Christian Walsoe, Jahrgang 1951, studierte an der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Zürich Chemie-Ingenieur und rundete sein Studium später mit einem MBA am INSEAD in Fontainebleau (F) ab. Walsoe ist Gründer des Efficiency China Forum Basel und Vorstandsmitglied der Gesellschaft Schweiz-China. Der Efficiency Club Basel schaut auf eine langjährige Geschichte zurück, auf die Christian Walsoe im Interview eingeht.Christian Walsoe hat unlängst für den Efficiency Club Basel einen interessanten Vortrag zum Thema „Seidenstrasse“ gehalten. Im Interview mit Xecutives.net zeigt Christian Walsoe auf, was hinter diesem gigantischen und auf Jahrzehnte ausgelegten Projekt China’s steckt, wie China sich selber sieht, wie Chinesen aber auch uns sehen. Er macht auf die Unterschiede zwischen China und der westlichen Welt aufmerksam, die das Individuum ins Zentrum stellt, im Gegensatz zu China, das dem Gesamtinteresse der Gesellschaft ein grösseres Gewicht beimisst als den einzelnen Menschen mit ihren Entwicklungs- und Entfaltungswünschen. Schliesslich geht Walsoe auch auf die Frage ein, was in Hongkong zu erwarten ist.
Xecutives.net: Sehr geehrter Herr Walsoe, Sie haben unlängst für den Efficiency-Club Basel einen sehr lehrreichen Vortrag über China und die Seidenstrasse, die Belt and Road Initiative, gehalten. Sie haben aufgezeigt, was dieses Seidenstrassen-Projekt für unglaubliche Dimensionen aufweist. Sie haben den Fokus nicht nur auf wirtschaftliche Aspekte gerichtet, sondern auch auf kulturelle Vorkommnisse, indem sie etwa aufgezeigt haben, wie die Chinesen funktionieren, was ihre Ziele und Probleme sind, auch wie sie uns hier in der Schweiz, in der westlichen Welt, sehen und wahrnehmen. Bevor wir nun aber auf China zu sprechen kommen, möchte ich Sie fragen, was der Efficiency-Club ist, mit dem Sie schon seit vielen Jahren eng verbunden sind.
Christian Walsoe: Der Efficiency-Club ist ursprünglich ein Netzwerk für Gewerbler und (Klein-) Unternehmer, das in den Dreissigerjahren mitten in der Wirtschaftskrise entstanden ist. Es wurde von einem belgisch-kanadischen Doppelbürger namens Herbert N. Casson in verschiedenen Schweizer Städten gegründet, der in die Schweiz kam und erkannte, dass Unternehmer viel voneinander lernen könnten, wenn sie miteinander sprechen und voneinander lernen würden. Die damalige Zeit war noch sehr anders als heute. Es gab kein Internet, geschweige denn soziale elektronische Netzwerke, wie es sie heute zu Hunderten gibt. Viele Wirtschaftsverbände, die heute über die Grenze der Schweiz tätig sind, gab es damals noch nicht. Rotary, Lions, Freimaurer und Kiwanis waren Verneigungen, die es zwar schon gab. Der Efficiency-Club sollte aber anders funktionieren. Casson wollte mit seiner Initiative mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Lebensqualität und Effizienz für Unternehmer schaffen. Er zielte auf den Menschen als Individuum und auf Unternehmenserfolg in einer schwierigen Zeit ab, bezog also das Private und Geschäftliche mit ein. Die Themen waren schon damals Innovation, Vermarktung, Trendforschung, administrative Verbesserungen, Wirtschafts- und Börsenentwicklungen, vor allem aber auch kulturelle Themen aus den Bereichen soziale Verantwortung, Philosophie und Ethik, auch das Kennenlernen fremder Länder und Kulturen und geselliges Zusammensein mit Gleichgesinnten.
Der Club schlitterte 2004 in Probleme, auch finanzieller Art. Es gab zu wenig Freiwillige, die mitmachen wollten und die Zahlen stimmten nicht. In einer denkwürdigen Generalversammlung retteten ein paar Mitglieder mit der Sanierung der Clubkasse den Club vor dem Konkurs und ich erklärte mich bereit, das Präsidium zu übernehmen, sofern sich ein erneuerter und verjüngter Gesamtvorstand finden liesse. Ich kam damals aus der Grossindustrie und mir gefiel die Idee des Efficiency-Clubs mit seinen vielseitigen Themen. Ein solcher Club durfte nicht untergehen. Mehr als zehn Jahre konnte ich den Club zusammen mit meinen Vorstandskollegen zu neuen Ufern sprich Veranstaltungsgefässen führen. Mit einigen VorstandskollegInnen und Mitgliedern sind echte Freundschaften entstanden.
Den Efficiency-Club Basel gibt es also auch heute nach mehr als 80 Jahren noch, wobei sich die Themen mit dem Wandel der Zeit natürlich verändert haben. Seit 12 Jahren ist China (und Asien) im Efficiency-Club ein Thema – Mitglieder und Gäste erhalten dadurch Inspiration, Denkanstösse und wichtige Informationen aus erster Hand zu Entwicklungen in diesem erneut bedeutungsvollen Land und Kontinent.
Xecutives.net: Wie kam es zu Ihrem Interesse für China?
