(Dieses Interview von Christian Dueblin erschien im Praxishandbuch Legal Operations Management, Springer Verlag 2017, S. 53 ff.)
Prof. Dr. iur. et lic. oec. HSG Heinrich Koller, Fürsprech und Notar, war von 1979 bis 1988 Rechtskonsulent der Ciba-Geigy AG in Basel (zuletzt als Direktionsmitglied) und nebenamtlicher Richter am Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt. 1988 wurde er zum Direktor des Bundesamtes für Justiz berufen, dem er bis 2006 vorstand. Nebst seiner beruflichen Tätigkeit als Justizdirektor war Heinrich Koller Professor für öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Basel. Heinrich Koller arbeitet heute wieder als Anwalt in einer renommierten Basler Anwaltskanzlei.
Im Interview zeigt er auf, was die berufliche Tätigkeit eines Juristen in der Verwaltung, in der Privatwirtschaft und in der Advokatur grundsätzlich unterscheidet. Er streicht Fähigkeiten heraus, die für eine Karriere als Verwaltungsjurist, als Wirtschaftsjurist oder Anwalt vorteilhaft sein können. Heinrich Koller beschreibt den Einfluss der Politik auf die Arbeit von juristischen Fachexperten, die für die Verwaltung arbeiten, und zeigt Unterschiede zu den anderen Berufsgattungen auf. Anhand von Beispielen beschreibt er die Besonderheit des Rollenverständnisses und beleuchtet Konfliktpotenziale, die insbesondere bei der Arbeit in der Verwaltung lauern.
Christian Dueblin: Sehr geehrter Herr Professor Koller, Sie waren von 1988 bis 2006 Justizdirektor des Bundes, zuvor waren Sie in leitender Stellung in der Privatindustrie als Rechtskonsulent tätig. Was fiel Ihnen damals beim Wechsel in eine verantwortungsvolle Position in der Verwaltung auf, nachdem Sie jahrelang für die Privatindustrie juristisch tätigt waren?
Prof. Dr. Heinrich Koller: Zu erwähnen sind wohl vorerst die Größenverhältnisse. In der Ciba-Geigy Rechtsabteilung war ich in der Gruppe „Gesellschafts-, Konzern- und Steuerrecht“ mit rund einem Dutzend Mitarbeitenden tätig und vor allem mit Akquisitionen in jeweils wechselnden Projektgruppen beschäftigt. In der Bundesverwaltung stand ich von Anfang an einem großen Apparat vor, mit rund 300 Mitarbeitenden, wovon mehr als 200 Juristinnen und Juristen. Das Bundesamt für Justiz verfasst in allen Bereichen des Rechts Stellungnahmen, ist gleichzeitig in mehreren Dutzend Gesetzesvorhaben engagiert, vertritt die Schweiz in internationalen Organisationen und berät Bundesrat und Parlament in Rechtsfragen. Ohne eine klare Abgrenzung der Fach- und Verantwortungsbereiche, den verwaltungstypischen hierarchischen Aufbau des Amtes und unentbehrlichen Stabsdiensten ist ein solches Gebilde nicht zu führen. Die Erfahrungen, die ich als Kommandant und Generalstabsoffizier im Militär gemacht hatte, kamen mir dabei sehr zu Hilfe.
Der breite Aufgabenbereich des Amtes (das früher den Namen „Dienst für Gesetzgebung und Rechtspflege“ trug) und die starke Einbindung in den politischen Entscheidungsprozess waren die augenfälligsten Merkmale des Berufswechsels. Anders als bei der Tätigkeit als Rechtskonsulent standen jetzt Führungsaufgaben im Vordergrund. Dabei sind zwei Besonderheiten der Entscheidfindung in der Bundesverwaltung hervorzuheben. Zum einen sind die weitgehend formalisierten Entscheidungsabläufe in der Bundesverwaltung zu erwähnen: regelmäßige Briefings mit Vorgesetzten und Untergebenen, der Einbezug der involvierten Bundesämter im Ämterkonsultationsverfahren, das Mitberichtsverfahren im Vorfeld der wöchentlichen Bundesratssitzungen, die Vernehmlassungsverfahren bei wichtigen Gesetzesvorlagen, die zwingende Teilnahme an Sitzungen der parlamentarischen Kommissionen, Pressekonferenzen und Vortragstätigkeit. Hinzuweisen ist zum anderen auf die im Vergleich zur Privatwirtschaft längeren Entscheidungswege. Das Ringen um Lösungen setzt sich über viele Stufen hinweg fort, von der verwaltungsinternen Meinungsbildung über den Entscheidungsfindungsprozess in der Regierung bis hin zur politischen Auseinandersetzung in Parlament und Öffentlichkeit.
