Peter Gysling (c) SRF
Peter Gysling (c) SRF

Peter Gysling, Schweizer Radio- und Fernsehjournalist, gilt als profunder Kenner der Vorkommnisse in Russland, von dessen Hauptstadt aus er bereits von 1990 bis 1994 und von 2008 bis 2015 berichtet hat. Peter Gysling war Interviewpartner zum Thema Russland und zur Wiederwahl von Präsident Vladimir Putin im Jahr 2012. In diesem zweiten Interview mit Xecutives.net spricht Peter Gysling über die jüngsten Vorkommnisse rund um den Krieg in der Ukraine und über die Absichten Putins. Peter Gysling geht u.a. auf die Frage ein, warum ein Grossteil der russischen Bevölkerung das Vorgehen Putins akzeptiert oder zumindest toleriert. Er zeigt auf, was auf Russland in naher Zukunft wirtschaftlich und politisch zukommen könnte.

Xecutives.net: Herr Gysling, Sie sind ein bekannter Radio- und Fernsehjournalist und kennen Russland, wo Sie lange gelebt und von wo Sie auch berichtet haben, sehr gut. Sie sind selber mit einer Russin verheiratet und damit noch etwas näher an der russischen Volksseele dran als andere Menschen. Wir haben schon 2012 miteinander gesprochen (Interview von 2012), damals ging es um die Wiederwahl von Putin. Kurze Zeit später hat Putin die Krim annektiert. Prof. Dr. Luzius Wildhaber hat die Vorgänge und die zahlreichen damit verbundenen Völkerrechtsverletzungen in seinem Beitrag (Prof. Dr. Luzius Wildhaber† 2014 über die Krim, die Ostukraine und das Völkerrecht) akribisch beschrieben. Liest man seinen Beitrag, ist man über die jetzigen Vorkommnisse in der Ukraine nicht sehr überrascht. War der Krieg für Sie und Ihr Umfeld absehbar?

Peter Gysling: Wir haben uns wider besseres Wissen tatsächlich überraschen lassen. Wohl deshalb, weil wir das in unseren Augen «schier Unmögliche» nicht für möglich gehalten hatten. Ein Psychologe würde wohl sagen: weil wir das «schier Unmögliche» nicht für möglich halten WOLLTEN.
Wenn man aber die jüngere Politik Putins, seine imperialistischen (und persönlichen) Machtansprüche aufmerksam zur Kenntnis genommen hat, konnte Putins militärischer Einmarsch in die Ukraine letztlich weniger überraschen. Trotzdem: noch während des gewaltigen russischen Truppenaufmarsches zum Jahresende 2021 haben sich viele von Putin blenden lassen; sie waren davon ausgegangen, Putin habe sich lediglich zu einer pompösen Drohgebärde hinreissen lassen und haben Putins Beteuerungen geglaubt, wonach ein militärischer Angriff auf die Ukraine überhaupt nicht zur Debatte stehe.
Dabei hätten man eigentlich wissen müssen, dass man Putins Beteuerungen niemals voll trauen sollte. Auch anlässlich der Krimannexion hatte sich Putin zuerst mal ahnungslos gegeben und dann später bei seinem militärischen Eingreifen in die Ostukraine stets zu betonen versucht, mit diesen Operationen überhaupt nichts zu tun zu haben.
Auch jetzt, während der russische Angriffskrieg in der Ukraine tobt, gibt es wohl viele Beobachter, die wahrscheinlich vergessen haben, welche Gesamtziele sich Putin mit dem Kriegsbeginn und seiner Kriegserklärung gesetzt hat – Ziele, die sich nicht bloss auf das politische und geografische Territorium der Ukraine eingrenzen lassen!

Xecutives.net: Die Ereignisse um die Ukraine überstürzen sich seit Wochen und es ist schwierig zu sagen, was noch kommt. Die Weltgemeinschaft, einmal von wenigen Ausnahmen abgesehen, verurteilt den Krieg und die Sanktionen könnten Russland in eine schwerwiegende Krise führen, was wohl alles nur noch schlimmer macht. Die Tatsache aber, dass offenbar die grosse Mehrheit der Russinnen und Russen das Vorgehen von Putin unterstützt oder zumindest toleriert, stimmt nicht zuversichtlich. Wir wissen, dass es mit der Meinungsfreiheit, und auch mit anderen Freiheiten, in Russland nicht gut steht. Das gilt aber auch für viele andere Länder. Wie erklären Sie sich selber, warum ein ganzes Volk einem solchen Krieg nicht skeptischer und ablehnender gegenübersteht? Hat das wirklich nur mit den manipulierten Medien zu tun, von denen immer wieder berichtet wird?

