Prof. Dr. Luzius Wildhaber (gestorben 21. Juli 2020) darf zweifelsohne als einer der berühmtesten Schweizer seiner Zeit bezeichnet werden. 2014 stellte er Xecutives.net einen Beitrag zur Annexion der Krim durch Putin und Russland zur Verfügung, der acht Jahre später, und 2 Jahre nach dem Tod von Luzius Wildhaber, nicht aktueller sein könnte.
Der gelernte Jurist und Völkerrechts- sowie Menschenrechtsexperte wurde 1975 von Fürst Franz Josef II. als Richter an den Staatsgerichtshof in Liechtenstein berufen, ernannte die „Drei Weisen“, die im Jahr 2000 angebliche Menschenrechtsverletzungen in Österreich überprüfen mussten und war Rektor der Universität Basel. Von 1998 bis 2007 war er Richter und Präsident des neuen vollamtlichen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Professor Wildhaber war in zahlreichen internationalen Gremien als Rechtsexperte tätig und durfte in seiner nationalen und internationalen Karriere gut ein Dutzend Orden aber auch ein Dutzend Ehrendoktorate entgegen nehmen. Sein Text vom 18. Dezember 2014 über die Krim, die Ostukraine und das Völkerrecht zeichnete schon damals ein bedenkliches Bild von Putin und seinem Völkerrechtsverständnis.
Im Folgenden der ganze Text von Prof. Wildhaber vom Dezember 2014 (hier als pdf):
1) Geschichte: Die Halbinsel Krim war ab 1478 etwa 300 Jahre lang ein Vasallenstaat (Chanat) des ottomanischen Reiches(1). Danach folgte eine längere Periode, in der die Zarin Katharina II Programme zur Besiedlung und Kolonisierung der Ukraine und der Krim zu verwirklichen suchte(2). 1783 liess sich Russland in der Gegend von Sewastopol nieder und proklamierte die Zugehörigkeit der Krim zum russischen Reich.
2) Chruschtschews Geschenk 1954: 1954 „schenkte“ der sowjetische Parteiführer NIKITA CHRUSCHTSCHEW die Krim der Ukraine. Präsident WLADIMIR PUTIN behauptete 60 Jahre später, seine Annexion der Krim habe die seinerzeitige Rechtswidrigkeit korrigiert und damit den ursprünglichen, aus seiner Sicht rechtmässigen Zustand wiederhergestellt. Dies trifft jedoch nicht zu. Erstens stimmten 1954 das Präsidium sowohl des russischen wie des ukrainischen Obersten Soviets der Übergabe der Krim zu(3). Der Oberste Soviet der UdSSR billigte darauf den Transfer. Verfahrensfehler sind keine zu entdecken. Zweitens kann sich Russland nicht darauf stützen, dass seine eigene Führung vor 60 Jahren rechtswidrig oder unzweckmässig entschieden habe. Und der Ukraine sind keine Vorwürfe für ihr seinerzeitiges Verhalten zu machen(4). Sogar wenn – drittens – CHRUSCHTSCHEWs Entscheid falsch gewesen wäre, hat Russlands Politik den damaligen Transfer zwar wiederholt kritisiert, aber nie in einer völkerrechtlich relevanten Art und Weise. Statt Protest zu erheben, schloss Russland Verträge mit der Ukraine ab, welche die Unverletzlichkeit der Grenzen ausdrücklich gewährleisten. Nach Treu und Glauben ist die Zeit längst vorbei, innerhalb derer Russland allenfalls hätte protestieren müssen.
3) Zerfall der UdSSR 1991: In den Jahren 1988-1991 zerfiel die Sowjetunion (UdSSR). Nach einer ersten Serie von Souveränitätserklärungen der Unionsrepubliken und einer zweiten Serie von eigentlichen Unabhängigkeitserklärungen erklärten am 21. Dezember 1991 elf Republikpräsidenten in Alma-Ata, dass die UdSSR mit der Bildung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ihre Existenz beende. Vorausgegangen waren die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen mit sukzessiven Souveränitätserklärungen, Unabhängigkeits- Beschlüssen, -Referenden und -Erklärungen(5). Die internationale Staatengemeinschaft anerkannte die Neustaaten binnen kurzem(6), und zwar in den Grenzen der bisherigen Unionsrepubliken. Sie befolgte dabei den Grundsatz uti possidetis, wonach frühere inner- oder bundesstaatliche Grenzen als internationale anzuerkennen sind(7).