Der Amtsvorsteher muss dabei im Wesentlichen auf Entscheidungsgrundlagen aufbauen, die ihm die Mitarbeitenden liefern. Seine Aufgabe besteht deshalb weniger in der eigenen Erarbeitung, als vielmehr in der sachkundigen und überzeugenden Vertretung der verwaltungsintern erarbeiteten Lösungen nach außen. Bemerkenswert ist, mit welch hoher Loyalität und beeindruckendem Fachwissen die Mitarbeitenden ihre Arbeit verrichten. Sämtliche Aufträge sind terminiert; und dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) war es schon Ende der achtziger Jahre möglich, dass mehr als die Hälfte der Angestellten in Teilzeit arbeitete und der Frauenanteil auf allen Stufen sehr hoch war.
Nun aber noch zum Atmosphärischen: Der Einstieg in das neue Amt wurde mir durch ein vorbestehendes loyales Team von Kadermitarbeitenden enorm erleichtert. Aber auch später hatte ich in den fast zwanzig Jahren Bundesbern kaum je ernsthafte interne Führungsprobleme. Die hohe Sach- und Führungskompetenz der Kader und die Fokussierung auf die Projekte waren ausgeprägt. Anders verhielt es sich im politischen Umfeld. Ich war kaum vier Monate im Amt, als die Auseinandersetzungen um den erzwungenen Rücktritt von Frau Bundesrätin Kopp und später um die „Fichen“-Affäre begannen. Als Direktunterstellter ist man von solchen Ereignissen unmittelbar betroffen. Man gerät als Chefbeamter dann unweigerlich in den Sog von Gruppierungen, die einen vereinnahmen wollen. Gleiches habe ich Jahre später dann wieder erlebt bei der Abwahl von Frau Bundesrätin Metzler und beim Amtsantritt von Herrn Bundesrat Blocher. Das sind schwierige Momente, die man nur überwinden kann, wenn man sich der Loyalität der Mitarbeitenden sicher ist und vor Augen hält, dass man im Staatsdienst vorab einer Sache dient und nicht einer Person.
Christian Dueblin: Welche juristischen aber auch persönlichen Fähigkeiten sind für die Arbeit im Rechtsdienst einer Verwaltung für die berufliche Entwicklung und Karriere von besonderem Vorteil?
Prof. Dr. Heinrich Koller: Im persönlichen Bereich sind es: Integrität, Besonnenheit, gutes Allgemeinwissen, Gemeinsinn, politisches Sensorium und Gestaltungswille. Im fachlichen Bereich: überdurchschnittliche Fachkompetenz, Freude an wissenschaftlicher Arbeit, Beweglichkeit, Sorgfalt (eher als Schnelligkeit), absolute Verlässlichkeit. Im persönlichen Arbeitsstil: Schreibfähigkeit (eher als Wortgewandtheit), Eigenständigkeit, Dialogfähigkeit. Für Kadermitarbeitende gilt zusätzlich: sicheres und fachlich überzeugendes Auftreten, Sprachkenntnisse, Verhandlungsfähigkeit, Führungserfahrung und Durchsetzungsvermögen.
Christian Dueblin: Wie Professor Rolf Dubs, von der Universität St.Gallen, in seinem Beitrag (Praxishandbuch Legal Operations Management, Springer Verlag, 2017; Kap. 4) feststellt, haben sich Juristen in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu Fachexperten weiterentwickelt. Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass es Juristen in der Privatindustrie nur noch selten in operative Positionen schaffen, dort weitgehend von Ökonomen und Technikern abgelöst worden sind, einmal abgesehen von stark regulierten Bereichen der Wirtschaft, wie dem Bankenwesen oder der Pharmaindustrie. Erkennen Sie solche und ähnliche Tendenzen auch in der Verwaltung?