Christian Walsoe: Auslöser war eine Reise 2006 mit Mitgliedern des Efficiency-Clubs Basel ins Reich der Mitte. Wir kamen zurück mit der Erkenntnis, dass wir hier viel zu wenig wissen über die so unterschiedliche Kultur dieses Riesenreiches und seine unglaublich dynamische Entwicklung nach der Öffnung nach aussen. Man hatte von der chinesischen Kulturrevolution gehört, vom abschreckenden kommunistischen Machtapparat, aber wirtschaftlich und kulturell wussten die meisten Menschen, die nicht in China beruflich tätig waren, nur wenig über dieses Land. Uns war allen klar, dass da etwas passiert, das die Welt verändern wird.
Wir wollten der Sache auf den Grund gehen und besuchten Shanghai, Suzhou, eine der vielen wie Pilze aus dem Boden spriessenden Wirtschaftszonen und Guangzhou (das frühere Kanton), das Wirtschaftszentrum im Süden Chinas. Für uns war das damals eine unglaubliche Horizonterweiterung. Die Teilnehmenden der Reise waren der Meinung, man könne es nicht bei dieser einen Reise bewenden lassen und müsse dieses Thema weiterverfolgen. So kam es kurze Zeit später zur Gründung des Efficiency China-Forum Basel.
Nach unserer Rückkehr aus Guangzhou hatten wir der Basler Regierung vorgeschlagen, eine Städtepartnerschaft mit dieser südchinesischen Stadt einzugehen. Uns schien diese Stadt besser geeignet als das riesige Shanghai. Als aber Novartis und Roche sich für eine Städtepartnerschaft mit Shanghai einsetzen, hatte diese neue Welt-Metropole natürlich Priorität.
Xecutives.net: Es ist erstaunlich, was in China in den letzten Jahren passiert ist. China ist auf dem besten Weg, die Wirtschaftsmacht Nr. 1 auf dieser Welt zu werden. Das Land ist in kürzester Zeit von einem Agrarstaat zu einem wertschöpfungsreichen Land mutiert. Was erkennen Sie, wenn Sie zurückblicken?
Christian Walsoe: Für mich ist heute rückblickend sehr spannend zu sehen, wie es sich bei diesen Vorgängen in und um China um einen Prozess handelt. In den vielen Jahren, während Experten sich zu chinesischen Themen äusserten, hat sich China stets weiterentwickelt und verändert, in einer Geschwindigkeit, die man sich hier in unserer westlichen Welt gar nicht vorstellen kann. Es war spannend zu sehen, wie dieses vertraut werden mit einer 5000 Jahre alten Kultur sich auch auf die eigene Sichtweise auswirkte. Es ist nicht überraschend, dass sich der Sinomarxismus der chinesischen Art als politische Staatsform durchsetzte. Heute darf man Xi Jinping durchaus mit einem chinesischen Kaiser vergleichen. Er herrscht wie ein Kaiser über diese grosse Kollektivgesellschaft von über 1.3 Mrd. Menschen.
Das familiäre Netzwerk hat in China grosse Bedeutung. Die Menschen in diesen familiären Netzwerken sind stark miteinander verbunden, aber auch abhängig voneinander. Steht man ausserhalb dieses Netzwerks, kann der Umgang mit den Aussenstehenden aber brutal und auch skrupellos sein. Die 1.3 Mrd. Chinesen leben auf sehr engem Raum miteinander, aber jeder muss sich durchsetzen, wenn er weiterkommen will. Der Konkurrenzkampf des Einzelnen gegenüber Fremden ist enorm.
Wir stehen als Schweizer – eine westliche Welt gewohnt – plötzlich vor einem anderen Psychogramm als wir das hier im Westen kennen. Auch hier ist die Familie wichtig. Es gilt bei uns aber ein stetes Abwägen der individuellen Interessen und Entfaltungsmöglichkeiten. Wir sind generell mit allem, was wir tun, viel mehr auf das Individuum ausgerichtet als die Chinesen. Heute erkennt man, dass auch der Staat China immer wieder Eingeständnisse in Bezug auf diese Entfaltungsmöglichkeiten machen muss, da die Menschen eben auch dort individuelle und persönliche Bedürfnisse haben. Aber China ist immer noch eine Kollektivgesellschaft. Und China ist ein Land der Widersprüche. Diese müssen wir verstehen. Das Land ist stark hierarchisch organisiert. Das Land lässt, trotz kommunistischem Regime, einen grossen Kapitalismus zu. Schauen Sie sich Jack Ma an, den chinesischen Unternehmer und Philanthropen, einer der reichsten Menschen auf der Welt. Er wird vom kommunistischen Machtapparat toleriert, solange er das politische System nicht stört. Das tun diese Milliardäre auch nicht. Solange sie relativ frei nach aussen agieren können, ist ihnen das egal.
Xecutives.net: Wie unterscheiden sich diese Milliardäre, von denen es zwischenzeitlich doch sehr viele gibt in China und von denen auch viele in der Schweiz Geld anlegen und Investments tätigen, von den russischen Oligarchen, mit denen wir besser vertraut sind?