4) Janukowitschs Sturz 2014: Im Winter 2013/14 demonstrierten unterschiedliche Gruppierungen monatelang auf dem Maidan-Platz(8) in Kiew gegen das „autoritär-kleptokratische Regime“ (MICHAIL SCHISCHKIN) von Präsident VIKTOR JANUKOWITSCH(9) und für „die Hoffnung auf ein normales Leben in einem normalen Land“ (MYKOLA RJABTSCHUCK)(10). Der Befehl, auf die Demonstranten zu schiessen, kostete etwa hundert Personen das Leben. Daraufhin kippte am 21.-23. Februar 2014 die Lage. Präsident JANUKOWITSCH flüchtete nach Russland und wurde vom ukrainischen Parlament abgesetzt. Fraktionsmitglieder seiner eigenen Partei der Regionen erklärten, er habe das Land geplündert, trage die Schuld an der leeren Staatskasse,
sei verantwortlich für die Schiessbefehle und die Toten und habe Schande über die Ukraine gebracht. Der Parlamentsvorsitzende O. TURTSCHINOW wurde zum Übergangspräsidenten gewählt und später durch den am 25. Mai 2014 mit klarem Mehr vom Volk gewählten PETRO POROSCHENKO abgelöst; A. JAZENJUK wurde Übergangsregierungschef.
5) Annexion der Krim 2014: Wenige Tage nach dem Umsturz begann die schleichende Annexion der Krim. Es erschienen gut organisierte grüne Männlein, die nie erklärten, woher sie kamen, mit russischen Befehlshabern, Waffen, Panzern, Flugzeugabwehrraketen und Ratnik- Kampfanzügen. Sie besetzten – unter den Augen passiver ukrainischer Sicherheitskräfte – öffentliche Gebäude, räumten Waffenlager der Polizei aus, besetzten Flugplätze und erlangten binnen weniger als zwei Wochen die totale operative Kontrolle über die Krim. Unterdessen glaubt man zu wissen, dass Russland Armee- und Geheimdienstoffiziere, Kriegsveteranen (vor allem aus dem Kaukasus), paramilitärische Organisationen und Söldner planmässig eingesetzt hat. PUTIN selbst hat dies nachträglich zugegeben(11). Angesichts des ausschlaggebenden Einsatzes von Personal, Waffen und politischer Unterstützung kann kaum Zweifel an Russlands völkerrechtlicher Verantwortlichkeit bestehen.
Am 1. März 2014 liess sich Präsident PUTIN vom russischen Parlament ermächtigen, nach seinem Ermessen mit russischen Streitkräften auf dem Staatsgebiet der Ukraine zu intervenieren.
Am 27. Februar 2014 beschlossen etwa 40 der 100 Parlamentarier der Krim in dem von prorussischen
Bewaffneten besetzten und überwachten Parlamentsgebäude in Simferopol, die lokale Regierung von A. MOHYLOW abzusetzen. Danach sollte am 25. Mai 2014 ein Referendum über den Verbleib der Krim in der Ukraine stattfinden. Die ukrainische Verfassung lässt ein solches Referendum nur im Gesamtstaat, nicht in Regionen des Landes zu. Das Datum wurde zweimal vorverschoben bis auf den 16. März 2014. Damit standen noch etwa 10 Tage zur Vorbereitung des Plebiszits zur Verfügung.
Als offizielles Ergebnis des Krim-Plebiszits wurde mitgeteilt, es hätten bei einer Stimmbeteiligung von 83% knapp 97% der Wähler für den Anschluss an Russland gestimmt(12). Diese Zahlen sind durchaus unplausibel. Auf der Krim wohnen 58-59% Russen, 24-25% Ukrainer und 12-13% Krimtataren. Die Krimtataren hatten zum Abstimmungs-Boykott aufgerufen, und die Ukrainer stimmten sicher nicht alle für den Anschluss an Russland. PUTINs Menschenrechtsrat teilte später wesentlich glaubwürdigere Zahlen mit, nämlich dass bei einer Stimmbeteiligung von 30-50% etwa 50-60% der Stimmenden für den Anschluss optiert hätten(13).
