Ulrike Babusiaux Xecutives.net-Interview
Ulrike Babusiaux Xecutives.net-Interview

Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux studierte deutsches und französisches Recht an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes. 2005 promovierte sie an der Universität des Saarlandes bei Prof. Dr. Dr. Alfons Bürge. 2009 habilitierte Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux an derselben Universität bei Prof. Dr. Tiziana Chiusi, der heutigen Direktorin des Instituts für Europäisches Recht. In ihrer Habilitationsschrift setzte sich Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux mit dem römischen Rechtsgelehrten Papinian auseinander, einem Schüler des römischen Juristen Quintus Cervidius Scaevola (Papinians Quaestiones – zur rhetorischen Methode eines spätklassischen Juristen, München Beck, 2011). Im Jahr 2009 wurde sie auf die ordentliche Professur für Römisches Recht, Privatrecht und Rechtsvergleichung an die Universität Zürich berufen. Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux ist nebst vielem mehr Mitglied des Comitato Scientifico des CEDANT in Pavia (Centro di Studi e Ricerche sui Diritti Antichi) und Mitherausgeberin der Savigny-Zeitschrift romanistische Abteilung (Rezensionen), die als das wichtigste Publikationsorgan für römisches Recht gilt.

Im Interview mit Xecutives.net gibt Prof. Dr. iur. Ulrike Babusiaux Auskunft zum römischen Recht und seinen Auswirkungen bis in unsere Zeit. Sie beschreibt Entwicklungen des römischen Rechts, das auch aufgrund der „Wiederentdeckung“ der Digesten im 11. Jahrhundert die Grundlage allen kontinentaleuropäischen Rechts bildet. Die Digesten bilden das Herzstück der Kodifikation Justinians, die im 6. Jahrhundert nach Christus ausgearbeitet wurden. Die «Wiederentdeckung» der Digesten sei nicht aus dem Nichts erfolgt, sondern wurde durch eine ungebrochene Tradition des römischen Rechts seit der Antike in bestimmten Teilen Italiens und auch in der römischen Kirche erleichtert. Das römische Recht hatte eine gewisse Attraktivität auch für die Nichtrömer. Es war aber vor allem in den Provinzen das Recht der beherrschenden Macht und hatte damit die Funktion, für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Provinz zum Nutzen Roms auszubeuten. Auch das schweizerische Obligationenrecht (OR) ist gespickt mit römischem Recht. Grund, sich nach diversen anderen Interviews zum Thema Römer, aber auch zu den Kelten (s. Interviews mit Frau Prof. Dr. Christa Ebnöther und Dr. Andres Furger), und im Rahmen einer Interviewserie zum Thema Legal Operations Management mit diesem Nachhall der alten Römer in unserer Zeit auseinanderzusetzen.

Xecutives.net: Sehr geehrte Frau Professor Babusiaux, nur wenigen Menschen ist bewusst, dass das römische Recht wohl den grössten Nachhall der alten Römer in unserer Zeit darstellt. Natürlich gibt es die latein-basierten Sprachen, die alle auch eng mit den Römern und dem römischen Reich verknüpft sind. Auch Architektur und Poesie der Römer wirken nach und werden noch heute bewundert. Das römische Recht jedoch, hat unser Rechtsdenken und viele Gesetze auch in der Schweiz bis heute stark geprägt. Warum wissen nur wenige Menschen von diesen rechtlichen und geschichtlichen Zusammenhängen, obwohl das Recht doch jeden angeht und betrifft?

Ulrike Babusiaux: Sie haben recht, dass das römische Recht nach wie vor – vor allem im kontinentalen europäischen Privatrecht – nachwirkt. Warum das wenig bekannt ist, kann ich nur vermuten. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Rechtswissenschaft nicht Teil des schulischen Regelcurriculums ist; vielleicht ist es aber auch darauf zurückzuführen, dass die Antike in der allgemeinen Ausbildung zu Unrecht bisweilen etwas in Vergessenheit gerät.

