Dr. Jens Steger Xecutives.net-Interview
Dr. Jens Steger Xecutives.net-Interview

Dr. Jens Steger studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bonn. Es folgte im Jahr 2011 die Promotion zum Dr. iur. mit einer Dissertation im Bereich der Fusionskontrolle. Kurze Zeit später erwarb er einen Masterabschluss am King’s College London. Seine Masterarbeit wurde hierbei von Prof. Richard Whish, einer Koryphäe auf dem Gebiet des EU Kartellrechts, betreut. Seit 2012 ist Dr. Jens Steger als Rechtsanwalt im Bereich des Kartellrechts tätig. Seit 2018 verantwortet er bei der internationalen Wirtschaftskanzlei Simmons & Simmons in Frankfurt das deutsche und europäische Kartellrecht. Bereits während seines Referendariates arbeitete Dr. Jens Steger beim Bundeskartellamt, in der Praxisgruppe für Kartell- und Wettbewerbsrecht einer anderen führenden internationalen Kanzlei in Köln und Düsseldorf sowie am 1. Kartellsenat des OLG Düsseldorf. Dr. Jens Steger ist Vorstandsmitglied im Kartellrechtsforum Frankfurt am Main e.V. Steger ist gefragter Referent auf internationalen Fachkonferenzen und veröffentlicht regelmässig Fachartikel im Bereich des deutschen und europäischen Kartellrechts. Das Top-Kanzleiranking 2019/2020 der WirtschaftsWoche führt Dr. Jens Steger als einen der renommiertesten Kartellrechtler in Deutschland.

Im Interview mit Xecutives.net beantwortet Dr. Jens Steger Fragen zum Kartell- und Wettbewerbsrecht. Er zeigt die Ursprünge der heutigen Regularien, die amerikanischen „trade restrictions“, auf und stellt fest, dass in Deutschland und vielen anderen Ländern in Europa Kartelle lange Zeit gewünscht und staatlich unterstützt wurden – ihrer Effizienzgewinne wegen. Dr. Jens Steger beantwortet Fragen zu aktuellen Wirtschaftsfällen und er geht auf die internationale Zusammenarbeit von Kartell- und Wettbewerbsrechtsbehörden sowie auf neuste Entwicklung ein. Er gibt Unternehmen konkrete Tipps und Ratschläge, welche Gedanken sie sich bei Geschäftstransaktionen machen müssen und wie sie sich in kritischen Momenten verhalten sollten. Er rät Unternehmen schliesslich, sich im Rahmen eines Compliance Management System (CMS) mit Kartellrecht eingehend auseinanderzusetzen.

Xecutives.net: Sehr geehrter Herr Steger, Sie haben sich sehr intensiv mit dem internationalen Kartellrecht und seinen Auswirkungen auf Unternehmen und unsere Gesellschaft auseinandergesetzt, Themen, die, wenn man die Medien verfolgt, eine immer grössere Bedeutung einnehmen. Gerne möchte ich zunächst aber fragen, wo der Ursprung des Kartell- und Wettbewerbsrechts überhaupt zu suchen ist? Gab es einen konkreten Anlass, der zu Aufmerksamkeit geführt und gerade in den USA zu „trade restrictions“ geführt hat?

Jens Steger: Da liegen Sie ganz richtig, der Ursprung des Kartellrechts liegt tatsächlich in den Vereinigten Staaten von Amerika. Kartelle wurden dort verstärkt ab etwa 1870 beobachtet. Hieraus resultierte die sogenannte „Antitrust-Gesetzgebung“ in den USA, die zunächst darauf abzielte, «trade restrictions» zu verhindern. Hierunter wurde gemeinhin die Einschränkung der wirtschaftlichen Betätigungsmöglichkeit verstanden. Später kam das strikte Kartellverbot hinzu, das in den USA streng durchgesetzt wird. Im Rest der Welt waren Kartelle zu dieser Zeit erlaubt, in Deutschland und Österreich wurden sie wegen der vorgeblichen Effizienzgewinne für die Beteiligten anfangs des 20. Jahrhunderts sogar noch staatlich gefördert. Erst auf intensives Bestreben der USA hat sich das Kartellverbot international durchgesetzt.