Prof. Dr. Heinrich Koller: Das stimmt meines Erachtens nur teilweise. Richtig ist, dass heute als Jurist nur noch bestehen kann, wer sich spezialisiert und sich wenigstens in einem Bereich durch besonderes Expertenwissen auszeichnet. Der Allrounder hat meines Erachtens ausgedient. Unabdingbar sind jedoch „Methodensicherheit“ und die Fähigkeit, sich rasch in neue Gebiete einzuarbeiten. Hingegen teile ich die Auffassung nicht, dass es die Juristen heute weniger schaffen, sich in verantwortungsvolle operative und strategische Positionen hinaufzuarbeiten. Die Frage nach einem Berufswechsel stellt sich fast jedem engagierten Wirtschaftsjuristen nach spätestens zehn bis fünfzehn Jahren. In der Verwaltung ist spezifisches Fachwissen erst recht gefragt: Man denke an die Erarbeitung eines Gesetzes im Bereich des Erwachsenenschutzes, der Gentechnologie, des Steuerrechts oder des Ausländerrechts. Wer aber dabei stehen bleibt und nicht in der Lage ist, sich auch auf anderen Gebieten Gehör zu verschaffen, sich durchzusetzen sowie seine Meinung schriftlich und mündlich überzeugend darzulegen, der wird es kaum „in die Ränge“ schaffen.
Christian Dueblin: In der Verwaltung spielen Gesellschaft und Politik eine viel größere Rolle als in der Privatindustrie, wir sprechen auch vom Service Public. Welchen Einfluss hat dieser Service-Public-Aspekt Ihres Erachtens auf die Arbeit und das Funktionieren einer Rechtsabteilung in der Verwaltung?
Prof. Dr. Heinrich Koller: Der Staatsdiener muss überzeugt sein vom Wert seiner Aufgabe und vom Nutzen seiner Tätigkeit für die Herstellung einer gerecht(er) en Gesellschaft. Er holt seine Motivation einerseits aus dieser Einsicht und andererseits aus der Freude an seinem Arbeitsgebiet. Es braucht Gemeinsinn, soziales Engagement, politischer Gestaltungswille und Verantwortungsbewusstsein. Wer nur des Einkommens oder der Karriere willen eine Staatsstelle anstrebt, wird dort nicht glücklich werden. Insofern gehören der Dienst an der Gemeinschaft und die Freude an der politischen Gestaltung zu den grundsätzlichen Voraussetzungen einer erfüllten „Beamtenlaufbahn“. Ich erwarte solches freilich auch von den Richtern und Professoren, was nicht im Widerspruch stehen darf zu einer freiheitlichen und wirtschaftsfreundlichen Gesinnung.
Christian Dueblin: Angesichts einer immer größer werdenden Komplexität im Gesetzgebungsverfahren nimmt die Verwaltung auch eine Schlüsselrolle im politischen Prozess ein. Auf Bundesebene muss sie beispielsweise im Auftrag des Bundesrates Vorlagen und Gesetze erarbeiten und kann aufgrund ihres hohen Sachverstandes entsprechend viel mitgestalten. Viele Fachpersonen, so auch Juristen, befinden sich plötzlich in einer Machtsituation, in der sie auch ihre persönlichen Ansichten einbringen können. Was für Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht?
Prof. Dr. Heinrich Koller: Es ist sicher richtig, dass die Erarbeitung von Erlassen mit viel Gestaltungsspielraum verbunden ist und deshalb verantwortungsbewusst wahrgenommen werden muss. Dennoch darf der persönliche Einfluss nicht überschätzt werden. Die wichtigen Gesetze werden in der Regel von Expertenkommissionen erarbeitet, die breit zusammengesetzt sind (fachlich, politisch,
regional). Das führt zum Ausgleich und zum Ausschluss extremer Lösungen. Auch verwaltungsintern funktioniert diese „Innerorgankontrolle“, weil die Projektleiter gegenüber dem Amtsdirektor und dem Departementsvorsteher regelmäßig informations- und rechenschaftspflichtig sind. Departementsvorsteher und Amtsdirektor können gezielt Einfluss nehmen; das Bundesratsmitglied vor allem politisch, der Amtsdirektor eher sprachlich, strukturell, korrigierend, ergänzend. Erheblich ist der Einfluss, wenn der Direktor zugleich Projektleiter ist, wie das bei mir etwa bei der Totalrevision der Bundesverfassung, der Justizreform und gesellschaftsrechtlichen Projekten der Fall war. Man erinnert sich dann gerne an Paragrafen, Absätze und Sätze aus der eigenen Feder – und den politischen Kampf um solche Passagen. Ebenso groß schätze ich jedoch die Machtbefugnisse ein, die mit dem kritischen Hinterfragen von Vorschlägen, dem Ausloten von Varianten, der Korrektur von einseitigen Lösungen und insbesondere mit der Beratungstätigkeit verbunden sind. Die Mitwirkung bei der politischen Meinungsbildung in der Verwaltung und in den parlamentarischen Kommissionen gehört zu den anspruchsvollsten und bedeutsamsten Aufgaben eines Chefbeamten im Bereich der Gesetzgebung und Rechtspflege.