Xecutives.net-Interview Ulrike Babusiaux Forum Romanum

Xecutives.net: Das römische Recht hat sich auch im römischen Reich stets weiterentwickelt. Aus den Vorlesungen zum römischen Recht sind mir die vielen symbolischen Handlungen geblieben, die bei manch einem Rechtsgeschäft eine grosse Rolle spielten, so auch Spruchformeln, die man anwendete, um Sachen zu kaufen und zu verkaufen. Der im Jahr 2018 verstorbene Prof. Dr. iur. Pascal Simonius meinte in einer Vorlesung an der Universität Basel, dass diese Spruchformeln eine «göttliche Dimension» aufwiesen. So sei es beispielsweise nicht möglich gewesen, dass Schauspieler sich in einer Theateraufführung vor dem Publikum verheirateten, da die entsprechenden Sprüche so tiefgreifend wirkten, dass die Schauspieler von den Göttern als wirklich verheiratet gegolten hätten. Diese Aussage des Professors war sehr exotisch und trug natürlich auch zur Erheiterung der Studierenden bei. Diese Tradition von symbolischen Handlungen jedoch darf nicht unterschätzt werden und sagt wohl auch viel zum römischen Recht und seiner Entwicklung aus.

Ulrike Babusiaux: Ja, diese rituelle Funktion und Kraft vieler römischer Rechtshandlungen ist sehr beeindruckend und aufschlussreich. Sicher gibt es hier einen irrationalen Teil, der sich zum Beispiel auch im römischen Aberglauben zeigt, der etwa dafür sorgt, dass man in Testamenten den Tod einer Person nur dann berücksichtigen kann, wenn man Formeln hinzufügt, die betonen, dass man diesen Tod auf keinen Fall wünscht. Noch interessanter finde ich aber, dass die historische Erfahrung uns darüber nachdenken lässt, welche Rituale und welche Symbole heute noch im Recht oder auch im Alltag wirksam sind.

Derartige Handlungen sind nicht nur Relikte aus vergangener Zeit oder überkommener Ballast, sondern haben oftmals auch eine spezifisch juristische Funktion, zum Beispiel die Herstellung von Öffentlichkeit oder Vergegenwärtigung für den Handelnden, sollen also die Ernsthaftigkeit des Handelns unterstreichen und die (möglicherweise) weitreichenden Rechtsfolgen in Erinnerung rufen. Ausserdem ist zu bedenken, dass wir die frühe Zeit der römischen Rechtsentwicklung nur aus den späteren Schilderungen der späten Republik und Kaiserzeit kennen, die bisweilen aus einem ganz besonderen Grund, entweder die Frühzeit verherrlichen oder aber als archaisch und primitiv kennzeichnen wollen. Vielleicht noch am ehesten weiterführend ist hier die Rechtsanthropologie oder Rechtsethnologie, welche die archäologischen Befunde deuten und durch Analogien zu anderen Völkern erhellen kann.

Xecutives.net: Wir wissen aus der Geschichte, dass es mit dem Weströmischen Reich Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. zu Ende ging. Das römische Reich zerfiel und andere Kräfte übernahmen die Macht; so bspw. die Alemannen auch im heutigen Deutschland und auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Es folgt in Europa später die grosse Zeit der Franken mit Karl dem Grossen. Erst sehr viel später, im 11. und 12. Jahrhundert, traten die römischen Gesetzeswerke und Rechtsschriften jedoch wieder zum Vorschein und in unser Bewusstsein. Wie muss man sich diese Zeit zwischen dem Untergang des römischen Reiches und dem Wiederentdecken der alten Gesetzessammlungen in Sachen Recht vorstellen? Was waren zuvor auf unserem Kontinent die rechtlichen Grundlagen? Und wo lagen all die Bücher und Schriften zum römischen Recht versteckt?

Ulrike Babusiaux: Sie schildern die Geschichte von der «Wiederentdeckung der Digesten» im 11. Jahrhundert, so wie man sie in vielen Lehrbüchern lesen kann. Die Digesten sind das Herzstück der Kodifikation Justinians im 6. Jahrhundert. Sie umfassen Fragmente aus den Schriften der römischen Juristen aus dem 1.-3. Jahrhundert und geben damit Einblick in juristische Kontroversen und die Argumentationsweise dieser Juristen, die bereits die wichtigsten Institute des Privatrechts, wie Vertrag, Testament, Besitz, Eigentum etc. kennen und in geschickter Weise mit allgemeinen Prinzipien verknüpfen.

