Bruno Meier im Interview mit Xecutives.net
Dr. phil. Bruno Meier im Interview mit Xecutives.net

Dr. phil. Bruno Meier, Jahrgang 1962, studierte an der Universität Zürich Geschichte und Publizistik. Er ist ein schweizweit bekannter Mediävist und arbeitet heute als Autor, Projektberater und Verleger. Meier hat zahlreiche Bücher zum Thema Eidgenossen publiziert, so auch das Buch «Von Morgarten bis Marignano – Was wir über die Entstehung der Eidgenossenschaft wissen», 2015 im Verlag Hier und Jetzt erschienen. Das Buch eignet sich hervorragend für jede und jeden, die/der in Sachen Eidgenossenschaft und ihrer Entstehung mehr wissen möchte. Zusammen mit der Historikerin Denise Schmid ist Bruno Meier Geschäftsführer des Verlags «Hier und Jetzt», der durch interessante Bücher und Publikationen vorwiegend zu Themen der Kultur und der Geschichte der Schweiz auffällt.
Im Interview mit Xecutives.net nimmt der Mediävist Bruno Meier Stellung zu Fragen über die alten Eidgenossen. Er zeigt auf, was es mit Fakten und Mythen über die alten Eidgenossen auf sich hat, was die Mythen für eine Auswirkung bis heute auf die Schweiz haben und er beschreibt, welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass die Eidgenossenschaft über die Jahrhunderte erfolgreich Bestand gehabt hat. Bruno Meier beantwortet Fragen zur Schlacht bei Morgarten, von der man auch heute nur wenig weiss. Er zeigt auf, warum Frauen in der vorwiegend militärisch-politischen Geschichtsschreibung auch der alten Eidgenossen kaum erscheinen. Bruno Meier beschreibt des Weiteren, warum die Geschichte der alten Eidgenossenschaft auch heute, auch in Bezug auf das Verhältnis zur Europäischen Union (EU) wichtig ist. Die Schweiz zeichne einen sehr starken Föderalismus aus, der seine Wurzeln in einer stark verankerten Gemeindeautonomie hat, welche den Eidgenossen äusserst wichtig war. Sie dachten den Staat von unten und nicht von oben. Bruno Meier vergleicht die Tagsatzung der alten föderalistisch geprägten, eidgenössischen Bündnispartner mit den Delegierten der EU, die dort souveräne Staaten vertreten und zusammen ein Bündnis aufrechterhalten, so wie das die Eidgenossen während Hunderten von Jahren erfolgreich vorgemacht haben.

Xecutives.net: Herr Meier, die Geschichte der alten Eidgenossen basiert nicht nur auf geschichtlichen Fakten, sondern auch auf der Deutung dieser Fakten und vielen Fake News, die zu heute bekannten Mythen geführt haben. Erkennen Sie, wenn Sie sich an Ihre Jugendzeit und später an Lehrveranstaltungen an der Universität zurückerinnern Unterschiede in Bezug auf die Meinungen und Deutungen, Unterschiede im Umgang mit Mythen Ihrer Professorinnen und Professoren?

Dr.phil. Bruno Meier, Mediävist, Autor, Projektberater und Verleger
Dr. phil. Bruno Meier

Bruno Meier: Das Verständnis der Geschichte hat sich innerhalb der letzten drei Generationen sehr verändert. Als ich als Kind zuhause und in der Schule die ersten Bücher über die alten Eidgenossen las, über die wehrhaften Eidgenossen und die Schlachtenkalender, waren diese Bücher stark vom kalten Krieg geprägt. Das Bild der standhaften Eidgenossen wurde aufgrund der weltweiten politischen Lage überhöht. Das ist die Art und Weise, wie diese erste Generation mit der Geschichte umgegangen ist. Die zweite Generation, wie ich sie zu meiner frühen Studienzeit noch erlebt habe, bestand aus den «Mythenzerstörern». Zu Ihnen gehörte Marcel Beck, der damals Professor war an der Universität Zürich, den ich aber nicht mehr selber erlebt hatte. Einer seiner Schüler war Otto Marchi, der unterdessen gestorben ist. Er war es, der 1971 das Buch «Schweizer Geschichte für Ketzer oder Die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft» publizierte. Das Buch basiert auf den damaligen neusten Forschungserkenntnissen und unterschied sich merklich von Büchern über die alten Eidgenossen zur Zeit des kalten Krieges und vorher. Mich hat dieses Buch damals als Jugendlicher interessiert. Zu dieser Generation von Menschen gehörte als Schüler von Marcel Beck auch Roger Sablonier, bei dem ich selber in den Achtzigerjahren studierte. Er war kein Mythenzerstörer, er war aber ein Gelehrter, der auf Grundlage der neusten Erkenntnisse geforscht und Fakten zusammengetragen hat.