Das Krim-Plebiszit war somit illegal und manipuliert. Das Verfahren war unklar und ohne gesetzliche Grundlage; es stand nicht genügend Zeit zur Verfügung, um Abstimmungsunterlagen und Wahllisten vorzubereiten und eine offene Kampagne zu führen; die Opposition kam nicht zum Wort; die offiziell angegebenen Ergebnisse konnten nicht korrekt sein; internationale Wahlbeobachter waren nicht zugelassen; und weder die ukrainische Verfassung noch die ukrainische Regierung wurden beachtet.
Am 21. März 2014 unterschrieb PUTIN zwei ad hoc-Gesetze, welche die Krim und Sewastopol in die Russische Föderation aufnahmen(14). Damit war die Annexion der Krim nach russischem Verständnis abgeschlossen; nicht aber nach Völkerrecht.
6) Putins Argumentation: Präsident PUTIN verteidigte die Annexion folgendermassen: In der Ukraine habe sich ein militärischer, verfassungswidriger Staatsstreich ereignet, und nun herrsche Anarchie und Chaos. Die NATO, die USA und die EU versuchten, die Ukraine zu destabilisieren und Russland zu demütigen, was nicht akzeptiert werden könne. Nicht Russland habe die Krim militärisch besetzt, sondern lokale Selbstverteidigungskräfte. Russland habe bloss seine vom Westen verletzten Interessen und seine Infrastruktur beschützt, sowie seine an Leib und Leben bedrohten Landsleute und die in Sewastopol stationierten Soldaten der Schwarzmeerflotte. Legitimiert durch die geschichtlichen Bindungen Russlands an die Krim und den im Plebiszit ausgedrückten klaren Volkswillen habe es den historischen Fehler von 1954 korrigiert.
7) Kritik an Putins Argumentation: Diese Sicht der Dinge ist mit dem geltenden Völkerrecht nicht vereinbar. Im Zentrum des Völkerrechts steht nach Art. 2 der UNO-Charta eine Vielzahl unterschiedlicher Staaten, die alle durch das Gewaltverbot vor Angriffen geschützt sind. Ihre territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit sind zu respektieren. Es gilt der Grundsatz der souveränen Gleichheit aller UNO-Mitglieder. Dies alles gilt sowohl für Russland wie die Ukraine.
Russland hat sich zudem in mehreren Verträgen ausdrücklich dazu verpflichtet, die Unverletzlichkeit
der Grenzen der Ukraine und ihre politische Unabhängigkeit zu achten(15), so:
- im Budapester Memorandum von 1994 (zwischen Russland, USA, Grossbritannien und der Ukraine, als Gegenleistung für den ukrainischen Verzicht auf die aus den Beständen der UdSSR geerbten Arsenale von Nuklearwaffen);
- im Freundschaftsvertrag Russlands mit der Ukraine von 1997, welcher 2010 erneuert wurde (als Gegenleistung für die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol).