Hauptargument für diese Annahme ist, dass die Digesten bis zum 9. Jahrhundert vor allem im kirchlichen Kontext noch zitiert werden, dann aber bis zur Rechtsschule von Bologna im 11. Jahrhundert nicht mehr. Ein ideologischer Einschlag dieses Narrativs ist aber nicht zu übersehen: Mit der Spätantike und der Völkerwanderung kommt der Untergang Roms, woraus der Untergang der römischen Rechtskultur geschlossen wurde. Die heutige Forschungsposition ist zu recht viel nuancierter, und ein grosses EU-Projekt an der Universität Pavia (REDHIS) hat gezeigt, dass die Kontinuitäten viel grösser sind, als man bisher angenommen hat. In diesem Projekt hat man die Schriftzeugnisse der römischen Rechtstradition in der Spätantike untersucht und dargelegt, dass es zwar eine Veränderung der Rechtskultur gab, die den neuen – nennen wir sie: «staatlichen» und «gesellschaftlichen» – Gegebenheiten Rechnung trug; das römische Recht war aber nicht vergessen, sondern lebte fort, indem es zusammengefasst, interpretiert und unterrichtet und vor allem auch angewendet wurde. Natürlich nicht mehr so, wie wir es uns für das 1.-3. Jahrhundert n. Chr. vorstellen, aber eben in anderer und für die Zeit passender Form.

Dies gilt übrigens auch für Karl den Grossen selbst: Im Frankenreich war das Breviar im Umlauf, eine Kurzfassung des Codex Theodosianus angereichert um Auszüge aus Juristenschriften und Novellen; dieses stand neben bzw. war verwoben mit Aufzeichnungen des Gewohnheitsrechts der Franken, das seinerseits vom römischen Recht beeinflusst war. Die Kontinuität ist also grösser und differenzierter zu sehen, als dies eine recht verkürzte schematische Darstellung aus einem Lehrbuch glauben lässt.

Gerade für die Rechtsschule von Bologna und für ganz Norditalien ist übrigens schon lange vermutet worden, dass die «Wiederentdeckung» der Digesten nicht aus dem Nichts erfolgte, sondern durch eine ungebrochene Tradition des römischen Rechts seit der Antike erleichtert wurde. Sicher ist nämlich, dass die anderen Texte der justinianischen Tradition, das heisst die Institutionen (Justinians), der Codex (mit den Kaiserkonstitutionen) und auch die Novellen (Justinians) niemals ganz in Vergessenheit geraten waren. Die Kenntnis dieser Texte und ihrer Inhalte ermöglichte überhaupt erst die Lektüre und die Einsicht in die Bedeutung der Digesten.

Xecutives.net-Interview Ulrike Babusiaux Kodifikation Justinian

Xecutives.net: Dieses „Wiederentdecken“ des Römischen Rechts resultierte auch in der Gründung der ersten Universitäten, so auch der Universität Bologna, noch heute eine führende Denkanstalt. Wen traf man dort damals an den Vorlesungen gerade auch zu rechtlichen Themen an? Offenbar waren ja auch „Schweizer“ und auch sonst viele Studenten aus ganz Europa unter den Studierenden. Was veranlasste diese Menschen bspw. nach Bologna zu reisen, zu einer Zeit, als noch gar nicht klar war, wie sich das römische Recht überhaupt entwickeln würde?

Ulrike Babusiaux: In der Tat war Bologna ein Zentrum der Rechtswissenschaft und zwar schon recht bald nach der «Wiederentdeckung der Digesten», also etwa ab dem 12. Jahrhundert. Die Studenten kamen aus ganz Europa, und auch aus der Schweiz. Man erklärt diese Attraktion mit der hohen Technizität und dem praktischen Nutzen der in Bologna erteilten Rechtslehren: Die Städte erlebten überall in Europa einen Aufstieg und der Handel nahm zu; diese Entwicklung verlangte Juristen, die bei Streitigkeiten gute Lösungen anbieten konnten und Verträge mit komplexen Klauseln aufsetzen konnten. Der Nutzen war also ganz direkt; dies gilt natürlich auch für die kirchliche Anwendung des römischen Rechts, denn das weltliche und das kanonische Recht wurden in Bologna ja gemeinsam nach den gleichen Methoden unterrichtet und dabei fortentwickelt.

