Joe Turner with his daughter Rita_Xecutives.net interview with Rita Juon Turner
Joe Turner with his daughter Rita

Rita Juon Turner wurde in Budapest geboren, Tochter einer Musikerfamilie. Ihr Vater Joe Turner gehörte zu den bekanntesten Jazz-Pianisten. 1907 in Baltimore geboren, fiel er bereits als Kind als pianistisches Talent auf, gefördert auch von Eubie Blake, der ebenfalls in Baltimore lebte. Wir sprechen von den Roaring Twenties. Joe Turner machte eine internationale Karriere als Harlem Stride-Pianist und lebte lange Zeit auch in der Schweiz, wo er eine grosse Fan-Gemeinde hatte. In den 30er-Jahren begleitete Joe Turner die damals schon sehr bekannte Sängerin Adelaide Hall nach Europa. Nach der Tournee machte er sich selbständig und spielte in den besten Lokalen und Konzertsälen. Joe Turner starb 1992 in Paris, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte.

Im Interview mit Xecutives.net erzählt seine Tochter Rita Juon Turner von ihrem Vater und sie beschreibt, wie es sich als Kind und Jugendliche anfühlte, die Tochter eines bekannten Musikers zu sein. Rita Juon Turner besuchte viele Internate in der Schweiz. Mit einem Handelsdiplom in der Tasche reiste sie schon früh in die USA, wo sie die Assistentin von Quincy Jones wurde, der legendäre Musikproduzent, der schliesslich als Produzent von Michael Jackson auf der ganzen Welt bekannt wurde. Rita Juon Turner lebte später lange Zeit in Brasilien und Thailand. Die Liebe zum Jazz hat sie das ganze Leben verfolgt. Rita Juon Turner geht im Interview auf viele weitere Jazz-Musiker ein, die sie in ihrem Leben mit ihrem Vater zusammen hat kennenlernen dürfen, so auch auf den kürzlich verstorbenen Buddha Scheidegger, Earl Hines und Bill Coleman, um nur einige bekannte Jazz-Musiker zu nennen.

(read the interview in English)

Xecutives.net: Liebe Frau Juon Turner, wir kennen uns seit vielen Jahren. Ihr Vater war die Jazz- und Piano-Legende Joe Turner, nicht zu verwechseln mit «Big Joe» Turner, dem bekannten Blues-Sänger. Er wurde 1907 in Baltimore (USA) geboren und kam in den 30er-Jahren nach Europa. Ihr Vater begleitete damals als junger Pianist die bereits sehr bekannte Sängerin Adelaide Hall. Wie muss man sich diese Zeit damals vorstellen? Was hat Ihr Vater hier in Europa angetroffen?

Rita Juon Turner: Mein Vater war sehr jung als er 1938 nach Europa kam, ein talentierter Pianist, der schon als Jugendlicher mit seinem Klavierspiel auffiel. Er wollte vermutlich die Welt sehen und freute sich über das Angebot von Adelaide Hall, sie nach Europa begleiten zu dürfen, was einer grossen Ehre gleichkam. Adelaide Hall war in den USA schon damals sehr bekannt, wir sprechen von den 30er-Jahren. Wie ich einmal hörte, war ein anderer berühmter Pianist vorgesehen, die Sängerin über den Atlantik nach Europa zu begleiten. Es handelte sich möglicherweise um Art Tatum. Wie das Leben so spielt, sagte dieser Pianist aber ab und mein Vater kam zum Zug.

Xecutives.net: Ihr Vater erscheint in vielen Jazz-Lexika und Büchern. Es gibt auch Filme über ihn und mit ihm. Wissen Sie, wie Ihr Vater aufgewachsen ist, wer ihn inspiriert hat, wie er zum Klavierspiel kam? Ich meine, er hätte mir vor vielen Jahren in Paris erzählt, dass seine Tante eine ausgezeichnete Orgel- und Klavierspielerin war, die sich in der Kirche engagierte. Sie dürfte sich auch mit Gospel auseinandergesetzt haben, ähnlich wie das bei Thomas «Fats» Waller verlief. Was wissen Sie über die frühesten Jahre Ihres Vaters? Wissen Sie gar etwas über seine Eltern?