Das ist eine gute Frage. Sie unterscheiden sich dadurch, dass sich die chinesischen Milliardäre nicht in zusammenfallenden und erodierenden Staaten selbst auf Kosten des Staates bereichert haben, indem sie die politische Schwäche nutzten, um sich wirtschaftliche Vorteile zu schaffen. Die chinesischen Milliardäre haben ihre Vermögen mit eigener Kraft aufgebaut, halt mit guten Geschäftsideen und mit Sinn für Wertschöpfung. Von der Persönlichkeit her dürften sie sich nicht allzu sehr von den Oligarchen in Russland unterscheiden.
China selber hat seinen Reichtum im Gegensatz zu Russland nicht auf der Basis von Rohstoffen erarbeitet. Mit Xi Jinping hat auch China definitiv verstanden, dass man sich mit der westlichen Welt auseinandersetzen muss und dass es ohne Technik und Entwicklung auch in China langfristig nicht funktionieren wird. China wollte nicht die gleichen Fehler machen, wie die Russen, aber auch nicht wie die chinesischen Kaiser im 19. Jahrhundert, die von westlicher Technologie nichts wissen wollten und sich dann von den Engländern schamlos ausnutzen lassen mussten. Noch heute betrachten das die Chinesen als eine grosse Schmach. Diese Schmach, wenn mal will, ein neurotisches Ereignis, schlägt heute um in ein grosses Selbstbewusstsein, in Stolz bis hin zu Überheblichkeit.
China war lange Zeit nur auf sich selbst bezogen. Es betrieb nie einen Expansionismus wie die europäischen Länder. China versteht sich aber als Reich der (Welt-)Mitte – mit wichtigen Territorien wie Tibet und Hongkong, die sie zu ihrem Reich gehörend betrachten. Das Zentrum der chinesischen Welt liegt also nicht in den USA oder in Europa, sondern in China. Es gibt sehr viele geografische Aspekte, über die wir hier im Westen nicht viel wissen, die in diesem Zusammengang aber wichtig sind. China hat rund fünf Mal weniger Wasser zur Verfügung als die USA und das mit der gleichen Fläche bei einer mehr als doppelt so hohen Bevölkerung. Darum ist Tibet als Wasserschloss für China so wichtig. Das Wasser ist in China zudem schlecht verteilt und mehr als ein Fünftel ist heute so stark verschmutzt, dass es kaum wieder aufbereitet werden kann. Die Knappheit von Wasser ist einer der Gründe, warum sich die Agrarwirtschaft in China nie so entwickeln konnte wie in den USA. Und dies hat dazu beigetragen, dass ein grosses Gefälle zwischen Stadt und Land herrscht – und das bis heute. Von der wirtschaftlichen Entwicklung haben in erster Linie die Küstenregionen profitiert, wogegen die Landregionen auch heute noch sehr rural daherkommen. Das führt zu sozialen Spannungen, aber auch zu gezielten strategischen Entwicklungsprogrammen der kommunistischen Führung in den ärmeren westlichen und nördlichen Provinzen.
Xecutives.net: Das ist ein interessanter Punkt und hier setzt Xi Jinping nun mit der Belt and Road Initiative an. Was sind seine Ziele mit den vielen Milliardeninvestments auf der ganzen Welt?
Christian Walsoe: Seine Zielsetzung besteht darin, auch die küstenfernen Provinzen, wo viele unterprivilegierte Menschen wohnen, aufzuwerten und das soziale Gefälle zu verkleinern, indem man sie eben entwickelt. Xi Jinping will die Lebensbedingungen auch in diesen Provinzen erhöhen und hat angefangen, die chinesischen Handelsräume hierfür auszuweiten und dort wertschöpfungsintensivere Produktionen aufzubauen. Er ist sich bewusst, dass der technologische Wandel einerseits und die Produktionsverlagerung wertschöpfungsarmer Industrien in die umliegenden asiatischen Staaten andererseits den sich langsam entwickelnden Mittelstand Chinas gefährdet. Nur sind dies nicht «nur» ein paar Millionen Menschen, die davon betroffen sind, sondern 500-700 Millionen. China hat kein Interesse, militärische Mittel einzusetzen. Der Machtapparat macht das anders. Er sucht sich Wirtschafts-Partner auf der ganzen Welt, die helfen, das Handelspotential mit China zu verbessern und zu vergrössern.
China konnte sich enorm rasch entwickeln, von einem Agrarstaat zu einer der drei stärksten Wirtschaftsmächte der Welt. Das hat vor allem funktioniert, weil das politische System sehr schnelle Entscheide erlaubt. Die kommunistische Partei verfügt über sehr viel Macht und sie schmiedet Pläne im Sinne der chinesischen Gesellschaft. Während wir hier über den Bahnhof in Stuttgart diskutieren, jahrelang planen und politische Hürden für jedes grosse Projekt nehmen müssen, bauen die Chinesen kurzerhand ein ganzes Dutzend Bahnhöfe und Hochgeschwindigkeitsstrecken. Sie setzen ihre Projekte einfach um, in einer Geschwindigkeit, die für uns unvorstellbar ist, uns aber auch zu denken gibt. Und das haben sie nun auch mit den Belt & Road-Projekten im Ausland fortgesetzt, ausgehandelt mit den ausländischen Regierungen, aber ohne ausreichenden Einbezug der lokalen Bevölkerung.