Xecutives.net: Sie erwähnen Justinian, den Kaiser des Oströmischen Reiches in Konstantinopel. Er war es, der für die Abfassung und Veröffentlichung des Codex Iustinianus verantwortlich zeichnet. Justinian hatte sich damals zum Ziel gesetzt, die geltenden Gesetze zusammenzufassen und zu ordnen. Wie muss man sich dieses Unterfangen vorstellen? Wie ist Justinian diese Aufgabe angegangen und was hat ihn persönlich motiviert, diese Riesenarbeit auf sich zu nehmen? Wo fand er alle benötigten Rechtstexte?

Ulrike Babusiaux: Justinian erklärt in seinen Einführungskonstitutionen zur Kompilation, dass er Rechtssicherheit schaffen und endlich verlässliche Rechtstexte zur Verfügung stellen wolle. Man geht davon aus, dass er hiermit einerseits auf die Probleme verweist, welche die ausufernde Gesetzgebungstätigkeit der spätantiken Herrscher bereitete, indem sie zu einem fast unkontrollierten Anwachsen der Bestimmungen führten, so dass es bis heute schwierig ist, den genauen Inhalt des spätantiken Rechts zu einer Frage zu durchdringen; andererseits könnte der Kaiser auf ein Überlieferungsproblem anspielen: Die römischen Juristen, wie sie dann von ihm in den Digesten gesammelt wurden, galten bis in seine Zeit als Autoritäten vor Gericht und konnten entsprechend als Stütze der eigenen Position zitiert werden. Offenbar gab es aber zunehmend das Problem, dass die Schriften nicht verfügbar waren und/oder dass es Fälschungen juristischer Schriften gab, die einfach vor Gericht zitiert wurden, um den Gegner zu widerlegen.

Als persönliches Motiv ist aber vor allem daran zu denken, dass Justinian das römische Reich wiederherstellen wollte – er führte entsprechende Kriegszüge in Italien und Afrika – und hierzu gehörte auch die Wiederherstellung des römischen Rechts, das ja bereits in der Antike ein besonderes Ansehen genoss. Wie es Justinian und vor allem den Kompilatoren um seinem «Justizminister» Tribonian gelang, die Masse an Büchern zu sammeln, zu lesen, zu exzerpieren und zusammenzustellen, ist bis heute in der Forschung umstritten. Sicher ist allerdings – wie nun auch das Projekt aus Pavia nochmals belegt –, dass die justinianischen Juristen ihr Material sehr gut kannten und vermutlich nicht erst für die Kompilation lasen und auswählten, sondern bereits zuvor im Rechtsunterricht und in der Rechtspraxis verwendeten. Gerade im östlichen Reichsteil (und vor allem in Byzanz selbst) waren diese Texte vermutlich noch gut greifbar und durch Abschriften und Neuausgaben kontinuierlich überliefert worden. Von daher war es inhaltlich möglicherweise mehr eine Fixierung des Status quo (und eine Sicherung der textlichen Grundlage) als eine Reform im Sinne einer gänzlichen Neuorientierung. Reformatorisch war aber natürlich der Anspruch, nunmehr nicht mehr die «alten» Juristen zu zitieren, sondern Justinian.

Xecutives.net-Interview Ulrike Babusiaux Colosseum

Xecutives.net: Beim römischen Recht, wie es die alten Römer betrieben haben, ging es nicht nur um den Gerechtigkeitsgedanken. Das römische Recht war einer der Pfeiler, auf denen die römische Wirtschaftsmacht basierte. Sicher war auch die Sklaverei ein solcher Pfeiler. Was war damals die Bedeutung des römischen Rechts für die Wirtschaftsmacht Rom? Was war seine politische und aber auch seine kulturelle Dimension?

Ulrike Babusiaux: Das sind viele Fragen auf einmal. Und sie sind sicher nicht für alle Zeiten und alle Provinzen gleich zu beantworten. Für die Provinzen, aus denen wir Näheres wissen, das heisst vor allem denjenigen aus dem griechischsprachigen Osten des Reiches (und Ägypten) können wir wohl sagen, dass das römische Recht tatsächlich eine gewisse Attraktivität auch für die Nichtrömer hatte. So gibt es berühmte Beispiele von Nichtrömern, die sich an die römischen Instanzen wandten, um Recht zu erhalten. Gerade im «Wirtschaftsrecht» und im Handel ist aber zu beobachten, dass nicht nur römisches Recht vor den (römischen Gerichten) angewendet wurde, sondern eben auch lokales Recht. Wie die jüngere Forschung, vor allem zu Ägypten nahelegt, waren es vor allem die Notare und Schreiber, die hier ihre Rechtstraditionen am Leben hielten und auch römischen Bürgern zugänglich machten. Bedingung für diesen Erfolg eines rechtspluralistischen Systems war aber natürlich, dass die römische Administration bereit war, diese «fremden» Vertragskonstrukte anzuerkennen oder sie sich gar zu eigen zu machen.