Xecutives.net: Abgesehen von der Frage, was wirklich wahr ist und nicht, spielen diese Mythen in der Schweizer Geschichte aber eine enorme Rolle. Zweifelsohne hatten sich die Menschen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz immer wieder mit diesen Befreiungsgeschichten befasst und das hat sich auf viele politische Entscheide ausgewirkt.

Bruno Meier: Das ist zweifelsohne der Fall. Man kann heute sehr gut zwischen Mythos und Geschichte trennen. Es gibt die mythische Geschichte, die Befreiungsgeschichte, eine historiographische Erfindung aus späterer Zeit. Diese Mythen sind im späten 15. Jh. entstanden. Zweifelsohne haben sie als Kitt für die alten Eidgenossen und ihren Werdegang eine grosse Rolle gespielt. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Eidgenossen, trotz teilweiser grosser Uneinigkeit, zusammengefunden haben. Diese Mythen docken in einigen Bereichen an die Geschichte an, in anderen Bereichen handelt es sich jedoch um pure Erfindungen, die einen politischen Hintergrund haben.

Es ist interessant zu beobachten, wie diese Mythen und Befreiungsgeschichten, die eine zentralschweizerische Angelegenheit betreffen, später in anderen Landesteilen der heutigen Schweiz eine grosse Rolle spielten und dort adaptiert worden sind. Sie sind später auch in Zürich und im Wallis wichtig, auch in St. Gallen und in Bern. Auch in der frühen Neuzeit waren sie ein grosses Thema, das sich auf die politischen Entscheide und die politische Kultur auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ausgewirkt hat. Schliesslich spielten diese Befreiungsmythen in der Zeit der beiden Weltkriege eine grosse Rolle. Die Erinnerung an die alten Eidgenossen hat in der Bevölkerung viel zum Zusammenhalt und zur Wehrhaftigkeit beigetragen. Somit haben die Mythen eine positive Wirkung auf die Entwicklung der Schweiz ausgeübt. Als man dann später anfing, diese Mythen in Frage zu stellen und zu kritisieren, kam es auch zu ausgrenzenden Wirkungen und Reaktionen. Die Kritisierenden wurden als «nicht richtige Schweizer» betitelt, da sie es gewagt hatten, an diesem alten Bild der Eidgenossenschaft zu kratzen, obwohl sie sich einfach auf geschichtliche Fakten abstützten, so wie das Historikerinnen und Historiker heute tun.
Die historischen Fakten in der Lehre waren schon in den Achtzigerjahren klar und wer sich mit der Geschichte ernsthaft und wissenschaftlich auseinandersetzte, wusste schon früh, was Mythos war und was Faktum. In der Öffentlichkeit war das aber nicht so.

Xecutives.net: Ich habe vorher mit Absicht «Professorinnen» gesagt und mir ist Frau Marthe Gosteli, die Frauenrechtlerin, in den Sinn gekommen, die Freude an diesem Interview gehabt hätte. Mir fällt bei der Lektüre zum Thema «alte Eidgenossen», nachdem ich nun doch einige Bücher gelesen habe, die Hundert und mehr Jahre zurückgehen, auf, dass Frauen weder in Bezug auf die beschriebenen Sachverhalte, also bspw. in Bezug auf Schlachten und politische Manöver, noch als Geschichtsschreiberinnen eine Rolle spielen. Im mehrbändigen Werk über die Kriege der alten Eidgenossen (Schweizer Kriegsgeschichte) habe ich eigentlich gar nichts über Frauen und schon gar nicht von Frauen gelesen. Wie muss man das verstehen, haben doch die Frauen schon damals sicher eine bedeutende Rolle gespielt, wenn auch in der Familie und im sozialen und familiären Umfeld?