Rita Juon Turner: Er hatte eine wundervolle Lehrerin, die ihn bereits als 5-jährigen unterrichtete. Man nannte sie «Aunt Katie», und ich hatte vor Jahrzehnten die schöne Gelegenheit, sie anlässlich meines Aufenthaltes in Baltimore kennen zu lernen. Sie beklagte sich darüber, dass sie wegen ihrer Arthritis leider nicht mehr spielen konnte, hat sich aber riesig gefreut, mich, die Tochter eines Lieblingsschülers, kennenzulernen. Meine Tante Jo, die Schwester meines Vaters, spielte ebenfalls Klavier und sang im Kirchenchor, aber das hat ihn vermutlich weniger inspiriert als der unglaubliche, 24 Jahre ältere und recht berühmte Eubie Blake, der ebenfalls aus Baltimore stammt. Eubie Blake spielte noch bis ins hohe Greisenalter grossartiges Jazzpiano!

Über meine Grosseltern väterlicherseits weiss ich leider recht wenig. Meine Grossmutter soll eine ziemlich strenge Mama und mein Grossvater ein unglaublich kräftiger Mann gewesen sein. Als einmal ein riesiger «Concert grand», ein grosser, schwerer Flügel, transportiert werden musste, brauchte es auf der einen Seite drei Leute, auf der anderen reichte Grossvater Turner völlig aus (lacht).

Xecutives.net: Ihr Vater machte die Tournee mit Adelaide Hall und lernte dabei das erste Mal Europa kennen. Was machte er später?

Rita Juon Turner: Als die Tournee mit Adelaide Hall beendet war, tat er sich Ende der 30er-Jahre mit einem Tänzer namens Lawrie Lawrence zusammen. Die beiden zogen als Duo weiter durch Europa und unterhielten mit ihren Künsten das Publikum. Als sie in Cortina d’Ampezzo in Italien ankamen, wo zu dieser Zeit auch meine Mutter in einem Damen-Orchester spielte, beschlossen die beiden Herren, das Publikum zu veräppeln, indem Lawrie sich ans Klavier setzte und mein Vater tanzte. Sie tauschten ihre Rollen.

Xecutives.net: Cortina d’Ampezzo wurde später auch durch einen James Bond-Film bekannt, für «For Your Eyes Only». Wir sprechen hier aber von den späten 30er-Jahren, kurz vor Kriegsbeginn. Ich traue Ihrem Vater zu, dass er sehr gut getanzt hat und das Publikum den Rollentausch nicht bemerkte…

Rita Juon Turner: Genauso war es! Die Darbietung als Ganzes sei aber eher bescheiden gewesen, haben mir meine Eltern erzählt. Meine Mutter hatte den Rollentausch im Übrigen auch nicht durchschaut und sie fand den hübschen „Tänzer“ gleich sehr sympathisch. Am zweiten Tag sind besagte Herren aber ganz korrekt aufgetreten und der qualitative Unterschied der Darbietung war enorm, was das Publikum umso mehr begeisterte, auch meine Mutter.

Cortina d'Ampezzo, Lonci and Joe Turner
Lonci and Joe Turner, Cortina d’Ampezzo

Zu dieser Zeit kamen sich meine Mutter und mein Vater somit näher – sehr viel näher, und zwar so nah, dass sie bald schon beschlossen zu heiraten (lacht). Leider bekam meine Mutter als Ungarin damals bei einer Heirat nicht automatisch die amerikanische Staatsbürgerschaft, verlor aber die ungarische, so dass sie staatenlos wurde. Das war für meine Eltern sehr misslich. Bedingung für einen US-Pass war ein dreijähriger Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, damit man – sofern man mit einem Amerikaner verheiratet war – auf Lebzeiten Amerikanerin werden und dort leben konnte. Auf der Botschaft in Budapest riet man meinem Vater, allein in die USA zu reisen und das Visum persönlich an Ort und Stelle zu beantragen, um diese Prozedur zu beschleunigen. Mein Vater ging also nach USA zurück und ausgerechnet in dieser Zeit brach der 2. Weltkrieg aus. Er war drüben in den USA, meine Mutter mit mir als Säugling auf den Armen war in Budapest.

Xecutives.net: Was wissen Sie noch über diese Zeit in Budapest?