Xecutives.net Dr. Jens Steger Kartellrecht

Xecutives.net: Wie haben damals andere Länder auf Kartelle reagiert, die ja auch dort allgegenwärtig waren?

Jens Steger: Am 1.1.1958 traten zeitgleich der EWG-Vertrag und das deutsche GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) in Kraft. Ein Meilenstein in der deutschen und europäischen Kartellrechtsgeschichte. Der nächste Meilenstein in Deutschland wurde im Jahr 1973 mit der Einführung der Fusionskontrolle gelegt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt hat das Bundeskartellamt in Europa die kartellrechtliche Vorreiterrolle inne – übrigens bis heute. Mittlerweile gibt es weltweit ca. 120 Länder, die ein Kartellgesetz haben, was bei der internationalen Zusammenarbeit zwingend und vor allem ernsthaft Berücksichtigung finden muss.

Xecutives.net: Wie das bei Gesetzen und Regeln so ist, wird mit ihnen doch immer auch ein Ziel verfolgt, indem man jemanden schützen oder Unruhe vermeiden will. Was ist das generelle Ziel des Wettbewerbs- und Kartellrechts in der Gesellschaft in der wir leben?

Jens Steger: Das Kartellrecht schützt ganz allgemein betrachtet den Markt. Also den volkswirtschaftlichen Raum, in dem sich vereinfacht dargestellt Angebot und Nachfrage treffen. Das Wettbewerbsrecht hingegen schützt die Lauterkeit des Wettbewerbs gegen unlauteres Verhalten einzelner Marktteilnehmer.

Xecutives.net: Für viele Menschen, die nicht rechtskundig sind und wenig mit Wettbewerbs- und Kartellrecht zu tun haben, mögen diese Ziele sehr abstrakt klingen. Wo erkennt der Bürger ganz konkret, dass er von Wettbewerbs- und Kartellrecht betroffen ist?

Jens Steger: Dem aufmerksamen Bürger sind Kartelle durchaus bekannt, auch aus den Medien. Ich denke an das Zementkartell, das Bierkartell, das Süsswarenkartell und bspw. an das Eisenbahnschienenkartell oder aber das Mehl- und LKW-Kartell. Es ist relativ unstreitig, dass letztlich der einzelne Bürger, der die Endprodukte am Ende der Handelskette erwirbt, beim Vorliegen von Kartellen einen finanziellen Schaden erleidet. Dieser Schaden wird häufig als «Kartellrendite» der Kartellanten bezeichnet. Nach Ermittlungen der Kartellbehörde im Bierkartell zum Beispiel hatten die Brauer in den Jahren 2006 bis 2008 Aufschläge in einer Grössenordnung von fünf bis sieben Euro pro Hektoliter abgesprochen. Für Flaschenbier wurde in 2008 eine Preiserhöhung abgesprochen, die zu einer Verteuerung des 20-Flaschen-Kastens um einen Euro führen sollte. Der finanzielle Schaden war also enorm.

Xecutives.net-Interview Jens Steger competition laws

Xecutives.net: Was zeichnet diese Kartelle aus und wie bilden sich diese?

Jens Steger: Alle Kartelle zeichnen sich vereinfacht dargestellt dadurch aus, dass sie die neutrale Preisbildung durch Angebot und Nachfrage oder die freie Festlegung anderer Angebotskonditionen auf einem Markt in irgendeiner Form beeinflusst haben. Dies fängt an bei gebiets- oder produktbezogenen Marktaufteilungen (Unternehmen A bedient den Markt X und Unternehmen B bedient den Markt Y) oder aber bei konkreten Kundenaufteilungen (Unternehmen A bedient den Kunden X und Unternehmen B bedient den Kunden Y), kann aber auch bei «blossem» Informationsaustausch zwischen zwei Wettbewerbern vorliegen.