Peter Gysling: Die Politpropaganda in den russischen Staatsmedien ist hier gewiss sehr effektiv. Viele in Russland glauben deshalb auch, die USA – nach wie vor der Hauptfeind in den Augen der russischen Führung – seien eben dabei gewesen, Russland über das Territorium der Ukraine zu schwächen und anzugreifen. Mit dem Invasionskrieg Russlands (der «militärischen Spezialoperation im Osten der Ukraine») versuche Russland, einem noch sehr viel grösseren Krieg zuvor zu kommen. Von den Kriegsverbrechen erfahren sie über das Staatsfernsehen nichts (oder nur mit der Schuldzuweisung an die Adresse der angegriffenen Ukrainer).
Die meisten Russinnen und Russen hätten indes die Möglichkeit, sich auch über andere als die staatlichen Kanäle, über «YouTube», «tiktok», «telegram», «signal» etc. objektiver zu informieren. Der Druck über die meist staatlichen Arbeitgeber und auch die gegenseitige gesellschaftliche Kontrolle sind aber so stark, dass sich viele Russinnen und Russen nicht getrauen, aus dem monotonen Chor auszubrechen und sich in Offenheit eine eigenständige Meinung zu bilden. Die russische Gesellschaft hat sich auch daran gewöhnt, sich ihrem Schicksal, dem sie sich unterworfen fühlt, widerspruchslos zu ergeben. Mit der steigenden Zahl der im Ukrainekrieg zu Tode gekommener und verletzter russischer Soldaten dürfte sich in etwas breiteren Gesellschaftskreisen allerdings bald mal auch «stille Wut» einstellen!

Xecutives.net: Die Schweiz ist von diesem Krieg ebenfalls tangiert. Gerade die Neutralität in der Schweiz gibt zu reden. Wie stehen Sie selber zu dieser Frage der Neutralität, die vielleicht von vielen Menschen auch missverstanden wird. Einerseits hat es die Schweiz immer wieder geschafft, sich geschickt neutral zu verhalten, andererseits steht sie nun vor Ereignissen, die diese Neutralität in Frage stellen. Neutral sein, heisst ja nicht, dass man keine Meinung haben soll. Wie soll die Schweiz Ihres Erachtens reagieren? Wie soll die Wirtschaft in der Schweiz reagieren?

Peter Gysling: Oft werden im Zusammenhang mit der Neutralität die «guten Dienste» gelobt, welche die Schweiz Konfliktparteien auf sehr konstruktive Weise zur Verfügung stellen kann. Diese Dienste wird die Schweiz auch in Zukunft anbieten können. Neutralität aber bedeutet in meinen Augen nicht, dass die Schweiz keine klare Haltung einnimmt, wenn es um elementare Fragen unseres Politik- und Staatsverständnisses (Völkerrecht, Menschenrechte, Genfer Konventionen etc.) geht. Wir dürfen uns nicht verleugnen! Das Gebot der Neutralität wird in meinen Augen aber oft auch als Vorwand ins Spiel gebracht, wenn es um wirtschaftliche Sonderinteressen geht.

Xecutives.net: Da sich sämtliche grossen Nationen irgendwo auch unredlich verhalten, muss auch das Verhalten von Russland richtig eingeordnet werden. Die USA haben bis noch vor einigen Jahrzehnten nichts ausgelassen, um sich in die politischen Auseinandersetzungen bspw. in Südamerika einzumischen, man denke etwa auch an Kuba, mit sehr ernüchternden Resultaten.

Peter Gysling: Unredliches Verhalten ALLER Länder sollte stets richtig eingeordnet und zurückgewiesen werden! Der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine lässt sich aber mit Verweis auf unrechtmässiges Vorgehen anderer Staaten in früheren Jahrzehnten niemals rechtfertigen.