Rita Juon Turner: Ich wuchs nach dem Krieg, den ich mit meiner Mutter in Budapest verbrachte, als ein ganz normales Kind auf. Ich sah meinen Vater zum ersten Mal in einem Film, zu dem mich meine Mutter mitnahm. Leider weiss ich den Namen dieses Films nicht mehr. Papa hatte in dem Filmwerk in schwarz-weiss eine kleine Rolle als Barpianist. Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Mutter zu mir sagte: Pass gut auf, jetzt wirst Du Klavierklänge hören, die von Deinem Papa kommen, und bald danach wirst Du ihn auf der Grossleinwand sehen! Es war umwerfend, und ich fragte mich, was all die Leute im Kino um mich herum sagen würden, wenn sie wüssten, dass das mein Vater ist, den ich gerade zum ersten Mal in meinem Leben sehe.

Als Papa dann 1948 endlich nach Budapest kam, um uns abzuholen, hatte er einen Riesenerfolg, gab Konzerte, spielte in Revuen und auch am Radio, aber es gefiel der kommunistischen Regierung nicht, dass ein dermassen populärer Künstler kein Kommunist sein wollte. Man sprach ihn immer wieder auf seine politische Einstellung an und man wollte aus ihm einen Kommunisten machen. Er lehnte das natürlich ab. Man fragte ihn, ob er denn ein Kapitalist wäre? Darauf antwortete er: Ich bin weder Kommunist noch Kapitalist, sondern Pianist! Leider goutierte die kommunistische Führung diese Einstellung überhaupt nicht und man begann, ihm den Jazz zu verbieten. Das sei Musik des dekadenten Amerikas, wurde meinem Vater mitgeteilt. Er durfte fortan nur noch Spirituals spielen sowie Musik von russischen Komponisten wiedergeben. Letztere Auflage war etwas schwierig, denn das einzige Stück, das er kannte und spielte war «Sabre Dance» von Aram Khachaturian. Das spielte er allerdings fantastisch. Dennoch haben meine Eltern eingesehen, dass es Zeit war, das Land zu verlassen. Geplant war eine Übersiedlung in die USA, allerdings mit einem Zwischenstopp in der Schweiz, wo wir dann aber definitiv hängen geblieben sind.

Xecutives.net: Sie haben mir vor vielen Jahren von Quincy Jones berichtet. Er ist eine grosse Musik-Koryphäe. Können Sie noch mal erklären, wie Sie ihn kennenlernten? Ich würde mir später erlauben, ihm dieses Interview zur Verfügung zu stellen und bin gespannt auf seine Reaktion!

Rita Juon Turner: Das dürfen Sie sehr gerne machen und Sie dürfen ihn von mir grüssen. Also ich kam in der Schweiz zunächst mal in Internate, damit meine Eltern frei reisen und arbeiten konnten. Mein Vater lebte von der Musik und er hatte sehr viele Engagements – sowohl in der Schweiz als auch im europäischen Ausland. Das war mit einem Kind nicht so einfach auf die Reihe zu bekommen. Bald schon aber liessen wir uns in Zürich nieder, damit ich normal zur Schule gehen konnte. Als junge Erwachsene mit Handelsschul-Diplom reiste ich mit zwei Freundinnen nach New York, wo ich bei Mercury Records als Sekretärin von Quincy Jones Arbeit fand. Er war damals A&R Director und zuständig für Jazzaufnahmen, noch nicht so bekannt wie heute. Dort erwartete mich 1962 eine grossartige und sehr interessante Aufgabe, nämlich sein chaotisches Büro in Ordnung zu bringen und auch mit seinen berühmten Kollegen persönlich oder auch am Telefon zu plaudern (lacht). Da wäre ich bestimmt noch ein Weilchen geblieben, wenn mein damaliger Freund in der Schweiz nicht Heimweh nach mir gehabt hätte. Er vermisste mich sehr und meinte, ich solle in die Schweiz zurückkehren, damit wir heiraten könnten (lacht). Grund genug, um Quincy zu verlassen. Er war «not so amused» über meinen Entscheid. Ich traf Quincy erst wieder viele Jahre später am Montreux Jazz Festival anlässlich seines 50. Bühnenjubiläums, zu dem er meinen Mann und mich einlud. Wir hatten einen Ehrenplatz in der 1. Reihe und genossen jede Minute.