Was viele Unternehmen nicht wissen, ist die Tatsache, dass als Wettbewerber im Sinne des Kartellrechts auch sogenannte potentielle Wettbewerber bezeichnet werden, also Unternehmen, die (theoretisch) miteinander in Wettbewerb treten könnten. Beim blossen Informationsaustausch ist es darüber hinaus nach gefestigter Rechtsprechung ausreichend, wenn eine wirtschaftlich relevante Information lediglich einmalig an einen (potentiellen) Wettbewerber übermittelt wird; auch wenn der Empfänger der Information nicht einmal auf den Erhalt der Information reagiert.

Xecutives.net: Zurzeit wird über den Zusammenschluss von Bombardier und Alstom gesprochen. Nachdem das Vorhaben zwischen Siemens und Alstom vor einiger Zeit gescheitert ist, eben aus kartellrechtlichen Gründen, versucht Alstom es noch einmal mit einer Fusion. Was sind die rechtlichen Fragestellungen in einem solchen Fall? Was prüfen Behörden und was sind die Ziele der Unternehmen, die gerne fusionieren möchten?

Jens Steger: Die Kommission prüft insbesondere, ob der Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung begründen oder verstärken würde. Spielraum besteht hier, wenn trotz der aktuellen erheblichen Marktanteile das Eintreten neuer Wettbewerber wahrscheinlich erscheint, oder die Unternehmen ihre Produkte aufgrund der Bedingungen auf der Marktgegenseite auch weiter mit hinreichender Sicherheit zu fairen Konditionen vertreiben würden. Zudem könnten die Unternehmen weitere Zusagen machen. Alstom könnte etwa auch nur Teile des Bombardier-Geschäfts übernehmen oder sich von eigenen Unternehmenseinheiten trennen. Ich gehe davon aus, dass die Unternehmen bereits Vorabkonsultationen hierzu mit der Kommission geführt haben. Derartige Zusammenschlüsse dienen Unternehmen zumeist zur Verfolgung ihrer konkreten Wachstumsziele, um ihre betriebswirtschaftlichen Pläne für die Zukunft zu verwirklichen.

Xecutives.net Dr. Jens Steger Wettbewerbsrecht

Xecutives.net: Wir stehen vor grossen wirtschaftlichen Herausforderungen hier in Europa. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Heinz Riesenhuber, ehemaliger deutscher Bundesminister für Forschung und Technologie unter Helmut Kohl, hat diese Herausforderungen im Interview sehr schön und treffend beschrieben. Der Zusammenschluss von Firmen kann ja auch bedeuten, dass bspw. Deutschland und die Schweiz, gegenüber Unternehmen in anderen Regionen der Welt etwas entgegenhalten können. Es geht somit auch um Marktmacht, um das Durchsetzungsvermögen von Firmen, das oft auch mit deren Grösse zusammenhängt. Das ist amerikanischen und chinesischen Unternehmen durchaus bewusst, man denke etwa an Microsoft und ChemChina. Wie werden diese wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte, wenn es um Kartell- und Wettbewerbsrecht geht, von der Politik und von Behörden angegangen und beurteilt?

Jens Steger: Die Politik ist sich dieser Thematik sehr bewusst. Die Untersagung des Zusammenschlussvorhabens zwischen Siemens und Alstom hat diese Überlegungen zurück auf die politische Bühne geholt. Einflussreiche Player, die international wahrgenommen werden (können) sind wichtig, dass ist keine Frage. Gleichwohl sind die Behörden in Europa an das geltende Recht gebunden, das vorranging den Wettbewerb im Binnenmarkt im Blick hat, und müssen sich innerhalb dieses Rahmens bewegen. In Deutschland gibt es beispielsweise die Ministererlaubnis als Instrument, was bedeutet, dass ein Fusionsvorhaben auch dann genehmigt werden kann, wenn es wettbewerbserhebliche Zweifel der Behörden gibt. Der Wirtschaftsminister darf aus gesamtwirtschaftlichen Erwägungen heraus die Freigabe erteilen und sich so über das Votum der Wettbewerbsbehörden hinwegsetzen. Diese Möglichkeit gibt es bei der europäischen Zusammenschlusskontrolle nicht. Dort zählen ausschliesslich die wettbewerbserheblichen Argumente. Aus diesem Grund musste die Kommission das Zusammenschlussvorhaben zwischen Siemens und Alstom untersagen.