Wenn man auf irgendwelche Interessenlagen oder geschichtliche Verbindungen abstellen wollte, so würden zahllose europäische Grenzen (von Irland via Elsass, Karelien, Südtirol, Polen und Amselfeld bis zu den Wohngebieten der Wolgadeutschen und Krimtataren) ins Fliessen geraten. Die Regeln des Völkerrechts sollen dem Frieden und der Stabilität dienen, nicht der Macht und den Launen des Stärkeren. Deshalb gebührt in solchen Situationen dem Gewaltverbot und der territorialen Unversehrtheit der Vorrang. Russland hat jedoch mit seiner Aggression sowohl das Gewaltverbot der UNO-Charta wie die territoriale Unversehrtheit der Ukraine verletzt. Über den gewaltsamen Schutz eigener Landsleute im Ausland liesse sich eventuell reden, aber nur dann, wenn deren Leben gefährdet ist und der Übergriff zeitlich und sachlich begrenzt ist. Die Russen auf der Krim waren jedoch keineswegs gefährdet. Kein einziger Todesfall ist bekannt. Der UNO-Spezial-Rapporteur IVAN SIMONOVIC fand keine Belege für eine angebliche massive Einschüchterung von Russen in der Ukraine(16). Gefährdet könnte höchstens der Gebrauch der russischen Sprache erscheinen, weil nach dem Sturz von JANUKOWITSCH das ukrainische Parlament törichterweise beschloss, dem Russischen den Status einer regionalen Amtssprache zu entziehen. Dagegen legte Übergangspräsident O. TURTSCHINOW sein Veto ein; das Gesetz trat gar nicht in Kraft. Davon abgesehen gewährleistet die Europäische Menschenrechts-konvention keine allgemeine Sprachenfreiheit(17), und schon gar keine, welche eine Durchbrechung des Gewaltsverbots rechtfertigen könnte.
Das Plebiszit auf der Krim war illegal und manipuliert, und die angegebenen Zahlen über das Ergebnis waren gefälscht. Wenn schon hätte Russland – angesichts der russischen Bevölkerungsmehrheit – versuchen müssen, die Ukraine zu überzeugen, eine unmanipulierte Abstimmung durchführen zu lassen.
Die larmoyanten Leserbriefschreiber, Unternehmensberater, ex-Bundeskanzler und Dichter(18), welche alles entschuldigen wollen mit der gedemütigten russischen Seele, vergessen eines: wo bleibt denn da die gedemütigte ukrainische Seele (oder auch die polnische oder baltische Seele)? Wo bleibt die Ukraine, umhergeschupft(19), eingeklemmt und innerlich gespalten zwischen Nazi-Deutschland, der Sowjetunion und Polen, von Stalin heimgesucht mit der entsetzlichen Holodomor-Hungersnot (welche mehrere Millionen ukrainische Opfer kostete)? Ein auch nur einigermassen ethisch-moralisches Völkerrecht kann nicht einfach nur Freipässe für Supermächte ausstellen.
Bei alledem darf auch das Wort von OKSANA SABUSCHKO nicht übergangen werden, dass die Ukraine einen Doppelkrieg führen müsse gegen auswärtige Aggressoren und die inländische Verbrecherwelt, welche bis in die Staatsspitze hineinreiche(20). Es gehört zum Kern des Selbstbestimmungsrechts, dass sich die Ukraine für mehr Freiheit und Demokratie in ihrer Regierungsform entscheiden darf, auch wenn diese Regierungsform verschieden sein mag von derjenigen Russlands.
8) UNO-Entscheide zur Krim: Den hier dargelegten Überlegungen folgte der UNO-Sicherheitsrat.
13 der 15 Mitglieder stimmten am 15. März 2014 für eine Resolution, welche die Volksabstimmung auf der Krim kritisierte, weil die ukrainische Regierung sie nicht genehmigt hatte. China enthielt sich der Stimme. Russland stimmte dagegen und legte sein Veto ein. In der UNO-Generalversammlung verurteilten am 24. März 2014 100 Staaten das russische Vorgehen. Nur 11 Staaten billigten es, 58 enthielten sich der Stimme.
9) Ostukraine: Praktisch gleichzeitig wie auf der Krim begannen im Februar und März 2014 in der Ostukraine Demonstrationen, gefolgt von Gebäudebesetzungen, Verfolgungen von proukrainischen Aktivisten und Journalisten und Bemühungen um den Aufbau einer eigenen, separatistischen und pro-russischen Staatlichkeit. Auch hier vermischten und überlagerten sich Fakten, Gerüchte, Propaganda, Verschwörungstheorien und Lügen. Und wie die Krim ist der Osten und Südosten derjenige Teil der Ukraine, der den grössten Prozentsatz von ethnischen Russen und Russischsprachigen aufweist und der für JANUKOWITSCH stimmte.