Xecutives.net: Ihr Vater wurde in den USA für den Militärdienst eingezogen, ähnlich wie sein Musikkollege, der Pianist Willie «The Lion» Smith. Sein «The Lion» hat man ihm offenbar nachgesagt, weil er sich im Krieg mit grossem Mut sehr verdient gemacht hatte. Der Jazz hat im Krieg und auch später einiges dazu beigetragen, dass sich Menschen verschiedener Kulturen und Ethnien besser verstehen. Trotzdem wuchs Ihr Vater in schwierigen Verhältnissen auf, wenn man bedenkt, dass in den 20er- und 30er-Jahren bekannte schwarze Musiker und Musikerinnen vielen Weissen ein Dorn im Auge waren, nicht nur wegen der Musik. Ein gutes Beispiel ist Ella Fitzgerald. Wie ist Ihr Vater als schwarzer Musiker damit umgegangen?

Rita Juon Turner: Mein Vater wurde ebenfalls eingezogen, musste aber zum Glück und im Gegensatz zum «Lion» nicht an die Front. Er durfte die Soldaten mit seinem Klavierspiel bei Laune halten.

Was die Rassendiskriminierung angeht, so hat er zum Glück den Ausweg nach Europa gefunden. Es gefiel ihm hier in Europa ausserordentlich gut. Nicht nur, weil er hier auch eine Familie gegründet hatte, sondern auch, weil seine Musik hier ganz besonders geschätzt wurde. Eine ganz besondere Hilfe in dieser Beziehung war ihm in der Schweiz der vor vielen Jahren verstorbene – und man darf sagen «legendäre» – Johnny Simmen. Ihm verdankt unsere Familie sehr viel. Er war ein grossartiger Jazz-Experte und unterstützte meinen Vater, wo er nur konnte. Er war sicher einer der wichtigen Gründe, weshalb wir uns schliesslich in der Schweiz niederliessen. Er war sicher ebenfalls ein Grund für meinen Vater, nicht mehr in die USA zurückzugehen.

Musikalisch gesehen, wäre eine Rückkehr in die USA für meinen Vater und seine Karriere sicher sehr förderlich gewesen. Ihm und meiner Mutter war aber klar, dass das Leben in der damaligen Zeit für ein gemischtes Paar in den USA sehr schwierig gewesen wäre. Da mein Vater auch nicht besonders ehrgeizig war und lieber ein gutes – und vor allem friedliches – Leben führen wollte, zog er es vor, in Europa zu bleiben und er hat diesen Entscheid bis zu seinem Tod nie bereut.

Xecutives.net: Wie sind Sie selber in diesem musikalischen Umfeld aufgewachsen und wie hat Sie persönlich der Jazz, dem Ihr Vater nachgegangen ist, geprägt?

Jazz pianists Joe Turner at the piano
Jazz pianists Joe Turner

Rita Juon Turner: Was mich betrifft, war ich auch so, wie die meisten Kinder berühmter Väter oder Mütter. Ich nahm all das als selbstverständlich hin und konnte mir gar nicht vorstellen, dass es anders hätte sein können. Es dauerte Jahre bis ich verstand, was für ein hervorragender Jazzpianist er wirklich war.

Ich nahm sehr früh schon als Kind in Budapest beim besten Klavierlehrer der Stadt Stunden und konnte nach einem Jahr recht gut spielen. Dann wanderten wir aber in die Schweiz aus. Ich war hier in der Schweiz in Internaten, wo leider die Klavierlehrerinnen und Klavierlehrer nicht so fordernd waren, wie mein strenger Lehrer in Ungarn. So schwand meine Motivation langsam dahin als ich merkte, dass ich seit Budapest kaum vorwärtskam. Die Freude am Spiel verblasste und, wie das so ist, wenn man ein Kind ist, widmete ich mich lieber anderen Freuden. Aber das Interesse an der Jazzmusik, insbesondere an gutem Piano-Jazz, war bei mir immer vorhanden.

Xecutives.net: Ihr Vater hatte persönlichen Kontakt mit Louis Armstrong, Art Tatum und Willie «The Lion» Smith, aber auch mit Thomas «Fats» Waller, wohl der bekannteste Harlem Stride-Pianist. Hat er Ihnen darüber berichtet? Wie war er mit diesen Stars der 20er und 30er-Jahre verbunden? Ihr Vater hat mir von einer Begegnung auch mit Art Tatum erzählt, den er offenbar speziell geschätzt hatte.