Hier in Europa setzen wir uns mit den einzelnen Menschen auseinander, die bei dieser Vorgehensweise in China schlecht abschneiden. Wir lesen Berichte über Menschen ganzer Stadtteile, die man wegschickt oder deren Lebensgrundlagen man zerstört, um dafür für eine viel grössere Anzahl Menschen ganze neue Stadtteile zu bauen und Industrien anzusiedeln. Wir tun uns hier schwer mit dem Gedanken, dass die Chinesen dem Gemeinwohl eine grössere Bedeutung zukommen lassen als dem Schicksal einzelner Menschen oder Minoritäten. Diese vollkommen andere Sichtweise ist in der Verfassung der Chinesen verankert. Die chinesische Regierung tut sich deshalb auch schwer mit unserer UNO-Menschenrechtscharta, weil sie auf das Individuum und dessen Schutz ausgerichtet ist, wogegen die chinesische Führung in erster Linie für die Gesellschaft denkt und nicht die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen in den Vordergrund stellt. Wir sehen hier in Europa die Uiguren als Beispiel eines Volkes, das vom chinesischen Machtapparat unterdrückt wird und wir sind entsetzt über deren Umerziehung in Gefangenenlagern. Ich selbst höre dazu in China Widersprüchliches. Viele Han-Chinesen sagen in Gesprächen, dass man keinen Terrorismus haben wolle und das ginge halt nur, indem man aufmüpfige Menschen von der Gesellschaft trenne und sie umerziehe. Terrorismus müsse an der Wurzel verhindert werden. Solange sich Minoritäten daran halten, werden sie toleriert oder ihre Besonderheiten auch unterstützt und bewahrt; wenn sie sich aber gegen die Allgemeinheit auflehnen, werden sie bekämpft. Das zeigt diese völlig andere Wahrnehmung als wir sie in Europa haben.
Das sehr Nahe-Aufeinander-Leben prägt einen Menschen. Die Intimsphäre ist in China viel kleiner als hier. Dazu kommt ein enormer Konkurrenzkampf, der bis zur Rücksichtslosigkeit führen kann. Dies erklärt, warum die Chinesen mit Überwachungsmassnahmen des Einzelnen viel weniger Probleme haben als wir hier in Europa. Sie sind der Meinung, dass wenn der Verkehr staatlich mit Kameras überwacht wird, weniger Unfälle geschehen und weniger Brutalität und Kriminalität möglich ist. Das erklärt, warum Gesichtskontrollen in China mit grosser Leichtigkeit als legitime Mittel eingesetzt werden. Chinesische Konsumenten sind froh, wenn der Staat Unternehmen auf die Finger schaut, deren gutes oder ungenügendes Verhalten bewertet und auch öffentlich macht. Dann wissen sie, woran sie sind. Es ist in China nicht wie bei uns, wo im Verlaufe der letzten hundert Jahre sehr viele Normen bezüglich Qualität, Sicherheit und Hygiene entwickelt wurden, auf die wir als Bürger vertrauen können. Der chinesische Konsument will aber auch Qualität, Sicherheit und Hygiene und viele sind froh, dass Sünder vom Staat an den Pranger gestellt oder bestraft werden.
Xecutives.net: Ich wundere mich, wenn ich hier in Europa Zeitungen lese, dass wir uns stets mit der Frage beschäftigen, wer die Chinesen sind und wie sie funktionieren. Sie selber haben in Ihrem Referat zum Thema Seidenstrasse eine ganz andere Frage aufgeworfen, die meines Erachtens wichtiger ist, nämlich, wie denn die Chinesen beispielsweise uns hier in der Schweiz sehen und wahrnehmen. Diese Sicht wird kaum beschrieben. Wie sehen uns die Chinesen hier in Europa?
Christian Walsoe: Das ist sehr interessant und mir ist es ein Anliegen, dem Publikum zu zeigen, was die Chinesen von uns halten und wie sie uns wahrnehmen. Hierbei ist es ein grosser Unterschied, ob man Chinesen hier in der Schweiz begegnet oder im eigenen Land mit ihnen zu tun hat. Ich möchte das mit einem Beispiel veranschaulichen: Wir haben vor ein paar Jahren während der ART Basel eine Gruppe von bekannten Chinesen durch Basel geführt. Die Besucher waren sehr fasziniert und interessiert. Sie haben viele Fragen gestellt. Sie waren überrascht, dass wir alte Häuser erhalten und wie wir unser kulturelles Erbe hüten. Wir sprachen über Nachhaltigkeit, die sich z.B. in einem Stadtbild ausdrückt. Diese Nachhaltigkeit wird bewundert, aber sind sie nicht auch Zeichen von Stagnation?