Bruno Meier: Es gibt hier zwei Aspekte, die eine Rolle spielen: Beim ersten Aspekt geht es darum, wer die Geschichte schreibt. Das sind über Jahrhunderte hinweg immer die Männer gewesen. Frauen, die Geschichte schreiben, gab es nur ganz am Rande. Der zweite Aspekt führt zur Frage, über was denn geschrieben wurde. Die Geschichte der alten Eidgenossen ist eine politisch-militärische Geschichte. Politik und Militär waren bis ins 20. Jh., wenn man so will bis zur Einführung des Frauenstimmrechts 1971, eine völlige Männerdomäne. Dazu kommt, dass es über die Geschichte der Frauen innerhalb der alten Eidgenossenschaft sehr wenige Quellen gibt.
Wichtige Dokumente sind in der Forschung Urkunden und Verträge, Bündnisse, juristische Dokumente, auch Kaufverträge und Dokumente von Gerichten. Dort erscheinen Frauen, aber nur im Zusammenhang mit Gerichtsfällen. Es fehlt also an Quellen, um die Rolle der Frau richtig einschätzen zu können. Es gibt gewisse Frauen, die eine Rolle spielten und von denen wir einiges wissen, so auch von der «Stauffacherin», die Gattin des Landammans Werner Stauffacher. Das sind aber auch Figuren, die später von Autoren dem Frauenbild des späten 19. Jh. entsprechend beschrieben wurden. Es sind gemachte Figuren und nicht Quellenfiguren. Heute forscht man über andere Fragen und man versucht über die Funktion der Frauen und die Rolle der Frauen zu schreiben. Aber das ist nicht einfach.

Ein Königshaus aus der Schweiz - Buchtitel Bruno Meier - Habsburger, Aargau, Eidgenossenschaft im Mittelalter

Es gibt jedoch eine kleine Ausnahme: Im 14. Jh. gab es eine Frau, die über Jahrzehnte eine grosse Rolle spielte und über die man einiges weiss, nämlich Agnes von Ungarn. Sie war eine Habsburgerin, die Tochter von König Albrecht, der in Königsfelden umgebracht wurde. Sie war jahrzehntelang als Habsburgerin in Königsfelden zuhause. Sie gehörte der Elite, der Oberschicht an. Für die Schweizergeschichte ist sie eine wichtige Figur, zwar der anderen Seite angehörend, aber über sie weiss man heute relativ viel. Sie war das älteste Kind von König Albrecht, das noch lebte. Leopold, bekannt aus der Schlacht bei Morgarten, war ihr Bruder. Sie hat in der Familie eine wichtige Rolle gespielt und die Entscheide der Brüder beeinflusst. Sie hat eine Zeitlang in Bezug zu den Eidgenossen eine Vermittlerrolle eingenommen.

Xecutives.net: Wir können hier nicht die ganze Geschichte aufarbeiten. Vieles ist auch nicht bekannt, oft kennen wir nur Mythen und Sagen. Sicher ist, dass die „Eidgenozen“, wie sie in alten Dokumenten beschrieben werden ab ca. 1315, nach der Schlacht bei Morgarten, zu wichtigen Playern im Machtkampf des heutigen Europas werden. Was weiss man über diesen eidgenössischen Fall «Morgarten»?

Bruno Meier: Über die Schlacht bei Morgarten weiss man auch heute nur wenig. Es gibt Forschende, die der Meinung sind, dass diese Schlacht nicht stattgefunden hat. Soweit würde ich selber nicht gehen, aber man muss vielleicht nicht von «Schlacht», sondern mehr von «Gefecht» sprechen. Es waren wahrscheinlich weniger Menschen dabei, als wir das sonst in Büchern lesen. Es gibt keine Dokumente, die uns weiterhelfen. Lediglich in einer böhmischen Chronik, die ein Jahr später geschrieben wurde, gibt es Hinweise auf Morgarten. Die eigentlichen Quellen, die wir in Form einer schweizerischen und in einer österreichischen Chronik vorliegen haben, sind rund 25 Jahre später entstanden. Man geht heute davon aus, dass ein Zusammenstoss stattgefunden hat und die Habsburger mit Leopold das Gefecht verloren haben.

Von Morgarten bis Marignano - Buchtitel Bruno Meier - Entstehung der Eidgenossenschaft
Von Morganrten bis Marignano – erschienen im Hier und Jetzt Verlag (Bild mit freundlicher Genehmigung von Dr.phil. Bruno Meier)

Xecutives.net: Wenn dort eine grössere Schlacht oder ein grösseres Gefecht stattgefunden hat, dann müssten wir doch aber heute auch Reste finden. Immerhin hat man in Bezug auf die Varusschlacht, um eine andere sehr bekannte Schlacht zu bemühen, die deutlich früher passiert ist, bspw. grosse Mengen an Nägeln von Schuhen römischer Soldaten gefunden, in Bezug auf Morgarten jedoch, gibt es nur wenige Fundstücke, die offenbar auch nicht richtig zugeordnet werden können.