Rita Juon Turner: Auch mir erzählte mein Vater viel von Art Tatum, mehr aber noch von Thomas «Fats» Waller, mit dem er offensichtlich viel Lustiges erlebt hatte. Er konnte immer herzlich über den Schabernack, den sie sich in New York leisteten, lachen und beide respektierten einander als Musiker. Waller starb aufgrund seines Lebenswandels schon sehr früh. Er neigte zu einem ungesunden Lebenswandel und war sicher der populärste all dieser talentierten Pianisten.

Als Louis Armstrong 1955 in Zürich im Kongresshaus gastierte, waren meine Eltern natürlich auch dort. Sie sassen ziemlich vorne – ich glaube sogar in der ersten Reihe – und als Louis plötzlich meinen Vater sah, hörte er offenbar auf zu spielen, verliess das Podium und begrüsste ihn voller Freude. Leider war ich nicht dabei. Ich kenne diese Anekdote somit nur vom Hörensagen.

Joe Turner with his friend Louis Armstrong in Zurich, around 1958
Joe Turner with his friend Louis Armstrong in Zurich, around 1958

Wir hatten aber immer berühmte Besucher bei uns zu Hause, die ich oft auch kennenlernte. Ich kann mich sehr gut an Lionel Hampton erinnern, auch an Teddy Wilson und Albert Nicholas. Mein Vater war mit diesen Musikern sehr verbunden, sowohl freundschaftlich als auch musikalisch. Letzterer hat mit meinem Vater eine Platte aufgenommen und sie übten jeweils in meinem Zimmer, weil das Klavier dort stand – und das sehr zu meinem Ärger, weil ich dann als Teenager oft stundenlang nicht in meinem Zimmer sein konnte. Auch mit Earl Hines verband ihn eine enge Freundschaft. Es verging kein Geburtstag, ohne dass eine Karte von ihm ins Haus schneite. Später, als mein Vater in Paris lebte, war er ganz besonders mit Bill Coleman zusammen, auch er ein sehr guter Freund. Coleman wohnte im selben Gebäude wie mein Vater. Nun, nach all den Namen, muss ich natürlich auch Erroll Garner noch nennen. Er gehörte zu seinem engsten Freundeskreis. Letzterer wurde dann sogar «Pate» meiner Halbschwester.

Xecutives.net: Ihr Vater lebte seine letzten Jahre in Paris und spielte dort in der La Calavados-Bar, nahe bei der Avenue des Champs-Élysées. Er lud mich immer wieder zu einem Bier ein, wenn ich ihn als Student besuchte. Ein Bier kostete dort damals, für einen Stundeten horrende, 60 Francs! Warum wählte er Paris?

Rita Juon Turner: Die Auftritte dort haben ihm sehr gefallen. Ganz Paris kannte sein Klavierspiel. Immer wieder kamen ihn Menschen besuchen, die an seiner Musik interessiert waren. Für meinen Papa war Paris aus musikalischer Sicht wesentlich interessanter als Zürich, und er fühlte sich deshalb dort ausserordentlich wohl. Dort entstanden auch Aufnahmen mit ihm und seinen Freunden, die ich noch heute gerne höre.

Xeucutives.net: Ich denke immer wieder an das wahnsinnige Konzert 1961 am Gymnasium Schiers, als Joe Turner vor ein paar Schulklassen in die Tasten haute und er alle im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen hat, so auch Thomas Philippi und Buddha Scheidegger. Letzterer wurde, so hat er mir später erzählt, von Ihrem Vater aufgefordert, ebenfalls zu spielen. Die Schülerinnen und Schüler wussten wohl nicht, was da auf sie zukam. Ich halte diese Live-Aufnahme, die glücklicherweise gemacht worden ist, vom Allerbesten in Sachen Piano-Jazz („An Evening With Joe Turner / Schiers Bounce“, Downtown Records). Waren Sie auch mit dabei und was hat Ihnen Ihr Vater über dieses legendäre Konzert erzählt?

Rita Juon Turner: Wenn ich mal in der glücklichen Lage war, einem Konzert meines Vaters beizuwohnen, was leider nicht allzu häufig passierte, dann war ich natürlich immer sehr stolz auf ihn und freute mich, dass ich seine Tochter war. Die Freude all der vielen Menschen an seiner Musik war für mich wunderbar. Wie Sie mir gesagt haben, war sein Motto in Sachen Stride-Piano: «It’s music that makes you happy!». Es waren immer fröhliche Klänge, die er am Klavier, egal ob gute oder schlechte Instrumente vorhanden waren, hervorzuzaubern wusste und das machte alle Menschen um ihn glücklich. Sogar bei Spirituals schaffte er das.