Allerdings darf man langfristige Überlegungen nicht aus dem Auge verlieren. In die Zukunft gerichtet, könnte es für Fusionen auf europäischer Ebene eine Freigabe aufgrund gesamtwirtschaftlicher Aspekte geben, für die aus kartellrechtlicher Sicht klar eine Untersagung droht. Hierfür gibt es beispielsweise folgende denkbare Wege: Erstens könnte die Zusagenpraxis der Kommission weiter gefasst werden, indem man die internen Leitfäden der Kommission um abstraktere Sachverhalte wie gesamtwirtschaftliche Aspekte erweitert. Dies wäre aber ein starker Eingriff in die europäische Fusionskontrolle; und zwar sowohl systematisch als auch dogmatisch.

Es liesse sich aber auch – zweitens – ein Gremium schaffen, in dem Repräsentanten der einzelnen Mitgliedsstaaten vertreten sein könnten. Diese Gruppe sollte komplett getrennt werden vom Fusionskontrollverfahren, so wie in Deutschland die Ministererlaubnis eigenständig positioniert wurde. Die Repräsentanten der Mitgliedsstaaten würden dann über Freigaben von eigentlich untersagten Zusammenschlussvorhaben entscheiden.

Xecutives.net Dr. Jens Steger Wettbewerbs- und Kartellrecht

Xecutives.net: Die Regelungsdichte, die heute in der Wirtschaft herrscht, ist für viele Unternehmen erdrückend. Gerade das Thema Compliance hat in den letzten Jahren zu viel Aufwand in Unternehmen geführt. Ob das alles sinnvoll ist, soll mal dahingestellt sein, aber das Pendel scheint weit in die andere Richtung auszuschlagen, wovon viele Firmen und Berater profitieren. Gerade in Bezug auf Wettbewerbs- und Kartellrecht gibt es aber durchaus Punkte, die dem Management bewusst sein müssen. Was sind die wichtigsten Themen in diesem Gebiet, mit denen sich auch ein KMU auseinandersetzen muss?

Jens Steger: Da sprechen Sie einen sehr wichtigen Punkt an. Ich erlebe es im Tagesgeschäft tatsächlich sehr häufig, dass Unternehmen sich schlicht nicht oder aber nicht ernsthaft mit dem Thema Kartellrecht auseinandersetzen. Wann immer es beispielsweise um die Zusammenarbeit mit einem Wettbewerber (hierzu zählen wie bereits gesagt eben auch potentielle Wettbewerber) geht, findet das Kartellrecht Anwendung, es schwebt sozusagen wie ein scharfes Damoklesschwert über allen Formen der Zusammenarbeit. Häufig wird verkannt, dass auch der Informationsaustausch sehr stark reglementiert ist. Gerade bei solchen Fragen werde ich oft erst dann konsultiert, wenn das Kind bereits sprichwörtlich in den Brunnen gefallen ist, also entweder die Kartellbehörde bereits aktiv ist oder ein zivilrechtlicher bzw. arbeitsrechtlicher Streit bei Gericht liegt, bei dem das Kartellrecht eine zentrale Rolle spielt. Dies hätte in vielen Fällen vermieden werden können.

Aber auch die Verbandsarbeit ist aus denselben Gründen ein typisches Minenfeld, bei dem es für Unternehmen häufiger zu Explosionen kommt, die durch eine vorherige Entschärfung hätten vermieden werden können. Nicht nur das Verhältnis von (potentiellen) Wettbewerbern zueinander ist von ausserordentlich hoher Relevanz, sondern auch das vertikale Verhältnis, also zum Beispiel das Verhältnis zwischen Hersteller und Abnehmer. Hier findet das Kartellrecht genauso Anwendung.