Bruno Meier: Man hat immer wieder Untersuchungen vorgenommen. Es muss davon ausgegangen werden, dass auch der Seespiegel höher war als heute. Es ist also möglich, dass heute unter Wasser Funde gemacht werden könnten. 2015 wurde eine sogenannte Prospektion durchgeführt und man fand wenige Gegenstände aus der Zeit des Mittelalters, teilweise auch älter als Morgarten. Es ist aber nicht gelungen, diese Fundgegenstände richtig ein- und zuzuordnen. Schlachtfelder sind früher von der Bevölkerung und überlebenden Soldaten geplündert worden. Man hat nach erfolgter Schlacht alles mitgenommen, was man irgendwie brauchen konnte. Soldaten sind möglicherweise bestattet worden. Auch das kann erklären, warum man heute nichts findet.

In Bezug auf die Schlacht bei Sempach gibt es viel mehr Hinweise. Dort wissen wir relativ genau, was passiert ist. Auch finden wir Dokumente in Archiven anderer Länder. Aus diesen Dokumenten gehen viele Namen hervor, Menschen, die dort dabei waren und die ihr Leben verloren haben. Es gibt in Sempach auch die berühmte Schlachtkappelle, deren Ursprünge man ebenfalls kennt. In Bezug auf Morgarten ist das wie gesagt anders. Man kennt Namen, die in Zusammenhang mit der Schlacht bei Morgarten wichtig waren. Diese Namen stammen aber meist aus Jahrzeitbüchern aus dem Ende des 15. Jh. Die Namen sind wahrscheinlich zugeschrieben worden. Es gehörte in dieser Zeit zum guten Ton, wenn man sagen konnte, dass ein Vorfahre an dieser Schlacht beteiligt gewesen war, ein Vorfahre, der möglicherweise gar noch den Heldentod starb. Man kennt das in Familien aus Uri und Schwyz, wie den Reding. Urner sind an dieser Schlacht wohl eher nicht dabei gewesen. Die Namen der Urner Beteiligten an der Schlacht von Morgarten sind mit allergrösster Wahrscheinlichkeit erfunden.

1291 Geschichte eines Jahres - Buchtitel von Bruno Meier
Mit freundlicher Genehmigung von Dr.phil. Bruno Meier

Die Wirkung von Morgarten aber ist trotzdem sehr wichtig, egal was passiert ist. Rund einen Monat nach der Schlacht kommt es zum Bund von Morgarten, auch Bundesbrief von Brunnen genannt. Im Gegensatz zum Bundesbrief von 1291, der keine Wirkung auf die Entwicklung der Eidgenossenschaft hatte, ist der Morgartenbrief von grosser Wichtigkeit. Der Bundesbrief von 1291 wurde während 500 Jahren nie gebraucht. Man wusste lange Zeit gar nicht, dass es ihn gab. Ein Dokument, das nicht gebraucht wird, ist auch nichts wert. Mit dem Jahr 1315 und dem Morgartenbrief ist das anders. Er ist in mehreren Ausführungen und Abschriften vorhanden und er wurde in der Geschichtsschreibung rege eingesetzt. Was man 1291 in Sachen Bündnis erfunden hatte, müsste eigentlich 1315 entsprechen. Wenn man somit ein Gründungsdatum der Eidgenossenschaft sucht, müsste das der 9. Dezember 1315 sein, weil dieser Tag Bedeutung und Wirkung hatte.

Xecutives.net: Vor kurzem ist ein Papyrus (Evangelium der Frau Jesu) aufgetaucht, der möglicherweise bestätigt, dass Jesus von Nazareth verheiratet war. Der Papyrus ist umstritten, hat aber auf Seiten der katholischen Kirche zu grossen Abwehrmanövern und -reflexen geführt, die vielleicht interessanter sind als der Text selbst. Solche Funde können die Geschichtsschreibung der letzten 2000 Jahre auf den Kopf stellen. Ist es möglich, dass wir auch in Bezug auf die Mythen der alten Eidgenossen noch Dokumente finden, die unser Bild der alten Eidgenossen verändern könnten?