Nun aber, um auf Ihre Frage in Bezug auf das legendäre Konzert in Schiers zurückzukommen: Leider, und ich bereue das auch heute noch sehr, habe ich dieses Konzert nicht live erlebt, da ich an einem anderen Ort die Schulbank drücken musste. Es war ja aber auch nicht vorhersehbar, was denn dort alles passieren sollte. Die Aufnahmen, die auf einer CD erhalten sind und von denen Sie sprechen, sprechen Bände! Mein Vater selbst hat mir persönlich nicht allzu viel von diesem Konzert erzählt. Was ich darüber weiss, habe ich später von Thomas Philippi und teilweise auch von Buddha Scheidegger erfahren, den Sie auch gut kannten.

Jedes Mal, wenn von diesem Konzert in Schiers die Rede ist, kommt mir eine Episode in den Sinn, die ich in der Haushaltungsschule in Valbella erlebt habe. Der Besuch war für uns Mädchen obligatorisch, und damit uns das etwas mehr Spass machte, und auch weil es dafür ein geeignetes Haus brauchte, wurden wir in ein Chalet nach Lenzerheide/Valbella geschickt. Dort regierte allerdings eine sehr gestrenge Dame mittleren Alters, die uns 1. nicht mochte und die es 2. gar nicht gerne sah, wenn wir jungen Mädchen auf dem Klavier spielten. Das war lustig und darum aus Sicht der Dame natürlich höchst verwerflich. Allerdings wurden «klassische» Stücke, wenn auch nur zähneknirschend, geduldet, weil man das als erhabene Musik betrachtete. Als ich mich erfrechte, irgendwann etwas Jazziges zu spielen, ging das natürlich gar nicht. Jazz war streng verboten. Daran mussten wir uns halten, wollten wir keine Schwierigkeiten bekommen. Als die drei Wochen um waren, wurden viele von uns von den Eltern abgeholt. Auch mein Vater kam angereist. Als Papa da war, haben wir ihn alle angefleht, er solle uns unbedingt etwas ganz «Fetziges» und «Swingiges» spielen, was er dann natürlich auch sehr gerne tat – und nicht nur ein Stück! Das Gesicht unserer miesepetrigen Lady, die in diesem Moment „leider“ zum Schweigen verurteilt war, werde ich wohl nie vergessen (lacht).

Joe Turner in a guesthouse in Zürich 1950
Joe Turner in a guesthouse in Zurich 1950

Xecutives.net: Er adaptierte an diesem Konzert in Schiers das Lied «Nach em Räge schiint D’Sunne» von Artur Beul, mit dem ich kurz vor seinem Tod eingehend über Musik sprechen konnte, wohl einer der grössten Musiker, welche die Schweiz hervorbrachte. Beul’s Tonträger verkauften sich über 50 Millionen Mal! Joe Turner nahm das Beul-Lied in Stride-Manier auf und legte einen witzigen Text auf Schweizerdeutsch darüber, dann war das Publikum, bestehend aus Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonal, nicht mehr zu bremsen, auch Ihr Vater nicht. Was danach kommt, ist vom Feinsten und Besten!

Rita Juon Turner: Ja, «Nach em Räge schiint D’Sunne» war in der Schweiz ein Riesenhit. Damit hat sich mein Vater definitiv in die Herzen der Zuhörenden in der Schweiz gespielt. Er hat das Lied immer wieder auf seine eigene Art und Weise gespielt. Das Lied war auch ein Hit in den USA, wie Ihnen Artur Beul sehr schön berichtet hat. Die Andrews Sisters nahmen den Song auf und nannten ihn „When A Swiss Boy Is Calling On A Swiss Girl In June“. Das Lied schaffte es in den USA in die Hitparade! Ich fand Ihr Interview mit Artur Beul übrigens sehr interessant, auch das mit Buddha Scheidegger, welches Sie sehr schön erfasst haben. Ich wusste nicht, dass Beul selber nie in den USA war.