Xecutives.net: Hat sich Putin nun verrechnet, wenn man bedenkt, dass ziemlich harte Sanktionen weltweit gutgeheissen werden und seine Strategie nun dazu führt, dass schnelle politische Entscheide getroffen werden, bspw. auch in Bezug auf den sich nun abzeichnenden mittelfristigen Importstopp von Gas und Öl und den Ausbau von Energiealternativen, die nun wohl schneller als gedacht umgesetzt werden könnten?

Peter Gysling: Der Westen hatte sich von der Krim-Annexion im Jahr 2014 völlig überraschen lassen. Die Sanktionen haben in meinen Augen erst nach dem Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17, bei dem im Juli 2014 298 Menschen den Tod gefunden hatten, stärker gegriffen. Vielleicht ging Putin jetzt tatsächlich davon aus, dass er die ukrainische Regierung quasi über Nacht absetzen, durch ein von Russland gesteuertes Marionettenregime ersetzen und das ukrainische Territorium mehr oder weniger widerstandslos besetzen könne. Mittlerweile müsste er allerdings zu Kenntnis genommen haben, dass der Krieg nicht so verläuft, wie er sich das in seinen Fantasien vielleicht vorgestellt hatte. Bezüglich der Sanktionen denke ich, dass es Putin ziemlich egal ist, wenn die Bevölkerung unter wirtschaftlichen Entbehrungen leidet. Für Putin stehen sein imperialer Anspruch, sein Sieg im Vordergrund – koste es, was es wolle!

Xecutives.net: Russland schreckt offenbar auch nicht zurück, wenn es darum geht, aufmüpfige oder nicht mit dem Staat kollaborierende Menschen aus dem Weg zu schaffen. Diese Menschen werden auf offener Strasse vergiftet. Das sind sehr rabiate Methoden, auch die Schweiz ist betroffen, bspw. wenn es um den Schutz des Labors in Spiez geht, das offenbar auch schon im Visier der Russen war. Das ist aber alles nichts Neues und ist schon vor den kriegerischen Auseinandersetzungen passiert, auch in anderen Ländern. Wie kann sich die Weltgemeinschaft gegen solche Machenschaften wehren? Offenbar ist eben auch Dick Marty ins Visier serbischer oder/und kroatischer Machenschaften geraten.

Peter Gysling: Wir müssen wohl alle umlernen und erkennen, dass wir nicht mehr in der angeblich so entspannten Welt leben, wie wir sie (auch ich selbst) Ende der 80er und anfangs der 90er Jahre erlebt haben.

Xecutives.net: Herr Gysling, was wünschen Sie sich für die Zukunft Russlands? Was müsste passieren, damit dort ein tiefgreifendes Umdenken, ein Wandel herbeigeführt werden kann?

Peter Gysling: Ich mag die russische Kultur. Aufgrund der erlebnisreichen Jahre, die ich in Russland und in den anderen Republiken der einstigen UdSSR verbringen durfte, bin ich dieser Weltregion sehr verbunden. Aber ich halte es wie der russische Schriftsteller Mikhail Schischkin, der in einem seiner jüngsten Artikel eine «Entstalinierung» (und «Entputinisierung») Russlands fordert. Deutschland zum Beispiel hat seine dunkle Vergangenheit aufgearbeitet, in Russland hingegen wird die eigene dunkle Vergangenheit (die Terrorjahre unter Stalin) seit einigen Jahren wieder mit staatlichem Segen heroisiert.
Vielleicht allerdings, so meine stille Hoffnung, werden wir irgendeinmal von einer unerwarteten und erfreulichen Entwicklung überrascht werden. Vielleicht – in ein paar Jahrzehnten. Fürs Nächste aber hat Russland mit diesem Krieg unermesslich viel zerstört, Tausende Menschenleben, ganze Städte, Dörfer und Landschaften – und wenn es um die weitere Beziehung und Zusammenarbeit mit Moskau geht, das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft auf den Verlass aufs Völkerrecht, auf völkerrechtliche Vereinbarungen und auf die Respektierung der Menschenrechte.

Xecutives.net: Sehr geehrter Herr Gysling, herzlichen Dank für Ihre Einschätzungen und dieses Interview.


Weitere Interviews, die Sie interessieren könnten:

Interessante Interviews zum Thema China:


© 2022 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.