Der Delegationsleiter und Mitglied der Exekutive einer der dynamischsten Städte Chinas lud mich im Anschluss an seinen Besuch zu einem Gegenbesuch ein und bat mich, ein Konzept für ihn auszuarbeiten. Es ging um die Frage, wie man auch in China nachhaltig Stadtentwicklung betreiben könnte. Ich traf mich mit Spezialisten in der Schweiz und reiste mit einem Konzept nach China. Dort hatte ich die Möglichkeit, am lokalen Fernsehen zu sprechen. In China selber wurde aber schnell klar, dass mein Gastgeber die Hauptfigur war bei diesem TV-Projekt. Sein Ziel war es zu zeigen, dass er wichtig ist. Dann passierte etwas für mich sehr Eindrückliches. Obwohl es sich um ein Exekutiv-Mitglied der Stadtregierung handelte, wurde klar, dass sein Einfluss auf wichtige Entwicklungen beschränkt ist. Ich hatte ihm vorgeschlagen, ein Universitäts-Institut für nachhaltige Stadtentwicklung zu gründen, in dem man sich mit der Entwicklung von chinesischen Städten auseinandersetzt, in der Hoffnung, dann über das Institut Einfluss auf das kommunistische Planungsregime nehmen zu können. Natürlich ist das aber nicht passiert – als Exekutiv-Mitglied einer Stadtregierung konnte er dies nicht auf seine eigene Fahne schreiben und umsetzen. Wichtige Entscheide kommen alle vom kommunistischen Planungsbüro. Dort werden, wenn man so will, die grossen Würfe definiert, die dann von allen anderen umgesetzt werden müssen, und zwar so, wie es die Planer im Planungsbüro vorgeben. Diskussionsspielraum gibt es kaum. Mein Gastgeber war für die Stadt tätig und hatte allenfalls Einfluss auf Details in der Ausführung.
Mir ist dann vor Ort das WEF in Davos in den Sinn gekommen. Ein solcher Anlass ist entstanden, weil Klaus Schwab selber sein ganzes Leben und seine ganze Energie in das Projekt eingebracht hat und dann andere um sich scharen konnte, die die Bedeutung einer solchen Plattform mit ihm zusammen erkannten. Eine solche Initiative, angestossen von einer einzelnen Person, wäre in China nicht möglich.
Xecutives.net: Ich habe im Nachgang Ihres Referats und im Vorfeld dieses Interviews an meine Schulkarriere gedacht und mit Lehrern und Schülern verschiedener Schulen gesprochen. Meine Frage war immer, ob China ein Thema sei in der Schule, ob man mal ein Buch aus China gelesen oder etwas über die Wirtschaft dort erfahren habe. Die Antworten haben mich nicht wirklich überrascht. Keine einzige der angesprochenen Personen konnte das bestätigen. Wenn man nun bedenkt, dass die meisten Sachen, die diese Personen tragen, inklusive der Schuhe und der technischen Geräte sowie die Game-Equipments, die junge Menschen zuhause haben, aus China kommen, dann ist das aber doch etwas überraschend. Wie sehen Sie das als Schweizer mit vier Kindern nach Ihren Besuchen in China?
Christian Walsoe: (Lacht) Ja, schauen Sie, das war auch der Grund, warum wir vom Efficiency-Club in Sachen China tätig werden wollten und nun Dutzende Veranstaltungen organisiert haben. Die Sicht auf die Welt ist wichtig und was in China passiert, hat auch Auswirkungen auf Europa und somit auch auf die Schweiz. Auch ich wundere mich, dass man in der Schweiz lieber an den negativen Vorurteilen gegenüber China festhält, sich aber nicht wirklich mit deren Sichtweise und deren Gründen für einen verbesserten Lebensstandard eines ganzen Milliardenvolkes befassen will.
Im Übrigen habe ich Ihre Fragen an Schulen auch schon gestellt. China ist kein Thema. Dabei wird Chinas Rolle immer wichtiger. Die USA hat das mit Trump verstanden. Seine Versuche, sich gegen diese schnellen Entwicklungen in China zur Wehr zu setzen, erscheinen mir manchmal fast naiv. China ist mit einer Geschwindigkeit unterwegs, die selbst die USA verunsichert. Denken Sie an 5G oder an die Elektroautoindustrie. USA ist grad daran, hier die Führerschaft zu verlieren, was sich in nervösen Manövern der USA-Regierung niederschlägt, indem man Huawei Spionage vorwirft. Jahrelang haben die USA nichts unternommen, um ihre eigene Industrie auf Vordermann zu bringen, sondern sie haben bereitwillig die Produktion nach China verlagern lassen. Gleichzeitig wollte man am grossen chinesischen Marktpotential partizipieren. Die Chinesen hingegen sind schlau und handeln langfristig-strategisch: Nur wenn ihr uns teilhaben lasst an eurer Technologie, öffnen wir unsere Märkte für Euch, lautet der Tenor.
Xecutives.net: Herr Walsoe, was geht in Sachen Seidenstrasse ab? Welche Ziele verfolgen die Chinesen mit diesem gigantischen auf 100 Jahre ausgerichteten Projekt, wohl das grösste Infrastruktur Projekt, das es auf der Welt überhaupt je gab?
Christian Walsoe: Das Ziel des Projektes „Seidenstrasse“ oder «Belt & Road» ist viel umfassender, als das, was wir hier im Westen lesen und mitbekommen. Natürlich liegt das Fundament dabei beim Bau der landgestützten Infrastruktur von Zentralasien nach Europa und Afrika und der maritimen Seidentrasse (der «Road») mit jeweils gigantischen Projektvolumen. So bauen die Chinesen in Sri Lanka zurzeit eine neue Stadt, die Lebens- und Arbeitsraum für 300‘000 Menschen bieten soll. In Pakistan bauen die Chinesen fünf Kohlekraftwerke und zwei Atomkraftwerke, dazu eine Ölpipeline und Gebirgsstrasse nach Xinjiang und einen Hafen im Süden Pakistans, der Chinas Versorgung und Handel unabhängiger von der Meerenge von Malakka machen soll. Eine entwickelte Landwirtschaft Pakistans soll die pflanzlichen Rohstoffe liefern, die Chinas Provinz Xinjiang braucht, um zur führenden Textilzone für hochstehende Textilmode Asiens zu werden.