Bruno Meier: In Bezug auf die alten Eidgenossen gibt es das nicht und es ist nicht zu erwarten, dass solche Dokumente noch gefunden werden. Es sind in den letzten Jahrzehnten keine neuen Dokumente aufgetaucht, die das Umschreiben der Geschichte nötig machen würden. Eine Ausnahme ist das Wiederauftauchen des eben besprochenen Bundesbriefes. Dieser Bundesbrief wurde 1759 im Archiv in Schwyz gefunden. Es wusste niemand, dass dieser Brief dort war. Man wusste zunächst auch nicht so richtig, was man denn nun mit ihm anfangen sollte. Im Verlaufe des 19. Jh. hat man diesen Bundesbrief dann näher betrachtet und man kam zum Schluss, dass er nicht so wichtig sei, weil man ihn in der Vergangenheit ja auch nicht gebraucht hatte, weil man ihn schlicht nicht kannte. Ende des 19. Jh. dann hat der bekannte Historiker Wilhelm Oechsli, mit Blick auf das «Jubiläumsjahr» 1891, sein Buch über die Gründung der Eidgenossenschaft geschrieben. Erst dort wird der Bundesbrief als Gründungsdokument der alten Eidgenossenschaft bezeichnet.

Interessant wäre es natürlich, aber das ist mehr ein Wunschdenken, wenn man aus dem Archivmaterial, das die Eidgenossen 1415 bei der Plünderung des Archivs in Baden mitgenommen haben, noch etwas finden würde. Dieses Archiv der Habsburger wäre eine wichtige Quelle gewesen. Das Archivmaterial ist aber grösstenteils zerstört worden. Es landete vorerst in Luzern im Wasserturm, wo man es anschaute und prüfte. Anschliessend wurden die Dokumente verteilt. Was Schwyz betraf, landete in Schwyz und was Uri betraf, ging nach Uri. Heute gelten diese Unterlagen als verschollen.

Das Bundesbriefmuseum in Schwyz
Das Bundesbriefmuseum in Schwyz

Xecutives.net: Hier fällt mir das alte Kochbuch (Ein schön Kochbuch 1559) ein, das in der Schweiz auf einem Estrich gefunden und aufgrund von Glückfällen nicht zerstört wurde. Ich habe es kürzlich mit grossem Vergnügen gelesen. Es gibt einen schönen Einblick in die damaligen Küchen und man lernt auch, wie man Biberschwänze zubereitet…

Bruno Meier: Das sind absolute Zufallsfunde und der Fall zeigt, dass eben nicht ganz ausgeschlossen werden kann, dass irgendwo, vielleicht auch bei Privaten, auch noch Reste des besagten Archivs auftauchen. Was wir heute jedoch vorliegen haben in Staatsarchiven der Kantone, ist alles publiziert und wurde akribisch untersucht. Dort wird man nichts Neues mehr finden.

Xecutives.net: Besonders beeindruckt bin ich über die Vorkommnisse rund um die Schlacht von St. Jakob an der Birs (1444). Dort fanden rund 1500 Eidgenossen einen grausamen Tod, wurden sie schliesslich vom französischen Gegner richtiggehend bis auf den letzten Mann massakriert. Wie muss man sich das erklären?

Bruno Meier: Bei der Schlacht von St. Jakob an der Birs gilt es den Gegner zu betrachten. Die Gegner waren französische Soldtruppen, die aus dem Hundertjährigen Krieg kamen. Das waren militärische Profis. Diese Profis waren zudem zahlenmässig überlegen. Der Seite der Eidgenossen muss ein völliges Versagen der militärischen Führung attestiert werden. Ob diese 1500 Soldaten wirklich aus eigenem Antrieb losmarschiert sind, wie wir das in vielen Geschichtsbüchern nachlesen können, wissen wir nicht. Die Soldaten der Eidgenossen waren zudem sicher aufgepeitscht, möglicherweise war, wie in solchen Kriegen üblich, auch Alkohol im Spiel, der enthemmend wirkt. Aber man muss auch sehen, dass die Eidgenossen ihr Kriegshandwerk schon verstanden. Die Menschen, die dort kämpften, waren kampferprobt. Es war ihr Job, in solche Kriege zu gehen, die sich durch hohe Brutalität auszeichneten. Die Schlacht auf alle Fälle resultierte in einem grossen Echo über die Grenzen der damaligen Bündnispartner hinaus. Die eidgenössischen Soldaten galten als unerschrocken und todesmutig.