Das allerwichtigste Thema, mit dem sich ein KMU auseinandersetzen muss, ist die Frage, ob es ein vernünftiges Compliance Management System (kurz: CMS) hat. CMS hört sich immer sehr komplex und wenig greifbar an, was es jedoch nicht ist. Ein kartellrechtliches CMS behandelt den Unternehmensalltag in all seinen Nuancen und gibt vor, wie dieser kartellrechtsneutral gestaltet werden kann, um mögliche Bussgeldrisiken vom Unternehmen fern zu halten. Aber auch individuelle Risiken für einzelne Mitarbeiter werden so vermieden. Dies fängt bei einer Kündigung wegen kartellrechtswidrigen Verhaltens an und geht über behördliche Bussgelder gegen einzelne Mitarbeiter bis hin zu (strafrechtlichen) Auslieferungsersuchen von Drittstaaten.

Xecutives.net: Dieser Punkt scheint vielen Unternehmen und ihren Verantwortlichen oft nicht klar zu sein…

Jens Steger: Ja, ein sehr häufiger Trugschluss ist es tatsächlich, dass Unternehmen, denen kartellrechtswidriges Verhalten in einem Land dieser Welt vorgeworfen wird, meinen, durch ihren Sitz in einem anderen Land quasi immun vor Strafe zu sein. Diese Sichtweise ist weit gefehlt. Die Schweizer Wettbewerbskommission beispielsweise hat eine enge Kooperationsvereinbarung mit der Europäischen Kommission, wenn es um die Anwendbarkeit des Kartellrechts geht. Die Europäische Kommission ist ferner sehr eng verknüpft mit allen relevanten Kartellbehörden weltweit, so dass der behördliche Informationsaustausch tadellos funktioniert. In Deutschland hatten wir gerade innerhalb sehr kurzer Zeit den zweiten Fall der Auslieferung eines Top-Managers an die USA wegen kartellrechtswidrigen Verhaltens. In beiden Fällen befanden sich die Manager auf der Durchreise am Flughafen in Deutschland, als sie von der Bundespolizei festgenommen wurden, da es einen internationalen Haftbefehlt (Interpol Red Notice) gegen sie gab.

Was ich zudem sehr häufig – branchenübergreifend – erlebe, ist die immer wiederkehrende Aussage: «Wieso sollen wir das ändern, dass funktioniert bei uns doch schon seit Jahrzehnten prima!?». Eine fast natürliche Reaktion im Unternehmen, wenn ich als Rechtsberater kartellrechtliche Bedenken gegen geübte und lang eingespielte Verhaltensweisen im Unternehmen äussere. Diese Aussage ist in ihrer Pauschalität jedoch weit gefehlt. Das internationale Kartellrecht hat sich vor allem in den letzten 10 Jahren stark weiterentwickelt, so dass Verhaltensweisen, die vielleicht vor längerer Zeit noch legitim gewesen sein mögen, heute nicht mehr zulässig sind. Die zahlreichen Gesetzesänderungen und die korrelierende Fortentwicklung der Rechtsprechung und Behördenpraxis macht es zur zwingenden Voraussetzung, dass Unternehmen sich mit dem Kartellrecht auseinandersetzen. Auch dies gewährleistet ein vernünftiges CMS.

Xecutives.net: Was droht Unternehmen, wenn sie die besagten Punkte nicht genügend beachten? Können Sie ein Beispiel nennen, in dem einem KMU aufgrund von Nachlässigkeiten in Sachen Vorsicht im Bereich Wettbewerbs- und Kartellrecht Schaden entstanden ist?

Xecutives.net-Interview Dr. Jens Steger Rechtsanwalt
Rechtsanwalt Dr. Jens Steger

Jens Steger: Unternehmen, welche die angesprochenen Punkte nicht beachten, droht ein behördliches Bussgeld von bis zu 10 Prozent des weltweiten Konzerngruppenumsatzes. Dieses Risiko kann sich in Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug schnell um die Anzahl der betroffenen Länder multiplizieren. Zudem sind auch die Rechtsverfolgungskosten nicht zu unterschätzen. Ebenso wird das Unternehmen zahlreiche Ressourcen vorhalten müssen, um die interne Aufarbeitung des Falles zu begleiten. Ist ein Kartellfall bei der Behörde erst einmal abgeschlossen, drohen die Kartellschadenersatzverfahren der Kunden des Unternehmens, welche die zu viel gezahlte «Kartellrendite» zurückfordern. Die Schadensersatzforderungen in Kartellschadenersatzverfahren können die ursprünglich durch die Behörde verhängten Bussgelder noch übersteigen.