All diese Projekte sind gigantisch und wurden bisher in Ablauf und mit einer Geschwindigkeit realisiert, die sich nicht nach westlichen Vergabenormen und ökologischen Anforderungen richteten. Zudem werden einige mit diesen Projekten «beglückten» Länder in eine grosse finanzielle Abhängigkeit von China geführt. Dafür gab es heftige Kritik aus dem Westen. Xi Jinping versprach Besserung und eine Öffnung für die Teilnahme ausländischer Projektpartner. Wie weit können wir von Europa aus ihn da beim Wort nehmen? Wir werden sehen…
China ist auf einen globalen Handel angewiesen. Dafür braucht jedes Land die Infrastruktur für schnelle und moderne Handelsströme. Damit neue Handelsmöglichkeiten entstehen können, braucht China Partner und eine funktionierende Infrastruktur. China verzahnt sich wirtschaftlich mit Staaten in Asien, in Afrika und auf der ganzen Welt und sichert sich damit Wertschöpfungspotential. China möchte Marktführer von neuen Wertschöpfungsketten werden, weil sich gezeigt hat, dass Marktführer die Bedingungen von Wertschöpfungsketten besser bestimmen können, als wenn sie nur Zulieferer bleiben. Als Beispiel sei hier nur die Elektromobilität genannt.
China will seinen Machtanspruch nicht militärisch untermauern, sondern kommerziell und technologisch. Das Land will den globalen Handel ausweiten und damit Wohlstand für seinen eigenen Mittelstand und für den der Partnerländer schaffen. Für mich ist es nicht nur politische Rhetorik, wenn die chinesische Führung von der Entstehung einer «Schicksalsgemeinschaft» spricht. Man will in China (und im befreundeten Ausland) produzieren und Millionen von Arbeitsplätzen erhalten oder neue schaffen. Das Projekt «Seidenstrasse» ist Ausdruck der politisch abgesegneten, länderübergreifenden Industriepolitik Chinas. Für mich ist «Belt & Road» wie das Branding oder das Marketing-Label der multinationalen Industriepolitik Chinas.
Xecutives.net: China will sich natürlich auch Ressourcen sichern, das auf lange Sicht. Dafür werden ungeheure Beträge aufgeworfen. Soweit unterscheidet sich das noch nicht allzu sehr von dem, was viele europäische Länder während der Zeit der Kolonialisierung machten. Wie sehen Sie diese chinesische Kolonialisierung?
Christian Walsoe: Auch das ist eine interessante Erkenntnis und ich sehe das auch so, jedoch passiert das auf andere Weise. Die Chinesen haben in den Ländern, in denen sie tätig sind, die Infrastruktur ganz wesentlich verbessert und somit eine wesentliche Voraussetzung zum Wohlstand der Bevölkerung geschaffen. Die Chinesen gehen aber weiter. Sie ermöglichen diesen Ländern, eigene Fabriken zu bauen und zu betreiben. Diese Länder sollen Zulieferer für China werden. China versucht sich die Teile mit höherer Wertschöpfung zu sichern, überlässt, bzw. fördert, aber diejenigen Schritte mit tieferer Wertschöpfung in den Partnerländern.
Das haben wir hier in Europa in den kolonialisierten Ländern so nicht gemacht. Wir sind in andere Länder gegangen und haben die Völker dort einfach ausgebeutet. Der Mensch wurde hier als Rohstoff gesehen, ein Grund, ihn als Sklaven zu missbrauchen. Und dann haben wir ihre Rohstoffe zu möglichst tiefen Kosten zu uns geholt. Die Chinesen machen das anders. Sie sind bereit, die Infrastruktur aufzubauen, nicht kostenlos, sondern mit langfristigen Lieferverträgen. Und sie fördern den Aufbau erster Wertschöpfungsschritte in diesen Ländern. Noch bis vor ein paar Jahren gab es innerhalb von Afrika keine bedeutenden horizontalen Verkehrsverbindungen. Die Chinesen bauen zurzeit von Angola aus quer durch Afrika eine solche Verkehrsinfrastruktur aus. Und in Äthiopien und Somalia werden Textilbetriebe und andere wertschöpfungstiefe Produktionen mit chinesischer Hilfe und Ausbildung angesiedelt.
Xecutives.net: Wir brauchen bspw. für eine simple Strassensanierung in Europa, auch in der Schweiz, ein Vielfaches der Zeit, und wohl auch des Geldes, das Chinesen für dieselbe Arbeit benötigen. Hierzu kursieren bereits die ersten Witze, die man sich gerne erzählt. Was steckt hinter diesen Witzen und was müssen wir dabei lernen?