Xecutives.net: Die sehr religiös geprägten Kriege, wie der 1. und 2. Kappelerkrieg und der 1. und 2. Villmergerkrieg, die Sonderbundskriege haben sich während Jahrhunderten auf die Schweiz ausgewirkt und sie wirken wohl noch heute in unserer Gesellschaft nach. Hier spielt Zwingli eine bedeutende Rolle. Was war Ihres Erachtens der Einfluss Zwinglis auf die Geschichte der alten Eidgenossen? Mir scheint, er habe hier eine fundamentale Rolle für alles gespielt, was sich später, nach der Reformationszeit, ereignet hat.

Bruno Meier: Zwingli war eine sehr wichtige Figur in der Geschichte der Eidgenossen. Er war nicht allein, war aber ganz vorne an der Spitze. Er hatte auch grossen Einfluss auf die Reformation in Bern, St. Gallen und Schaffhausen. Eine ähnliche Funktion hatte Calvin in Genf, der in der Westschweiz und darüber hinaus bedeutend war. Zwingli war eine charismatische Figur und er konnte die Leute mitreissen, in einer Zeit, als die alte Kirche in einem schlechten Zustand war. Die Geistlichen waren verheiratet, waren teilweise reich und hatten viel Geld ausgegeben, was bei der Bevölkerung nicht gut ankam. Es gab schon zuvor Reformbewegungen, die aber nicht zur Kirchenspaltung geführt hatten. Zwingli jedoch vermochte viele Menschen zu überzeugen, was zur Spaltung der Kirche führte und die Geschichte der Eidgenossen später merklich prägte. Eine solche Reform ist nur möglich, wenn die Menschen mitziehen, wenn man vor allem die Elite gewinnen kann. Zwingli in Zürich und Haller in Bern oder Vadian in St. Gallen konnten die Eliten überzeugen und mobilisieren und ihre Ideen als gute Sache für die Kirche und den Glauben verkaufen. Die Eliten in der Innerschweiz jedoch lehnten diese Reformation ab. Sie wollten diese Reformen nicht. Das hat sicher auch mit dem Soldwesen zu tun, das Zwingli bekämpfte. Der Staatshaushalt von Luzern beispielsweise war während langer Zeit zum grossen Teil von Soldeinkünften abhängig.

Xecutives.net: Diese religiösen Streitereien und Kriege hatten einen grossen Nachhall, ich vermute bis heute und sie waren von grosser Brutalität und Bestialität geprägt, wie wir sie heute vielleicht von Terrorereignissen und schlimmsten Kriegen her kennen. Was war Ihres Erachtens der Grund für diese Brutalitäten, die ein schlechtes Licht auf die alten Eidgenossen werfen. Und gibt es diesen Nachhall bei uns in der Schweiz?

Bruno Meier: Kriege sind immer brutal. Denken Sie an den Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich. In der zweiten Schlacht bei Villmergen 1712 starben 4’000 Innerschweizer. Aber heute ist das nicht besser, wenn man an Syrien und Libyen denkt. Die Eidgenossen hatten einige Jahrzehnte lang den Ruf, sehr effizient und brutal zu sein. Zwischen 1450 und 1550 war der eidgenössische Militärhaufen sehr erfolgreich und die Eidgenossen waren als Söldner überall sehr begehrt. Basis für dieses Soldwesen waren wirtschaftliche Veränderungen auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft. In der Innerschweiz, im Gebiet der Voralpen und Alpen wechselte man vom Ackerbau immer mehr zu extensiver Landwirtschaft. Man lebte von Viehzucht und Export von Vieh und Käse. Das hatte tiefgehende Auswirkungen auf die Menschen damals, brauchte es doch auf den Höfen und Feldern weniger Menschen. Viele junge Männer konnten so für den Solddienst gewonnen werden und das war für die rekrutierenden Eliten in diesen Gegenden, die mit dem Söldnerwesen sehr viel Geld verdienten, positiv. Das Geschäft mit dem Krieg blühte. Diese sogenannten Soldherren verdienten sehr viel Geld. Wenn man in Altdorf, in Schwyz oder in Stans die alten herrschaftlichen Häuser anschaut, werden diese Zusammenhänge klar. Sie sind Resultat eines Kriegs-Business-Modells, das lange Zeit funktionierte und später von Zwingli hinterfragt und abgelehnt wurde, was die Soldherren natürlich nicht akzeptieren konnten.