Anders als bei der Halbinsel Krim, deren Grenzen geografisch weitgehend vorgegeben sind, ist das Gebiet der ostukrainischen Unruhen nicht klar abgesteckt. Demonstrationen fanden in zahlreichen Städten des Donbass, aber auch in Charkiv, Mariupol und Odessa statt. Längere Zeit blieb unklar, ob mehr Autonomie (und der Gebrauch der russischen Sprache) oder der Anschluss an Russland angestrebt wurde. Die lokalen Machthaber wünschten jedoch die Trennung vom ukrainischen Staat.
Am 11. Mai 2014 führten die separatistischen Kräfte in den Verwaltungsbezirken Donezk und Luhansk eine Abstimmung durch, ob man „die Ausrufung der staatlichen Eigenständigkeit der Donezker (oder Luhansker) Volksrepublik“ wünsche(21).
Wie bei der Krim war auch dieses Plebiszit illegal und manipuliert. Laut den (unglaubwürdigen) offiziellen Angaben stimmten bei einer Stimmbeteiligung von 75% in Donezk 89% und in Luhansk 96% Ja(22). Gemäss dem ukrainischen Übergangspräsident TURTSCHINOW betrug die Stimmbeteiligung hingegen nur 24-32%. Besonders pikant war das abgehörte Telefongespräch zweier Separatistenchefs, die meinten, es sei vielleicht besser, wenn man es bloss auf 89% statt 99% Zustimmung hinauslaufen lasse(23).
Wochenlange Gewalttätigkeiten und Schusswechsel führten mehr und mehr zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Der ukrainischen Armee gelang es mit militärischen Mitteln, die Separatisten aus den Städten Slowjansk und Kramatorsk zu verdrängen. Es gelang ihr jedoch nie, die ukrainisch-russische Grenze wirksam abzuriegeln. Dies erklärt sich auch aus der von den Separatisten bestätigten substanziellen Anwesenheit russischer „Armeeangehöriger auf Urlaub“ in ihren Reihen“. Russland unterstrich seine militärische Überlegenheit noch, indem es – gegen den Willen der Ukraine – Lastwagen-„Hilfskonvois“ in den Donbass und retour zirkulieren liess. Eine Waffenruhe, welche ungefähr einen Drittel der separatistischen Donbass- Bezirke Donezk und Luhansk in der Macht der Separatistenführer beliess, wird seit September teils eingehalten, teils durchlöchert. Im Oktober 2014 gab das UNHCR an, es gebe 824’000 Flüchtlinge aus der Ostukraine, etwas mehr als die Hälfte davon in anderen Gebieten der Ukraine, laut russischen Angaben 387’000 in Russland(24).
Anfangs September 2014 beklagte Ministerpräsident JAZENJUK, PUTIN plane, in der Ostukraine einen eingefrorenen Dauerkonflikt zu schaffen. Wie in Transnistrien, Abchasien und Südossetien(25) wolle er bestehende Grenzen ausfransen lassen und in diesen Gebieten die UdSSR territorial wiederherstellen. Vermutlich kann die Ukraine nur schwer der NATO beitreten, solange ihre Grenzen nicht feststehen und sie innerlich zerrissen und dem Staatskonkurs nahe ist. Wenn PUTIN die Ukraine auseinanderbrechen lassen will, würde ein (west)ukrainischer NATO-Beitritt dadurch möglicherweise einfacher. Vielleicht ist PUTIN daher durchaus interessiert am momentanen Status quo, damit Russland von der Ostukraine aus besser auf die Gesamtheit der Ukraine einwirken und diese kontrollieren kann.
