die Täler und Berge nur überwinden kann, wenn ich Bestresultate erzielen konnte. Dueblin: Sie sprechen vom Überwinden der Bergregion, das ein grosser Ansporn war. Sie sind Andermatt ihr Leben lang sehr treu geblieben. War es aber das Gefühl, die Möglichkeit zu haben, dieser Region zu entfliehen, indem Sie erfolgreich sind? Bernhard Russi: Diese Sicht ist, soweit ich das heute überhaupt objektiv beurteilen kann, erst später entstanden. Wenn ich mich heute zurückerinnere, dann war es nicht mein primäres Ziel, die Bergregion zu verlassen. Das hatte für mich keine Priorität, denn ich fühlte mich glücklich in Andermatt und konnte mich ausleben. Jetzt im Nachhinein habe ich oft das Gefühl, als würde noch mehr dahinterstecken. Oft versteht man gewisse Mechanismen und Verhaltensweise erst im Nachhinein. Ich denke, dass es sich um einen natürlichen Instinkt des Menschen handelt, gewisse Grenzen, auch geographische, überschreiten zu können. Der Mensch will seine Talente möglichst gut nutzen und seine Grenzen erfahren. Er will irgendwo der Beste sein und sucht Anerkennung. Bei einigen ist dieser Wunsch stärker und bei anderen schwächer ausgebildet. Ich hatte oft das Verlangen, der Beste sein zu wollen. Heute weiss ich, dass das mit Anerkennung zu tun hat. Auch ich habe danach gelechzt, Anerkennung zu bekommen. Das hat mich sehr angespornt und mir den Weg auch nach draussen geebnet.
Siegfahrt an der Olympiade in Sapporo 1972: der Zielschuss (c) Bernhard Russi
Im Dezember vor den Spielen kaufte ich mir ein Buch und rechnete mir aus, wie viele Seiten ich jeden Tag lesen musste, so dass das Buch bis zum Vorabend des Rennens ausreichte. Ich wollte damit in einen Routineprozess kommen, der mich abends einschlafen liess. Ich konnte tatsächlich am Morgen des Rennens meine Zähne nicht putzen (lacht). Das war ein ganz aussergewöhnliches Gefühl, wie man es sonst im Leben nicht hat. Im Vorsommer bin ich immer nach Beendigung des Trainings noch einen Olympialauf gefahren. Nach dem Konditionstraining ging ich noch einmal trainieren. Technisch und physisch gesehen, war das nutzlos. Ich tat das aber trotzdem, weil ich mir vor dem Rennen in Sapporo selber eine Antwort auf die Frage geben wollte, warum ausgerechnet ich, Bernhard Russi aus Andermatt, diese Abfahrt gewinnen sollte. Ich wusste meine Antwort auf diese Frage: Ich hatte immer etwas mehr trainiert und investiert als die anderen. Das half mir, mich nicht so unter Druck zu setzen.
Dueblin: Sie hatten damals schon mit Adolf Ogi, dem späteren Bundesrat und UNO-Sonderberater für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden zusammengearbeitet. Was war sein Einfluss auf Sie und Ihre Karriere?
Bernhard Russi: Adolf Ogi hat meine ganze Karriere begleitet und war immer ein Coach von mir. Zuerst war er mein Coach im C-Kader. Dort brachte er uns bei, dass alle 100% Leistung erbringen. Das würden alle tun. Wolle man der Beste sein, müsse man deshalb mehr als 100% leisten. Wir müssten Dinge tun, die wir uns selber anfänglich nicht erklären könnten, meinte er damals. Daraus entwickelte sich mein Wille, immer einen Lauf mehr zu machen und nach dem Training eben noch einmal zu trainieren. Er hat aber nie gesagt, dass man das tun müsse. Er wollte vielmehr, dass jeder selber herausfand, dass diese Einstellung Grundvoraussetzung für den Erfolg im Spitzensport sei. Er war es übrigens auch, der meinen Vater darin unterstütze, dass ich vor und während meiner Spitzensportkarriere unbedingt meine Lehre als Hochbauzeichner fertigmachen sollte. Bei den Vorbereitungen für die olympischen Spiele in Sapporo hat Adolf Ogi dann auch seine absolute Professionalität an den Tag gelegt. Dueblin: Sie haben offenbar Lust und Freude, Risiken und Neues in Angriff zu nehmen. Sie kreieren Uhren, schaffen Golfplätze, moderieren am Fernsehen, schreiben Kolumnen, planen Skipisten und sind Werbeträger für diverse bekannte Firmen. Zudem spielen Sie Golf, Klavier, klettern auf Berge und sind als Unternehmer tätig. Was hält all das im Innersten zusammen? Bernhard Russi: Es gibt wohl nicht nur eine Antwort auf diese Frage (lacht). Es gibt den Treiber, mich in Projekte einzubringen und Ideen umsetzen zu wollen. Das ist heute mein Beruf als Planer von Skipisten auf der ganzen Welt, aber auch mein Job als Verwaltungsrat für eine Bekleidungs- und Modefirma. Das sind Tätigkeiten, die mich sehr erfüllen und bei denen ich sehr kreativ sein kann. Sport ist ebenfalls ein grosser Antrieb für mich. Ich spiele tatsächlich leidenschaftlich Golf und gehe oft auf Klettertouren. Dort reizt es mich, gewisse Grenzen zu erfahren. Schliesslich bin ich auch ein Werbeträger, der sich in der Öffentlichkeit bewegt. Ich setze mich sehr gerne mit Menschen auseinander und geniesse den Austausch mit anderen Menschen. Dueblin: Sie gehören zu den wenigen Menschen, denen nach einer Sportkarriere auch weitere Karrieren gelungen sind. Sie sind in der Öffentlichkeit sehr bekannt und fast jeder Schweizer kennt Ihr Gesicht. Wie erklären Sie sich diesen Umstand? Bernhard Russi: Mir ist heute klar, dass die Schweiz zum Zeitpunkt, als ich meine ersten Siege verzeichnen konnte, ein skisportmässig gebeuteltes Land war. Die Österreicher und Franzosen waren uns damals überlegen und in der Schweiz wartete man auf Siegerinnen und Sieger aus der Schweiz. Das war auch die Zeit, als die Fernsehübertragungen von Skirennen fulminant zunahmen. Sie erinnern sich, dass damals, wenn kein Skirennen ausgestrahlt wurde, das Testbild auf dem Fernseher erschien. Das waren noch ganz andere Zeiten. Ich rutschte als junger Sportler genau in diese Phase der Faszination für Direktübertragungen rein und mein Bekanntheitsgrad wurde deshalb auch sehr gross. Darum kennen mich aus dieser Zeit auch noch alle Menschen. Dazu kam, dass man ein Idol haben wollte, das sportlich sehr gut, aber auch zurückhaltend und anständig war. Das waren sehr schweizerische Ansprüche, die ich erfüllen konnte, ohne mich selber verstellen zu müssen. Später hatte ich immer wieder in der Öffentlichkeit Auftritte bis hin zu Fernsehshows, die ich aber alle nicht geplant hatte. Ich rutschte in einem gewissen Sinne einfach in diese Welt hinein und machte das Beste daraus.
Olympiasieger Bernhard Russi mit Heini Messner und Roland Collombin (c) Bernhard Russi

Noch immer schnell unterwegs… (c) Bernhard Russi
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