Im Übrigen ist es auch heute wieder so, dass private Armeen und Soldatenkorps in vielen Ländern tätig sind, denken Sie an Libyen und an die Ukraine, um nur zwei Beispiele von Ländern zu nennen, in denen auch mit privaten Soldaten Krieg geführt wird. Bei diesen Soldaten, die für eine politische Macht kämpfen, handelt es sich ebenfalls um Söldner.

Xecutives.net: Die religiösen Auseinandersetzungen führten dazu, dass sich später gewisse Regionen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz nur mässig wirtschaftlich entwickelten. Was ziehen Sie hier für Schlüsse?

Bruno Meier: Wenn man die religiöse Ideologie mal beiseitelässt, dann können wir aufgrund der Kultur der einzelnen Gebiete Schlüsse ziehen. Wir müssen uns damit beschäftigen, wie man in diesen Regionen gelebt hat, welche ethischen Richtlinien man befolgt hatte. Der Katholizismus und Protestantismus haben andere Ausrichtungen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Industrialisierung in den protestantischen Gebieten früher einsetzt und erfolgreicher ist. In der Innerschweiz hat man länger vom Soldwesen gelebt und eine Industrialisierung hat erst später eingesetzt. Das führte im 19. Jh. zu einem grossen wirtschaftlichen Rückstand der katholischen Gebiete. In den protestantischen Gebieten begann schon im 17. und 18. Jh. eine gewisse Industrialisierung, was sich auch auf die Gesellschaft auswirkte, da die Menschen eine Alternative zur Landwirtschaft hatten und mehr Geld im Umlauf war.

Auch muss man sich mit den kirchlichen Bräuchen auseinandersetzen, wie die Menschen in ihren Dörfern zusammengelebt haben. Peter Hersche, ein bekannter Historiker, der sich intensiv mit der Geschichte des Barocks auseinandersetzt, hat einmal festgestellt, dass der katholische Barock erst in den Sechzigerjahren des 20. Jh. zu Ende ging. Er meint damit den «mentalen» Barock, der sich bis in diese Zeit auswirkte. Wenn ich mich an diese Zeit zurückerinnere, ich war damals noch ein Jugendlicher, und wir sprechen von der Zeit des 2. Vatikanischen Konzils, mit dem sich die Kirche öffnete, erinnere ich mich, wie auch noch meine Eltern als gläubige Katholiken tief in dieser mentalen Barockzeit gelebt hatten. Erst in den Siebzigerjahren fällt dieses katholisch-barocke Milieu auseinander, und das sehr schnell.

Erstaunlich ist an der Schweizer Geschichte seit der Reformation, dass sich die Eidgenossenschaft, die es damals schon gibt, ein erfolgreiches Bündnissystem, nicht auseinanderfällt, trotz den religiösen Spannungen und wirtschaftlichen Differenzen. Man darf sich fragen wieso. In ganz Europa fallen in der Regel solche Bündnisse auseinander. Hier auf dem Gebiet der heutigen Schweiz finden die Eidgenossen jedoch einen Weg, miteinander umzugehen.

Xecutives.net: Was sind die Gründe dafür?

Bruno Meier: Sicher ist das Verhältnis gegen aussen wichtig, zu Frankreich und zu Habsburg. Das Abgrenzen gegen diese grossen Mächte war für die Eidgenossen nur gemeinsam möglich. Die Eliten, egal ob katholisch oder protestantisch, hatten zudem ein Interesse daran, ihre Macht zu behalten. Sie mussten miteinander gemeinsame Lösungen finden. Dann kommt sicher der «Mythos» dazu, der eine Rolle spielt. Es entstanden damals die grossen Bilderchroniken, wo dieser Mythos des unabhängigen Eidgenossen zelebriert wurde. Auf diesen Entstehungsmythos, der kurz vorher entstand, beziehen sich beide Seiten, Katholiken und Protestanden. Sie erkennen, dass sie eine gemeinsame Herkunft und Vergangenheit haben.

Xecutives.net: Dieser Mythos, von dem wir sprechen, also der Entstehungsmythos, spielt ja auch heute in der Schweiz noch eine Rolle. Wie wirkt er sich auf die heutige Schweiz aus?