10) Drei Schlussbetrachtungen: Das allgemeine Völkerrecht kennt keinen Satz, wonach es Staaten, von denen vor längerer Zeit Teile weggebrochen sind, gestattet wäre, nach ihrem Belieben das Gewalt- und Interventionsverbot zu verletzen und die territoriale Integrität ihrer Nachbarstaaten zu missachten. Es kennt auch keinen Satz, wonach gewaltsam und widerrechtlich eroberte Gebiete einfach an den Erobererstaat übergehen. Die Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch Russland gegenüber der Ukraine bedeutet nicht, dass die Regel des Gewaltverbots jetzt aufgehoben wäre. Im Gegenteil: durch ihre Kritik und ihre Sanktionen bestätigt die Staatengemeinschaft das Weiterbestehen des Gewaltverbots. Zwar ist die Ukraine militärisch nicht imstande, die separatistischen und prorussischen Kräfte in den abtrünnigen Gebieten zu vertreiben oder wirksam zu zähmen. Und es ist unrealistisch, sich vorzustellen, dass die NATO, die USA oder die EU sich zusammen mit der Ukraine auf einen Krieg an der Türschwelle der aggressiven und unberechenbaren Atom- und Supermacht Russland einlassen könnten. Das ändert nichts daran, dass das Völkerrecht alle Staaten verpflichtet, widerrechtlichen Gebietserwerb nicht anzuerkennen(26). Wenn Russland nicht einlenkt (und danach sieht es nicht aus), kann es somit zu einer langandauernden, eingefrorenen Konfliktsituation kommen.
Was auf der Krim und im Donbass geschah, gleicht einem spätkolonialistischen Beutezug.
Das führt zur Frage, warum nur der Westen einer Verpflichtung zur Dekolonisierung unterlag und beispielsweise Russland nicht. Nach dem früheren Verständnis waren Kolonien Gebiete, die vom Mutterland durch Salzwasser (Meer) geografisch getrennt waren. Diese Kolonien wurden im letzten Jahrhundert vom Mutterland losgelöst und verselbständigt. Russlands damals neu erworbene und eroberte Gebiete fielen nicht unter die Salzwassertheorie und wurden später weder dekolonisiert noch verselbständigt. Die Frage, ob man heutzutage Völker und Gebiete, die mit kolonialismus-ähnlichen Methoden und Begründungen beherrscht wurden, nicht gleich behandeln sollte wie durch Salzwasser getrennte Kolonien, ist zweifellos „ein weites Feld“, wie THEODOR FONTANE gesagt hätte.
Soll man aus den traurigen Ereignissen auf der Krim und in der Ostukraine ableiten, dass das russische Vorgehen zwar zu tadeln ist, aber trotzdem zu dem von PUTIN gewünschten Ergebnis führen wird? Das glaube ich nur sehr bedingt. Russland wird lange Geld in die marode Ostukraine pumpen müssen, statt konstruktive Ausgaben für das eigene Volk zu machen. Es wird auf absehbare Zeit den Ruf eines Landes haben, welches zentrale Bereiche der internationalen Friedens- und Ordnungsverfassung untergraben hat. Und es wird viel Zeit und Energie in die neuen Quasi-Kolonien investieren müssen.
Irgendwann(27), so sollte man hoffen, wird das russische Volk davon genug haben und sich stattdessen ein inneres Selbstbestimmungsrecht und ein Mehr an Freiheit, Frieden, Demokratie und Wohlstand im eigenen Land wünschen.
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(1) VOLODYMYR G. BUTKEVYTCH, Who Has a Right to Crimea, www.infoukes.com/history/crimea/page-03.html; MAJOR JUSTIN A. EVISON, Migs and Monks in Crimea, Military L. Rev. 220 (2014) 90-128; JUAN VALDÉS & ROSEMARY WARDLEY, 300 Years of Embattled Crimea History in 6 Maps, Nat’l Geographic (5.3.2014), http://news.national geographic.com/news/2014/03/140305-maps-crimea-history-russia-ukraine/; DORIS WYDRA, The Crimea Conundrum: The Tug of War Between Russian Ukraine on the Questions of Autonomy and Self-Determination, Int’l J. on Minority & Group Rts. 10 (2003) 211.
(2) BUTKEVYCH (supra n. 1). Die Zarin gebrauchte selbst das Wort „Kolonisierung“.
(3) ULRICH M. SCHMID, Chruschtschews Geschenk, NZZ Nr. 91, 19.4.2014, S. 57, spricht von einer Stärkung von Chruschtschews Hausmacht, währenddem BUTKEVYCH (supra n. 1) glaubt, Chruschtschew habe beim Transfer der Krim keine ausschlaggebende Rolle gespielt.
(4) Meine Ausführungen stützen sich u.a. auf Art. 46 der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969.