Xecutives.net: Joe Turner war gern gesehener Gast in Basel im Atlantis. Es handelt sich um die Bar, dessen Management vor langer Zeit die Beatles abgelehnt hatte, als diese noch nicht so bekannt waren. Zu dieser Panne gibt es viele Geschichten und Anekdoten. Ihr Vater auf alle Fälle hatte einen besonderen Draht zu Basel und zu vielen Musik-Liebhabern in der Schweiz ganz allgemein, so auch zu Buddha Scheidegger, Fritz Trippel und Henri Chaix. Wie haben Sie diese Menschen, von denen leider auch schon alle gestorben sind und die mich alle musikalisch sehr geprägt haben, in Erinnerung?

Rita Juon Turner: Was Basel betrifft, kann ich nur sehr wenig erzählen. Ich war damals noch recht jung. Das Atlantis bleibt mir natürlich in bester Erinnerung wegen der Schlangen und der Krokodile, die ich dort als Kind ebenfalls bestaunen durfte. Viele an Musik und an meinem Vater interessierte Menschen sprechen vom Atlantis, das natürlich damals eine grosse Sache war.

Was Papas Schweizer Freunde angeht, muss ich noch einmal Buddha Scheidegger nennen. Ihn kannte ihn sehr gut und wir hatten später, auch nach dem Tod meines Vaters mit ihm und seiner Frau einen lockeren Kontakt. Er, der ja auch Staatsanwalt und Oberrichter war, spielte für mich und meinen verstorbenen Mann anlässlich unseres 120. Geburtstags (2 x 60), den mein Mann und ich damals mit vielen Freunden feierten. Fritz Trippel ist mir lediglich als Schüler, der uns hie und da für Klavierstunden besuchte, in Erinnerung und Henri Chaix war mir zwar als versierter Musiker und Pianist ein Begriff, ihn kannte ich aber nicht so gut. Ich war einmal an einem seiner Konzerte, wo ich ihn anschliessend begrüsste und wir auch über meinen Vater sprachen.

Xecutives.net: Sie blicken zurück auf eine vergangene Zeit, die mit viel Jazz verbunden ist und auf Aufenthalte in Brasilien und Thailand, wo Sie lange Zeit gewohnt haben. Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Jazz heute leider nur mehr wenigen ein Begriff ist? Was verbindet Jazz mit unserem Leben und wie hat der Jazz Ihr eigenes Leben beeinflusst?

Rita Juon-Turner in an interview with Xecutives.net, Christian Dueblin
Rita Juon-Turner

Rita Juon Turner: Es ist Musik, die den Menschen etwas abverlangt, was andere Musik nicht immer tut und deshalb einfacher zu konsumieren ist. Vieles im Jazz besteht aus Improvisation, vieles ist nicht vorhersehbar. Das kann Menschen verwirren und überfordern. Alle Musikerinnen und Musiker, über die wir gesprochen haben, waren Spezialisten in Sachen Improvisation.

Es ist tatsächlich schade, dass Jazz heute nicht mehr so populär ist wie damals, allerdings habe ich den Eindruck, dass immer mehr Menschen wieder auf den Geschmack kommen und sich von Qualität angezogen fühlen, auch von musikalischer Qualität. Man findet sie in der Klassik, aber auch bspw. im Jazz. Für mich war und ist Jazz etwas, das zu meinem Leben gehört und ohne den mein Leben bestimmt ziemlich trist wäre. Ich denke, der Jazz musste – hoffentlich nur vorübergehend – etwas zurückstehen, weil die Elektronik plötzlich da war und einem wesentlich weniger Können abverlangte als richtige Instrumente. Elektronik ist nicht mein Fall, obwohl man damit zweifellos manchmal auch Interessantes kreieren kann. Nur bleibt das Herz dabei oft auf der Strecke.

Ich betrachte mich als privilegiert, dass ich in einer Musiker-Familie aufwachsen durfte, was zwar nicht immer einfach war, mir aber geholfen hat, ein fröhlicher und positiver Mensch zu bleiben. Ein Geschenk, wofür ich enorm dankbar bin!

Xecutives.net: Liebe Frau Juon Turner, ich bedanke mich herzlich für die vielen guten Gespräche und ich wünsche Ihnen, ganz dem Motto Ihres Vaters entsprechend, ein herzliches «Keep swinging!».

© 2021 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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