Natürlich sollte man aber die Situation auch nicht zu idyllisch zeichnen: Das römische Recht war in den Provinzen auch das Recht der beherrschenden Macht und hatte damit die Funktion, für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Provinz zum Nutzen Roms auszubeuten.

Die kulturelle Dimension des Rechts tritt – soweit ersichtlich – vor allem in der Spätantike zu Tage; dies zeigt schon das Beispiel Justinians; aber auch andere Nachfolgereiche auf früherem römischem Territorium beziehen sich auf das römische Recht als Ausdruck der (vergangenen und von ihnen imitierten) römischen Herrschaft.

Xecutives.net: Das Recht reflektiert ja auch immer die Ansichten derjenigen, die für dieses Recht zuständig zeichneten. Aus dieser Reflektion lassen sich, auch heute in modernen Gesetzen, Rückschlüsse auf eine Gesellschaft, ihre Kultur und auf die Machtverteilung schliessen. Wo erkennen Sie bei der Lektüre von römischem Recht und alten römischen Rechtsfällen solche Reflexionen? Wo kann der Jurist zur Ergründung der römischen Gesellschaft und Kultur beitragen, möglicherweise auch heute noch?

Ulrike Babusiaux: Die Rechtsquellen, wie sie vor allem bei Justinian gesammelt sind, geben mannigfaltigen Aufschluss über  sozialhistorische Fragestellungen, zum Beispiel zur Stellung von Mietern und Vermietern, zur geschäftlichen Tätigkeit von Frauen, zur Behandlung von Sklaven, aber auch zu Strategien, um Steuern zu sparen und den Zugriff des Fiskus auf Erbschaften zu verhindern. Nicht gänzlich geklärt ist dabei, ob die Rechtsfragen, die in den Digesten diskutiert werden, für alle Römer von Interesse waren, oder eher eine «Elite» oder «obere Mittelschicht» interessierten. Vielleicht ist diese Frage auch falsch gestellt, denn die Literatur der römischen Juristen war eine Fachliteratur, die sich vor allem an die Fachgenossen richtete und daher weniger mit wirtschaftlichen Gegebenheiten als mit juristisch-technischen Konstruktionen befasst war, die zunächst einmal unabhängig von der gesellschaftlichen Machtposition der Beteiligten zu klären waren.

Wie bei allen historischen Wissenschaften kann das römische Recht dem heutigen Juristen (und Nichtjuristen) Einsichten in die eigene Zeit vermitteln. Zu den zurzeit interessantesten Fragen zählt ja die gleichzeitige Anwendung von Rechtsquellen ganz verschiedener Provenienz, wie dies vor allem in den EU-Mitgliedstaaten, aber eben auch für die Schweiz, die viel EU-Recht autonom nachvollzieht, gilt. Eine vergleichbare methodische Herausforderung stellte sich schon den römischen Juristen, die neben dem stadtrömischen Zivilrecht (ius civile), das ius gentium, verstanden als die zwischen allen Menschen existierenden, gleichsam natürlichen Rechtsregeln, und das prätorische Recht als Inbegriff der vom römischen Gerichtsmagistraten geschaffenen Regeln anzuwenden hatte; ganz zu schweigen, von den vielen, oftmals nicht widerspruchsfreien Einzelentscheidungen der römischen Kaiser. Eine derartige Gemengelage verlangt vom Juristen, nach klaren methodischen Vorgaben vorzugehen, um Willkür zu vermeiden. Es ist faszinierend, den hierfür entwickelten Argumentationssträngen nachzugehen und die Auslegungs- und Anwendungskunst der Juristen zu studieren.

Xecutives.net-Interview Ulrike Babusiaux Roemischer Rechtsgelehrter

Xecutives.net: Noch heute nehmen Richter in schwierigen Fällen Bezug auf die alten Römer und ihre Rechtsgedanken und –ansichten, so geschehen auch im sogenannten „Papageienfall“ des Schweizerischen Bundesgerichts aus dem Jahr 2007 (BGE 133 III 257). Erzähle ich Studierenden von diesem Fall und den Römern, sind die meisten überrascht. Was suchen Richter heute in den alten Codices/Digesten und was bietet ihnen das römische Recht bei einer Falllösung auch in unserem Zeitalter?