(5) URS W. SAXER, The Transformation of the Soviet Union: From a Socialist Federation to a Commonwealth of Independent States, Loyola of Los Angeles I.C.L.J. 14 (1992) 581-715; THEODOR SCHWEISFURTH, Vom Einheitsstaat (UdSSR) zum Staatenbund (GUS), ZaöRV 52 (1992) 541-702; R. YAKEMTCHOUK, Les républiques baltes et la crise du fédéralisme soviétique, Studia diplomatica 43 (1990) nos. 4-6, und L’indépendance de l’Ukraine, Studia diplomatica 46 (1993) nos. 3-5.
(6) JEAN CHARPENTIER, Les déclarations des Douze sur la reconnaissance des nouveaux Etats, RGDIP 96 (1992) 343-55; R. RICH, Recognition of States: The Collapse of Yugoslavia and the Soviet Union, EJIL 4 (1993) 36-65.
(7) Ausführlich dazu EVISON (supra n. 1).
(8) Die Darstellung der Geschehnisse von 2014 ist über weite Strecken gestützt auf die Berichterstattung der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).
(9) NZZ Nr. 55, 7.3.2014, S. 49.
(10) NZZ Nr. 26, 1.2.2014, S. 53.
(11) NZZ Nr. 268, 18.11.2014, S. 1 und 3.
(12) NZZ Nr. 49, 28.2.2014, S. 3.
(13) NZZ Nr. 103, 6.5.2014, S. 3.
(14) ENRICO MILANO, The non-recognition of Russia’s annexation of Crimea, QIL, Zoom out I (2014) 35-55, at 35-36.
(15) SPENCER KIMBALL, Bound by Treaty: Russia, Ukraine and Crimea, DW (3.3.2014), http://www.dw.de/bound-by-treaty-russia-ukraine-and-crimea/a-17487632; URS SAXER, Der Krim-Konflikt und das Völkerrecht, NZZ Nr. 64, 18.3.2014, S. 21; ANNA STEPANOWA, International law and legality of secession in Crimea, Cambridge J.I.C.L. (20.4.2014), http://cjicl.org.uk/2014/04/20/international-law-legalitysecession-crimea/.
(16) NZZ Nr. 89, 16.4.2014, S. 5.
(17) EGMR, Belgischer Sprachenstreit (fonds), 23.7.1968, A/6, S. 31-33, 42.
(18) ROLF HOCHHUTH, Basler Zeitung 25.4.2014, S. 3, sowie die scharfe, aber berechtigte Kritik von MARC SCHINZEL, Basler Zeitung 28.4.2014, S. 3.
(19) JAN M. PISKORSKI, Die Verjagten (2013) 96, 172-80; TIMOTHY SNYDER, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin (2011). Zum Holodomor siehe auch NZZ Nr. 258, 4.11.2008, S. 6; Nr. 269, 17.11.2008, S. 21; Nr. 274, 22./23.11.2008, S. 5.
(20) NZZ Nr. 112, 16.5.2014, S. 45.
(21) NZZ Nr. 104, 7.5.2014, S. 5.
(22) NZZ Nr. 109, 13.5.2014, S. 3.
(23) NZZ Nr. 105, 8.5.2014, S. 3.
(24) NZZ Nr. 247, 24.10.2014.
(25) Cf. ANGELIKA NUSSBERGER, Völkerrecht im Kaukasus – Postsowjetische Konflikte in Russland und in Georgien, EuGRZ 2008 457-66; MARC WELLER, Settling Self-Determination Conflicts: Recent Developments, EJIL 20 (2009) 111-165, S. 112-13, 115, 130-37, 147-48, 155-56, 160, 163, 165.
(26) Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South-West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion, 1971 ICJ Rep. 16, 55; Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, Separate Opinion of Judge HIGGINS, 2004 ICJ Rep. 216. Siehe auch MILANO (supra n. 14).
(27) WELLER (supra n. 25) 114 zitiert Untersuchungen, wonach die damals hängigen 26 Konflikte über Selbstbestimmungsrecht und Sezession durchschnittlich bereits je 27 Jahre angedauert hätten.