Als Beispiel nenne ich Ihnen einen aktuellen Fall, mit dem ich vor Kurzem betraut wurde: Ein KMU hat vor einiger Zeit einen Mitarbeiter von einem Wettbewerber «übernommen» und als Leiter Grosskundenvertrieb eingestellt. Drei Jahre nach dessen Anstellung zeigte sich, dass dieser Mitarbeiter in Markt-, Kunden- und Preisabsprachen verstrickt war. Dies war aufgefallen, nachdem sich der Geschäftsführer eines Verbands an den Geschäftsführer meiner Mandantin wandte. Daraufhin wurde ich eingeschaltet. Obwohl mein erster Rechtsrat war, den Sachverhalt zunächst geräuschlos im Hintergrund aufzuarbeiten und das monierte Verhalten abzustellen sowie den betroffenen Mitarbeiter keinesfalls vorschnell zu entlassen, wurde dieser fristlos gekündigt.

Dies mündete in einen Streit über die fristlose Kündigung vor dem Arbeitsgericht. Parallel dazu fing die Kartellbehörde auf Grundlage eines anonymen Hinweises an zu ermitteln, mit äusserst unangenehmen Folgen für meine Mandantin. Wäre der Mitarbeiter noch im Unternehmen verblieben, hätte das Unternehmen die Möglichkeit gehabt, sich mit einem «schnellen» Kronzeugenantrag zu retten, um ein Bussgeld der Behörde zu vermeiden. Diese Chance wurde vertan, da der Mitarbeiter (verständlicherweise) nicht mehr kooperationsbereit war. Die interne Aufarbeitung im Unternehmen dauerte zu lange, so dass ein vom Kartell ebenfalls betroffener Wettbewerber zuerst einen Kronzeugenantrag stellte und damit das «Windhunderennen» um den Kronzeugenantrag gewann. All dies hätte durch ein vernünftig funktionierendes CMS sehr wahrscheinlich vermieden werden können.

Xecutives.net: Wir haben jetzt darüber gesprochen, was man tun muss, was sehr wichtig ist. Nun gibt es aber, auch wie in anderen Bereichen von Compliance, durchaus Bereiche, die eine weniger grosse Rolle spielen und die man auch pragmatisch angehen kann und darf. Natürlich kommt es dabei immer auf das spezifische Unternehmen und seine Tätigkeit an. So spielt der Datenschutz in einem Versicherungsunternehmen sicher eine grössere Rolle als in einer Grossspenglerei. Welches sind Kartell- und Wettbewerbs- Aspekte, die Ihres Erachtens möglicherweise zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und einem Unternehmen auf diese Weise schaden können?

Jens Steger: Die Medienberichterstattung fokussiert sich meist auf grosse Zusammenschlussfälle oder aber Fälle, in denen es um den Missbrauch von Marktmacht geht. Die Zusammenschlusskontrolle findet grundsätzlich erst dann Anwendung, wenn Unternehmen bestimmte Umsatzschwellenwerte erfüllen, was bei KMU häufig nicht der Fall ist. Die sogenannte Marktmachtmissbrauchskontrolle findet grundsätzlich immer dann Anwendung, wenn es sich um marktmächtige Unternehmen handelt, also Unternehmen mit Marktanteilen ab vierzig Prozent. Diese Bereiche können also bei KMU grundsätzlich zumeist vernachlässigt werden. Dies bedeutet aber nicht zugleich, dass das gesamte Kartellrecht bei einer M&A Transaktion ausgeblendet werden darf.

Andererseits gibt es gerade in Europa viele «Hidden Champions», also KMU, die für ihr jeweiliges Nischenprodukt letztlich Weltmarktführer sind, so dass die Marktbeherrschungskontrolle ein wichtiger Aspekt bei der kartellrechtlichen Risikobeurteilung darstellt. Zum Kartellrecht im Rahmen von M&A Transaktionen hat der Kollege Dr. Steffen Dietz im Interview mit Ihnen ja bereits präzise Ausführungen gemacht, bei denen es sich um den (verbotenen) Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern im Rahmen eines M&A Prozesses handelt, der in der Tat eine häufig übersehene Fallgrube darstellt.