Christian Dueblin: Der Unternehmensjurist in der Privatindustrie stellt
einen Teil des Risk Managements eines Unternehmens dar. Er soll in erster Linie geschäftliche Abläufe auf juristische Risiken hin untersuchen, Risiken minimieren und im Falle von Streitigkeiten im Sinne des Unternehmens tätig werden. Was ist dieses Pendant zum Risk Management in der Verwaltung?
Prof. Dr. Heinrich Koller: Die Wahrung der Rechtmäßigkeit und die Vermeidung von rechtlichen Konflikten gehören auch in der Verwaltung zu den primären Aufgaben des Chefjuristen. Dabei stehen jedoch weniger die finanziellen Risiken oder die Angst vor gerichtliche Auseinandersetzungen im Vordergrund als die Vermeidung von Fehlentscheiden, Widersprüchen und Ungleichheiten, die das Vertrauen in den Rechtsstaat gefährden können. Ein Verwaltungsjurist, der seinen Chef solche Minenfelder betreten lässt, wird seinen Job mit Sicherheit über kurz oder lang loswerden.
Christian Dueblin: Mehr als bei anderen Berufen stellt sich beim Legal Counsel die Frage des Vertrauens. Aufgrund seiner Aufgaben weiß er in der Regel mehr über Interna als andere Arbeitnehmende. Gibt es in Bezug auf die Anforderungen an Integrität, Loyalität und Vertraulichkeit zusätzliche Aspekte, welche verglichen mit der Privatindustrie, eine besondere Rolle spielen?
Prof. Dr. Heinrich Koller: An sich nicht, doch spielen in der Politik die
Medien eine viel bedeutsamere Rolle. Diese sind beständig auf der Suche nach irgendwelchen „Primeurs“ und Informationslecks. Deshalb gehören Vertrauenswürdigkeit und absolute Verschwiegenheit zu den unabdingbaren Wesensmerkmalen eines Chefbeamten. Er erlebt die Magistratspersonen von ganz nahe,
als Menschen mit Stärken und Schwächen, in guten und schlechten Zeiten. Darüber zu reden, sei es während oder nach der Amtszeit, verbietet der Anstand, auch wenn ein Interesse der Medienöffentlichkeit daran bestehen sollte. Wesentlich schwieriger ist es jedoch, bei sich und seinen Untergebenen Zurückhaltung gegenüber den Medien in politischen Belangen zu fordern und durchzusetzen. Während in der Privatwirtschaft eine unbedachte Äußerung zu großen Schäden und zum Verlust des Arbeitsplatzes führen kann, gibt es in der Verwaltung und in der Politik immer wieder Personen, die zwecks Beeinflussung des Entscheidungsprozesses vertrauliche Informationen vorzeitig preisgeben. Diese Leute ausfindig zu machen, ist angesichts der vielen involvierten Personen häufig schwierig. Zudem meinen alle, dafür ein Interesse der Öffentlichkeit geltend machen zu können.
Christian Dueblin: Ein Legal Counsel in der Privatindustrie ist nur in seltenen Fällen im Fokus der Öffentlichkeit. Ein Verwaltungsjurist hingegen muss sich mit der Öffentlichkeit auseinandersetzen, beispielsweise auch aufgrund des herrschenden Öffentlichkeitsprinzips in der Verwaltung. Was stellt das für besondere Anforderungen an den juristischen Fachexperten der Verwaltung?
Prof. Dr. Heinrich Koller: Der juristische Fachexperte muss zwischen zulässigen Fachauskünften und unangebrachten, beziehungsweise unbotmäßigen politischen Meinungsäußerungen unterscheiden können. Von der politischen Behörde einmal getroffene Entscheide muss er jedoch gekonnt und mit Überzeugung vor der Öffentlichkeit vertreten können. Einiges kann man den Medienverantwortlichen überlassen; für wichtige Projekte, bedeutsame politische Entscheide und Krisenfälle jedoch hat der Chef hinzustehen. Wer dazu nicht in der Lage ist, kann seinen politischen Vorgesetzten nicht ausreichend entlasten. Abgesehen davon, dass Öffentlichkeitsarbeit, Vorträge, politische Debatten, Medienkonferenzen etc. zum Pflichtheft jedes Chefbeamten gehören.