Bruno Meier: Unsere heutige politische Ordnung basiert auf der Bundesverfassung von 1848 bzw. der Revision von 1874, die uns direktdemokratische Reformen brachte. Das System der Schweiz orientiert sich letztlich an den Ideen der französischen und amerikanischen Revolution, hat aber in der Verfassung Elemente drin, die älter sind. Die Schweiz zeichnet insbesondere einen sehr starken Föderalismus aus. Dieser Föderalismus findet seine Wurzeln in der alten Eidgenossenschaft. Seit dem Mittelalter gibt es in der Eidgenossenschaft nicht nur eine hohe Eigenständigkeit der Kantone, sondern auch eine starke Gemeindeautonomie. Der Staat wird von unten herauf gedacht. Denken Sie an die Kommunen in Graubünden, auf die man auch heute noch sehr stolz ist. Es geht darum, den Staat von unten herauf, nahe an den Menschen dran, zu denken. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Schliesslich spielt die Frage eine Rolle, warum trotz Reformation und blutigen Kämpfen zwischen Katholiken und Protestanten zwischen 1500 und dem Ende des 18. Jh. das Bündnis der einzelnen Kantone und Orte nicht auseinandergebrochen ist. Die Eigenossen haben 300 Jahre lang geübt, Kompromisse zu finden! Die Schweiz schaut auf eine sehr lange Tradition der Kompromissfindung zurück, und diese Konsenspolitik geht nicht nur auf 1959 und die Zauberformel des Bundesrats zurück. Das Stanser Verkommnis von 1481 ist quasi die erste Zauberformel. Dort hat man die Städte und die Länder miteinander versöhnt. Der 2. Kappelerfrieden 1531 war ebenfalls eine Zauberformel. Diese Zauberformeln hat man eingeübt. Es gab zwar Kriege, aber der Sonderbundskrieg 1847 als Beispiel hat nicht zu einem Siegerfrieden geführt, sondern zu einem Konsens in der Bundesverfassung von 1848, zum Beispiel zum Ständemehr, das den kleinen ländlichen Kantonen eine besondere Stellung gebracht hat, die bekanntlich auch heute wieder diskutiert wird.

Den Staat von unten her Denken und Konsens finden, das ist es, was die Schweizerinnen und Schweizer sehr gut können und das stärkt die Identifikation des Bürgers mit dem eigenen Staatswesen. Das erklärt, warum die Schweiz bis heute sehr erfolgreich unterwegs ist, obwohl es verschiedene Ansichten und Meinungen gibt.

Xecutives.net: Das erklärt natürlich auch, warum sich die Schweiz mit der EU oft schwertut. Sie hat das Gefühl, dass dort der Staat von oben her gedacht wird. Somit ist dieser Abwehrreflex der Schweiz auf den ersten Blick gut verständlich, was die EU berücksichtigen muss. Ihre Aussagen stimmen aber zuversichtlich. Die Schweizerinnen und Schweizer dürften es nach langem Üben mit einer guten Konsenspolitik schaffen, weiterhin gute Entscheide zu treffen, auch in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der EU und anderen Regionen auf der Welt.

Bruno Meier: Es gibt hier zwei Seiten, die man betrachten muss: Die EU hat eine schwierige Seite, weil man Brüssel vorwirft, zentralistisch von oben nach unten zu denken. Es gibt aber auch gute Seiten, eine Institution, die Frieden schafft und auch schwierige Länder wie bspw. Ungarn einbinden kann. Damit trägt die EU viel zum Frieden in Europa bei.

Ich hatte vor einigen Jahren das Vergnügen, als Doris Leuthard Bundespräsidentin war, in Baden im Tagsatzungssaal dem Bundesrat etwas zur Eidgenossenschaft und über diesen geschichtsträchtigen Ort zu erzählen. Die Tagsatzung war ein eigenartiges Gebilde, die Zusammenkunft von Delegierten souveräner Städte und Orte, die alle miteinander durch verschiedene Bündnisse verbunden waren. Auch die EU ist nichts anderes als ein Bündnis. Es wird vertreten von Delegierten aus souveränen Staaten, die zusammen ein Bündnis aufrechterhalten. Somit ist die EU auf eine gewisse Art nichts anderes als eine Tagsatzung, die wir als Schweizer schon seit hunderten von Jahren kennen. Wie die Tagsatzung verlangt die EU bei zentralen Themen Einstimmigkeit. Und in der EU einen Konsens zu finden, ist bekanntlich nicht einfach, wie die aktuelle Politik immer wieder zeigt.

Xecutives.net: Lieber Herr Meier, ich bedanke mich herzlich für dieses Interview und ich wünsche Ihnen bei Ihren Forschungstätigkeiten weiterhin alles Gute!

Verlag Hier und Jetzt

Zum Interview mit Frau Dr. h.c. Marthe Gosteli

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