Christian Walsoe: Die Chinesen machen das in anderen Ländern, nicht ganz unproblematisch, genau gleich, wie im eigenen Land. Es werden grosse Pläne geschmiedet und diese werden umgesetzt. China hat das in 40 Jahren geschafft, wofür wir im Westen in Sachen Wirtschaft 400 Jahre brauchten. Die Chinesen bewundern uns einerseits. Sie finden unsere Städte schön und haben Freude an den Bergen und Seen. Sie stellen aber auch fest, dass hier in der Schweiz und in der westlichen Welt alles sehr langsam vorangeht. Sie haben Recht mit Ihrem Beispiel, das man als Metapher für Vieles verstehen darf. Tatsächlich dauern viele Baustellen der öffentlichen Hand wohl viel zu lange, womit sie auch teurer werden. Manches Unternehmen würde Konkurs anmelden müssen, wenn es so arbeiten würde. Das ist aber auch Resultat unseres politischen Systems. Es ist oft kompliziert, Projekte umsetzen zu können, weil viele Partikularinteressen abgewogen werden müssen. Hier haben die Chinesen eine ganz andere Sicht, wie wir das schon angetönt haben. Sie richten sich nicht nach einzelnen Menschen, sondern nach den Bedürfnissen der Gesellschaft. Für Chinesen ist es schwer verständlich, dass es in der Schweiz so viele Einsprachemöglichkeiten für dies und jenes gibt und Politiker Partikularinteressen verfolgen. Sie halten unser Demokratiesystem für träge und wenig effektiv.
Xecutives.net: Aber auch sonst haben die Chinesen eine ganz andere Art, wie bspw. Verträge verhandelt werden. Man kritisiert, dass es oft schwierig sei, Verbindliches zu vereinbaren. Und habe man mal etwas vereinbart, so kann es leicht auch ganz anders kommen. Was steckt dahinter?
Christian Walsoe: Es braucht sehr viel Zeit, um mit Chinesen eine Vertrauensbeziehung aufbauen zu können. Sie wollen wissen, wer wir sind. Sie machen das bspw. beim Essen. In der Schweiz und in Deutschland haben wir die Tendenz, Verträge speditiv und effizient abzuschliessen. Man kommt, schliesst einen Vertrag ab und dann geht man wieder. Die Chinesen machen das anders. Für einen Chinesen muss ein Vertrag nicht heute oder morgen abgeschlossen werden. Sie stellen Fragen, auch über die Familie, über die Ausbildung der Geschäftspartner. Sie wollen dem Geschäftspartner vertrauen können. Beziehungen sind wichtig, nicht einzelne Eigenschaften. Weil sich so vieles so schnell verändert, sind Verträge im Moment wichtig, aber nicht unbedingt in einem Jahr. Wichtiger ist es zu erkennen, welche Machtposition mein Gegenüber hat und ob ich mich auf ihn verlassen kann und ich mich auf Augenhöhe mit ihm bewege. Für den Chinesen gibt es nicht Schwarz und Weiss, sondern sich ständig verändernde Grautöne; es gibt nicht DIE Wahrheit, sondern immer verschiedene Wahrheiten, die sich aus der praktischen Situation heraus ergeben.
Xecutives.net: Im Gespräch mit Experten, die mit China zu tun haben oder dort lange gelebt haben, fällt mir immer wieder auf, dass ein Schweizer das Gefühl bekommen könnte, die ganze Schweiz sei eine Art Museum, ein Freilichtmuseum, wie der Ballenberg. So wirken wir vielleicht auf die Chinesen, die uns besuchen. Unser Desinteresse, auch von Seiten unseres Schulsystems, das China nicht auf dem Lehrplan hat, könnte uns Schweizer für Entwicklungen in und um China blind machen. Um es mal etwas übertrieben auszudrücken: Riskiert die Schweiz, längerfristig ein Museum zu werden?
Christian Walsoe: (lacht) Die Schweiz hat sicherlich grosse Chancen, nicht nur als «Museum» bestehen zu bleiben. Die Schweiz ist aber von der EU umgeben und stark von der EU abhängig. Ich sehe das Ballenberg-Problem eher dort. Die EU muss zurzeit schwierige Hürden nehmen und es gibt viele interne Kämpfe. Nationalistische Ideen poppen an jedem Ende auf, was die EU als Ganzes schwächt, natürlich zur Freude von anderen Mächten auf dieser Welt, wie Russland, China und den USA. Sie erkennen unser Zaudern und das kommt ihnen sehr entgegen. Die EU wird als gespalten und schwach wahrgenommen, was die Chinesen durchaus ausnutzen.
Wir werden in der Schweiz nicht zu einem Museum werden. Wir können uns aber nicht einfach nur ausruhen und denken, die Chinesen kommen dann weiterhin zu uns und der Handel laufe von allein. Was wir lernen müssen, ist nicht nur schwarz-weiss zu denken, also entweder-oder, sondern mit Widersprüchen zu leben. Wir müssen uns mit den Chinesen auseinandersetzen und verstehen, warum sie so sind, wie sie sind. Die wirtschaftlichen Entwicklungen treffen auch die Schweiz. Denken Sie an die Elektromobilität und autonomes Fahren. Die Chinesen wollen hier an die Spitze und Europa muss sich Mühe geben, mithalten zu können. Die Schweiz wird aktiv ihre starke Position in wertschöpfungsintensiven Nischen aufrechterhalten müssen. Wir haben aufgrund unserer Kleinheit, unserer stabilen politischen Rahmenbedingung, unserer Innovationskraft aber auch unserer hohen ethischen Ansprüche und Verlässlichkeit einen hohen Qualitäts- und Lebensstandard erreicht. Aber das gestiegene Selbstbewusstsein Chinas und die Verlagerung der wirtschaftlichen Dynamik nach Asien wird Europa und die Schweiz herausfordern.