Xecutives.net Dr. Jens Steger M&A

Xecutives.net: Kommt es zu einem Fall im Wettbewerbs- und Kartellrecht, wie wir sie aus den Medien kennen, fragt es sich, wie sich ein Unternehmen verhalten soll. Was raten Sie dem Management von Unternehmen, wenn klar wird, dass Gesetzesvorschriften verletzt worden sind? Was kann ein Unternehmen in solchen Fällen tun, um den Schaden zu begrenzen?

Jens Steger: Es sollte sofort ein Kartellrechtsexperte hinzugezogen werden, der den Fall beurteilen und kategorisieren kann. Sodann kann die exakte Strategie festgelegt werden. Generell ist jeder Fall als Einzelfall zu beurteilen und mit den weiteren unternehmerischen Interessen abzuwägen. Danach wird entschieden, wie verfahren wird. Hier gibt es üblicherweise einen vernünftigen Instrumentenkasten, der angewendet werden kann.

Xecutives.net: Mir sind Fälle bekannt, in denen man zuerst versucht hat, Verstösse unter den Teppich zu kehren oder in denen man eine Zusammenarbeit mit den Behörden blockiert und erschwert hat. Meiner Ansicht nach kommt das selten gut. Wie verhält es sich Ihres Erachtens mit der Zusammenarbeit mit Behörden? Was sind Ihrer Ansicht nach die Dos und Dont‘s in solchen Fällen?

Jens Steger: Ja, diese Fälle gibt es. Es ist grundsätzlich nicht ratsam, sich der Kooperation mit der Behörde zu verweigern. Sobald ein Verdachtsmoment für kartellrechtswidriges Handeln aufkeimt, sollte der Rechtsrat eines Kartellrechtsexperten eingeholt werden. Dies ist unumgänglich. Die Liste der Dos und Don’ts ist lang und von Fall zu Fall unterschiedlich. Dennoch gilt: Solange noch kein kartellbehördliches Verfahren begonnen wurde, kann das Unternehmen durch eine geschickte Strategie das kartellrechtliche Bussgeldrisiko minimieren oder sogar auf Null herunterfahren, teilweise schon indem das kartellrechtswidrige Verhalten durch ein wirksames Massnahmenpaket abgestellt wird. Hier kommt es auf sehr fein nuancierte Einzelheiten an. Das Unternehmen ist also keineswegs verpflichtet, proaktiv auf die Kartellbehörde zuzugehen, um dort zu «beichten». Ist das ursprüngliche (und nun abgestellte) kartellrechtswidrige Verhalten dann einmal verjährt, kann es von der Kartellbehörde nicht mehr erfolgreich verfolgt werden.

Xecutives.net: Wie andere Rechtsgebiete, wird sich auch das Wettbewerbs- und Kartellrecht weiterentwickeln. Was wird in Zukunft in Bezug auf dieses Rechtsgebiet noch passieren?

Jens Steger: Das Kartellrecht befindet sich zurzeit grösstenteils noch in einem Zustand, der geschaffen wurde, um wettbewerbsschädliche Verhaltensweisen in der «alten» Industrie abzudecken und zu behandeln. Es laufen gerade weltweit zahlreiche Überlegungen der Gesetzgeber, wie das Kartellrecht besser auf digitale Geschäftsmodelle angewendet werden kann. Hier gibt es nämlich (Stichwort Facebook) zahlreiche Regelungslücken. Insgesamt wird das Kartellrecht in der nahen Zukunft deutlich moderner gestaltet werden, sodass es auch Sachverhalte der «New Economy» besser abbilden kann. In Deutschland wird zum Beispiel gerade die 10. GWB-Novelle erarbeitet, die sich genau dieses Ziel gesetzt hat.

Xecutives.net: Herr Steger, besten Dank für die Zeit, die Sie sich für dieses Interview genommen haben. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg und freue mich auf einen nächsten Gedankenaustausch!

(C) 2020 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.


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