Christian Dueblin: Konflikte haben ihren Ursprung in Erwartungshaltungen, wie das Markus Fischer in seinem Beitrag über Konfliktkompetenz schön aufzeigt (Praxishandbuch Legal Operations Management, Springer Verlag, 2017; Kap. 20). Ein gegenseitiges Rollenverständnis kann dazu führen, dass Konflikte nicht entstehen oder eher gelöst werden können. Erkennen Sie Unterschiede in der Wahrnehmung des Rollenverhältnisses zwischen Juristen, die für die Verwaltung arbeiten und solchen, die in privaten Unternehmungen tätig sind?
Prof. Dr. Heinrich Koller: Ja, solche Unterschiede sind klar auszumachen: Der Verwaltungsjurist ist in einem stark hierarchisierten Arbeitsumfeld tätig. Er muss ertragen können, dass seine Vorgesetzten aus politischen und/oder persönlichen Gründen andere Lösungen bevorzugen. Dafür verfügt er in fachlicher Hinsicht über etwas mehr Freiraum und über größere Selbstständigkeit. Der wesentliche Unterschied aber dürfte in den Beweggründen liegen, die einen Menschen veranlassen, eine Staatsstelle anzutreten. Der Dienst an der Gesellschaft ist erfüllend, die intrinsische Motivation demnach ausgeprägter als in wettbewerbsorientierten Arbeitsverhältnissen.
Christian Dueblin: Wo können juristische Fachexperten in der Verwaltung und in der Privatindustrie voneinander lernen?
Prof. Dr. Heinrich Koller: Die verschiedenen juristischen Berufsgattungen (Anwälte, Richter, Professoren, Wirtschafts- und Verwaltungsjuristen) kennen alle ihre typischen, mit der Berufsausübung verbundenen Prägungen. Die Anwärter auf diese Berufe werden im Laufe ihrer Ausbildung bald merken, dass dafür unterschiedliche Eigenschaften und Anforderungen erforderlich sind. Wer als Anwalt nicht über eine rasche Auffassungsgabe und eine zupackende Art, Mut zur Lücke und Sinn für Rede oder Gegenrede verfügt, wird in diesem Beruf wohl kaum erfolgreich sein. Wem es an sozialer Kompetenz, Einfühlungsvermögen, Ausgewogenheit und Sorgfalt fehlt, wird als Richter am falschen Platz sein. Hohe Fachkompetenz, Interesse am Durchdringen einer Materie, Fähigkeit zum Erklären und Freude am Schreiben sind wiederum unabdingbare Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Tätigkeit. Beim Wirtschaftsjuristen stehen das Verständnis für die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die internationalen Bezüge, Kommunikationsfähigkeit und Fremdsprachenkenntnisse, Vielseitigkeit und Gestaltungsfreude im Vordergrund.
Nicht ganz so leicht fällt es, die kennzeichnenden Merkmale der Verwaltungstätigkeit zu umschreiben. Wer im Bewilligungs- oder Beschwerdewesen arbeitet, der übt eine richterähnliche Funktion aus. Wer hingegen in der Gesetzgebung oder als Fachexperte tätig ist, der verrichtet eine Arbeit, die in Vielem der wissenschaftlichen Tätigkeit ähnelt. Lernen können die Verwaltungsjuristen von den übrigen Berufsgattungen allemal: Zeit- und Kostenbewusstsein vom Anwalt, Beschränkung auf das Wesentliche und Ausgewogenheit vom Richter, ökonomisches Verständnis und Kundenorientierung vom Wirtschaftsjuristen. Umgekehrt würden das spezialisierte Fachwissen, die Tiefe und Sorgfalt der Bearbeitung sowie der selbstlose Dienst an der Sache manchen Juristinnen und Juristen der anderen Berufszweige gut anstehen. Am schönsten ist es natürlich, wenn man in seinem Berufsleben mehrere dieser Tätigkeiten miteinander verbinden und in einem erfüllenden Arbeitsumfeld wirken darf. Wem der Beruf zur Berufung wird, der verlange nicht nach mehr!
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