Xecutives.net: Wo erkennt ein durchschnittlicher Schweizer die Auswirkungen des Seidenstrassen-Projektes auf die Schweiz?
Christian Walsoe: Die strategischen Interessen Chinas betreffen uns ganz direkt. China hat unlängst sein grösstes Direktinvestment im Ausland getätigt, mit dem Kauf von Syngenta in Basel. China will seine Landwirtschaft verbessern und die Syngenta-Technik nach China bringen. Bei dieser Transaktion sind viele Menschen und auch die Politik aufgeschreckt. Die neuen Besitzer werden Syngenta mit ihren vielen Mitarbeitenden in Basel und Umgebung herausfordern, aber es dürfte kaum zu einer Zerschlagung der Firma kommen, wie es bei einer Übernahme durch die amerikanische Monsanto oder andere westliche Konzerne mit hoher Wahrscheinlichkeit geschehen wäre.
Aber zurück zu Ihrer Frage, zur «Seidentrasse» und deren unmittelbare Auswirkungen auf die Schweiz: Was macht China in Italien? Italien ist bereit, sich auf eine Zusammenarbeit mit China einzulassen, weil sich das Land von der EU nicht richtig behandelt fühlt. Ähnliches passiert in Osteuropa mit der neuen Eisenbahnstrecke zwischen Budapest und Belgrad. Die EU rümpft dabei die Nase.
Die Häfen von Triest und Genua könnten zu neuen Einfallstoren der Chinesen nach Europa werden. Für die Schweiz könnte das bedeuten, dass der Warentransport aus dem Süden wieder viel bedeutungsvoller werden könnte. Für die nördlichen Häfen wie Hamburg oder Rotterdam könnte das Auswirkungen haben.
Xecutives.net: Wir haben jetzt viel über die Wirtschaft gesprochen und die Sicht auf China und die chinesische Sicht auf uns angeschaut. Wie schaut es aber aus mit den Problemen, die China hat in Bezug auf Minderheiten, Menschenrechte, zurzeit auch die Herausforderungen mit Honkong, das mit dem kommunistischen Parteisystem in China mit Demonstrationen zeigt, dass man nicht einverstanden ist. Kurzum, sehen Sie selbst das Risiko, dass China früher oder später auseinanderfallen könnte, so wie das bspw. auch in Russland vor noch nicht allzu langer Zeit passiert ist? Ein China-Experte meinte unlängst in einem privaten Gespräch, dass viele unzufriedene Wanderarbeiter in China tätig seien. Würden sich diese erheben, könnte das gar das System zum Kippen bringen. Der Experte schliesst ein solches Szenario nicht aus.
Christian Walsoe: Ich sehe diese Gefahr durchaus. Es würde mich wundern, wenn die kommunistische Partei solche Aktionen in Hongkong allzu lange hinnimmt. Ein grosser Teil der Bevölkerung Chinas will Verlässlichkeit und Stabilität. Wenn es grössere Proteste gibt und diese andauern, allenfalls auf China selber überspringen, dann schliesse ich nicht aus, dass China die Armee einsetzen wird. Das haben wir schon einmal erlebt mit Tiananmen in China, wo Panzer aufgefahren sind. Das ist 30 Jahre her. Sobald China Ansätze von Aufmüpfigkeit erkennt, so greift das Regime durch. Über die Situation in Xinjiang haben wir ja schon gesprochen. Eine Mehrheit der chinesischen Gesellschaft könnte ein solch hartes Durchgreifen auch in anderen Teilen Chinas begrüssen oder zumindest tolerieren.
Xecutives.net: Zum Schluss Ihres Vortrages über «Belt & Road» wiesen Sie darauf hin, dass gerade eine neue Weltordnung im Entstehen ist. Was meinen Sie damit?
Christian Walsoe: Das bin nicht primär ich, sondern langjährige China- und Asienkenner vor Ort wie der ehemalige Europa-Minister Portugals, Bruno Maçães, der jetzt in Bejing einen Think Tank leitet, oder der Inder Parag Khanna, der von Singapur aus Asien als neues Dynamikzentrum der Welt analysiert. Die demokratische Werte-Ordnung wird von vielen asiatischen Staaten und deren Bevölkerung nicht mehr als die unbedingt wünschenswerte Staats- und Lebensform gesehen. Welche Ausprägungen eine neue Weltordnung haben wird und ob es eine einzige sein wird, ist sicher noch offen. China dürfte wohl langfristig eine multipolare Weltordnung anstreben.
Xecutives.net: Sehr geehrter Herr Walsoe, ich bedanke mich für die Zeit, die Sie sich für dieses Interview genommen haben und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihren China-Studien und ihren Beziehungen zur Kultur und zu den Menschen im Riesenreich der Mitte!
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