Ulrike Babusiaux: Ich bin keine Richterin, weshalb ich die Frage nicht beantworten kann; was ich sagen kann, ist, dass es für den Rechtsunterricht und die Universität immer noch sehr anregend ist, wie die römischen Juristen Probleme lösen. Die moderne kontinentaleuropäische Rechtsanwendung geht ja vom Gesetzestext aus, unter den der Fall zu subsumieren ist; dagegen ist das römische Recht «kasuistisch», denkt also vom Fall her. Wenn man also im Rahmen der Digestenexegese die Fallreihen der Juristen liest, lernt man erstens, vom Fall her zu denken und das Rechtsproblem auch vom Sachverhalt her anzugehen, was komplementär zur Ausbildung an der Gesetzesinterpretation ist. Zweitens lernt man, in Alternativen zu denken, also den Fall abzuwandeln und sich dadurch dem Grenzfall zu nähern, an dem die Standardlösung oder das anerkannte Prinzip vielleicht nicht mehr zu gerechten Lösungen führt.

Xecutives.net: In diesem Fall hat sich das Bundesgericht gegen die Sicht der römischen Rechtsexperten ausgesprochen, was zu grossen Diskussionen geführt hat. Hat Sie dieser Fall ebenfalls beschäftigt?

Ulrike Babusiaux: Der sog. Papageienfall ist natürlich fester Bestandteil der Vorlesung Obligationenrecht-Besonderer Teil, die ich in Zürich mehrfach lesen durfte. Er ist didaktisch sehr schön, weil er sehr anschaulich ist und die Fakten das Problem für den Student*innen sofort erfassbar machen. Auch die Begründung ist sehr interessant zu lesen und die Argumentation ist sehr sorgfältig, weshalb ich ihn immer zur vertiefenden Lektüre empfehle, wie ich überhaupt die genaue Befassung mit Entscheidungen des Bundesgerichts im Studium für zentral halte und den Student*innen von Anfang an nahe lege. Auch diese Fälle bilden nämlich das Anschauungsmaterial, um das Gesetz tiefer zu verstehen. Und genau wie die römische Kasuistik hat auch das Bundesgericht oft Grenzfälle zu entscheiden, die sich von der Standardanwendung des Gesetzes entfernen.

Xecutives.net: Mir scheint selber als Unternehmensjurist in der Industrie das Thema Gewährleistung ein sehr spannendes Thema zu sein, um auch auf die Römer und ihre rechtlichen Überlegungen aufmerksam zu machen. Mit dem Thema lässt sich in einer Industrie nicht nur Wertschöpfung betreiben, sondern es lassen sich auch geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge vermitteln. Die Regeln der Gewährleistung sind offenbar über 2000 Jahre alt und galten zunächst für den Sklavenhandel, über den wir heute sehr viel wissen. Was überzeugt an diesem rechtlichen Gedankenkonstrukt, so dass es im Schweizerischen Obligationenrecht immer noch gleich daherkommt, wie bei den alten Römern? Auch heute noch kann man unter gewissen Voraussetzungen einen Kauf wandeln oder einen Kaufpreis mindern.

Ulrike Babusiaux: Die Geschichte des Edikts der kurulischen Ädilen, die als «Erfinder» der Sachmängelgewährleistung beim Sklavenkauf und beim Kauf von Zugtieren gelten, ist in der Tat faszinierend. Ich glaube allerdings nicht, dass es die Überlegenheit der Regelung war, die zur Übernahme in die modernen Gesetzbücher geführt hat, sondern erstens die generelle Autorität des römischen Rechts und zweitens das, was mein akademischer Lehrer immer als Reihe von «fruchtbaren Missverständnissen» bezeichnet hat, also eine Neuinterpretation der römischen Texte mit Blick auf die aktuellen Bedürfnisse einer rezipierenden Zeit.

Aber gerade diese Missverständnisse, also die Umdeutungen und Anpassungen einer bestehenden Regelung an das Verständnis einer neuen Zeit, sind natürlich das Spannende an der Rechtsgeschichte.

Xecutives.net-Interview Ulrike Babusiaux Roemer

Xecutives.net: Es gibt Spezialisten, die eine Abkehr vom römischen Recht feststellen und das bspw. auch im Rahmen der europäischen Gesetzgebung sehr bedauern. An vielen Universitäten muss heute des Weiteren kein Latein mehr gebüffelt werden und damit zusammenhängend ist oft auch das Fach Römisches Recht nicht mehr obligatorisch oder es wird gar nicht mehr angeboten. Was stellen Sie heute diesbezüglich fest?

Ulrike Babusiaux: Ich bin eigentlich optimistisch und habe in meinen 10 Jahren in Zürich sehr gute Erfahrungen mit dem römischen Recht auch bei Student*innen gemacht, die kein Latein konnten. Viele haben mir hinterher gesagt, dass sie es vielleicht doch in Schulzeiten einmal mit dem Latein hätten versuchen sollen. Und es geht auch mit Übersetzungen, jedenfalls im Rahmen des Studiums. Für eine Doktorarbeit braucht es natürlich gute Lateinkenntnisse, wobei man auch dann die juristische Terminologie erst lernen muss, die man ja nicht von der Schule mitbringt.

In Zürich ist das römische Recht noch im Pflichtcurriculum und ich habe oftmals von Absolvent*innen Jahre später noch Emails bekommen, dass die Vorlesung über römisches Recht eigentlich die Wichtigste gewesen sei, weil sie dort das juristische Denken im Privatrecht geübt hätten. Und das ist auch das, was m.E. jede/r Student*in mitnehmen kann, auch wenn er/sie sich nicht für Geschichte interessiert: Man kann am römischen Recht, an der römischen Kasuistik lernen, juristische Probleme zu lösen bzw. überhaupt erst zu erfassen. Und diese Chance sollte man sich nicht entgehen lassen.

Ob das römische Recht als Vorlage einer europäischen Gesetzgebung taugt, wage ich nicht zu beurteilen; richtig ist, dass es die Rechtsvergleichung in Kontinentaleuropa vereinfacht, weil die wichtigsten Kernbegriffe aus der gleichen Quelle stammen und die rechthistorisch-vergleichende Analyse sofort zeigt, wo eine nationale Tradition einen anderen Weg gegangen ist als eine andere. Von daher glaube ich, dass der Hauptwert des römischen Rechts nicht darin liegt, fixe Lösungen anzubieten, sondern Instrumente für die Entwicklung von Lösungen, und das heisst erst einmal für das bessere Verstehen der Rechtstradition, zur Verfügung zu stellen. Hierzu muss man allerdings weniger das antike römische Recht, als die mittelalterliche und frühneuzeitliche Tradition untersuchen und dies ist und bleibt ein Desiderat, weil viele Römischrechtler*innen (ich eingeschlossen) eher die Antike betrachten und viele Rechtshistoriker*innen des Mittelalters weniger die römischrechtliche Tradition als die lokale Rechtssetzung.

Xecutives.net: Frau Professor Babusiaux, gerne möchte ich Sie abschliessend fragen, wohin sich auch das römische Recht in Zukunft entwickeln wird? Wird es weiterhin seine Geltung behalten oder wird es abgelöst durch neue rechtliche Denkansätze?

Ulrike Babusiaux: Meine Hoffnung wäre, dass die Auseinandersetzung mit diesem rechtlichen Erbe nicht aufhört, sondern die Jurist*innen auch in Zukunft befähigt, kritisch und konstruktiv über die Bewältigung rechtlicher Probleme nachzudenken. Es geht ja in der Rechtswissenschaft nicht nur darum, bestimmte fertige Lösungen anzubieten, sondern vor allem darum, bestehende Lösungsansätze kritisch zu hinterfragen und neue Probleme anzugehen.  Neue «Denkansätze» können m.E. nur dann zu neuen Lösungen führen, wenn sie auf einer sauberen Methodologie, profunden Kenntnissen des Rechts wie der Rechtsphilosophie und der Rechtsgeschichte beruhen und von dem inneren Willen getragen sind, Gerechtigkeit zu erzielen.

Xecutives.net: Sehr geehrte Frau Babusiaux, ich bedanke mich für die Zeit, die Sie sich für dieses Interview genommen haben und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihren Lehr- und Studientätigkeiten!

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