Kaspar M. Fleischmann, geboren 1945, gehört zu den bedeutendsten Fotogaleristen und Fotosammlern auf der Welt. Im Jahr 1979 gründete er die Galerie „Zur Stockeregg“ in Zürich und setzte mit der Gründung des Fotografie-Sektors der ART Basel, als Mitinitiator der Photography Show New York und der Paris Photo bedeutende Meilensteine in der Foto-Kunst. Der studierte Ökonom (lic. oec. HSG) und Ethnologe (lic. phil. I) hat sich sein Leben lang auch wissenschaftlich mit der Fotografie auseinandergesetzt. Nebst bedeutenden Schenkungen von Fotokunst an das Kunsthaus Zürich und das Fotomuseum Winterthur ermöglichte Kaspar M. Fleischmann im Jahre 2006 über die Dr. Carlo Fleischmann Stiftung eine Professur für „Theorie und Geschichte der Fotografie“ an der Universität Zürich. Im Gespräch mit Christian Dueblin spricht er über die Entstehung der Dr. Carlo Fleischmann Stiftung, über die Anfänge der Fotografie, die Fotografie als Kunstform, das Zeitalter der Digitalkameras und erzählt von seinen Visionen und Zielen für die Fotokunst in der Schweiz.
Dueblin: Sehr geehrter Herr Fleischmann, die Dr. Carlo Fleischmann Stiftung fördert seit Jahrzehnten sehr engagiert Projekte der Kunst, Kultur, Bildung und Wissenschaft. Wer war Ihr Onkel, Dr. Carlo Fleischmann?
Kaspar M. Fleischmann: Dr. Carlo Fleischmann war einer von drei Brüdern meines Vaters. Nach dem Tod meines Grossvaters Michael Fleischmann hat er als ältester Sohn die damalige Fleischmann & Co weitergeführt, ein Unternehmen, das vor allem mit Getreide handelte und im Import und Export von Rohstoffen sehr erfolgreich war. In den späten Fünfzigerjahren beschloss Dr. Carlo Fleischmann, einen namhaften Geldbetrag in eine Stiftung einzubringen, die er gegründet hatte. Der Zweck der Stiftung war die finanzielle Unterstützung der Kunst, der Kultur und der Erziehung in der Schweiz. Seit deren Gründung konnte eine Vielzahl grosser und kleiner Projekte unterstützt werden.
Dr. Carlo Fleischmann hatte Gesuchsteller und ihre Projekte immer selber geprüft und entschieden, ob er aus der Stiftung Geld geben wollte oder nicht. Als ich 1974 im Stiftungsrat Einsitz nahm, wollte ich mit der Zeit gehen und etwas mehr Dynamik einbringen. Mein Ziel war es, mehr Gesuchsteller zu berücksichtigen und diese mit kleineren bis mittelgrossen Beträgen zu unterstützen. Solange sich die Antragsteller innerhalb der Zielvorgaben bewegten und das zu erwartende Niveau aufrecht hielten, signalisierte ich in der Regel, dass man den Betrag jährlich budgetieren durfte. So hat die Stiftung beispielsweise das Theater am Neumarkt in Zürich jährlich mit einem gewissen Betrag unterstützt. Dieses Konzept ging sehr gut auf. Wir konnten auf diese Weise in den letzten Jahrzehnten Hunderte von kleineren Projekten finanziell unterstützen und ermöglichen. Wir hatten daneben immer auch noch genügend Geld, um pro Jahr zwei bis drei grössere Projekte unterstützen zu können. So schenkten wir beispielsweise dem Zürcher Zoo vor einigen Jahren die Eisbären, dem Museum Rietberg wiederholt Gelder für Sammlungsankäufe, Spendenbeträge für Spezialschulen, für spezifische Projekte und vieles mehr.
Vor rund vier Jahren habe ich zusammen mit dem Stiftungsrat beschlossen, eine weitere grundlegende Veränderung vorzunehmen. Diese ergab sich aus familiären Gründen. Sie musste nachhaltig und im Sinne des Stifters sein. Wir haben die Stiftung und ihr Vermögen in zwei Blöcke geteilt. Ein Block umfasst die Kunst und Kultur und der zweite Block die Wissenschaft und Erziehung. Aus dem ersten Block haben wir das Kunsthaus Zürich unterstützt, welchem wir seltene Fotocollagen (Fotoplastiken und Fotomontagen) von Herbert Bayer geschenkt haben. Der zweite Block ging an die Universität Zürich, wo am Kunsthistorischen Institut seit 2007 ein Lehrgang für „Theorie und Geschichte der Fotografie“ betrieben wird. Die Stiftung als Ganzes wurde der Universität Zürich überführt und dient heute ausschliesslich der Förderung der Fotografie in all ihren Aspekten. Man kann hier nun im Fach Fotografie nach dem Bologna System schon jetzt Bachelor-, Master- sowie PhD-Abschlüsse machen. Endziel ist ein eigener Lehrstuhl.
Dueblin: Was hatte Ihren Onkel in den Fünfzigerjahren veranlasst, einen grösseren Geldbetrag für kulturelle Zwecke zur Verfügung zu stellen?
Kaspar M. Fleischmann: Mein Onkel war ein sehr gebildeter und kultivierter Unternehmer mit Blick für das Ganze. Ihm war klar, dass das Unternehmertum auch soziale und kulturelle Verpflichtungen mit sich bringt, was ihn heute von vielen Managern unterscheiden dürfte. Zwischen Geschäft und Kultur gab es in seinem täglichen Leben Schnittstellen, die für ihn wichtig waren und die er pflegte. Er interessierte sich sehr für philosophische Fragen und für die Literatur. Die Kunst ganz allgemein hat ihn sein Leben lang begleitet und beschäftigt. Sein Ziel war es, mit dem gestifteten Geld einen kulturellen Beitrag an die Schweiz zu leisten. Da er viel Geld verdient hatte, wollte er der Schweiz auch etwas bieten und zurückgeben.
Dueblin: Herr Fleischmann, auch Sie haben sich intensiv mit Kunst und Kultur auseinandergesetzt. Sie haben 1979 eine der ersten europäischen Fotogalerien in Zürich eröffnet und sind massgeblich dafür verantwortlich, dass die Fotografie in der Schweiz und in Europa einen festen Platz in der Kunst einnehmen konnte. Warum brauchte es in Europa einige Jahrzehnte länger als in den USA, bis man die Fotografie als Kunstform eigener Art anerkannte?
Kaspar M. Fleischmann: Die Antwort ist einfach. Die USA und die Fotografie sind fast gleich alt. In den USA läuft die Fotografie unter „Visual Arts“. Jedes bedeutende Museum in den USA stellt auch Fotokunst aus, die seit Jahrzehnten einen festen Platz im Angebot der Museen hat. Visual Arts beinhaltet in den USA die Malerei, Drucke, Lithographien, Videokunst und eben auch die Fotografie. Es gab nie eine Diskriminierung irgendwelcher Art. In Europa verhielt sich das anders. Mit einer tausende von Jahren alten Kunstgeschichte wurde die Fotografie sehr stiefmütterlich behandelt. Man sah sie zuerst lediglich als Ausdrucks- und Informationsmittel in Tageszeitungen, Zeitschriften oder an Plakatsäulen. Aufgrund dieser konservativen Einstellung war es jahrzehntelang unmöglich, die Fotografie als Kunst zu etablieren. Diese Einstellung war eine der grössten Hürden, die ich während meines nun dreissigjährigen Engagements für die Fotografie nehmen musste. Es bedurfte jahrelanger Arbeit, die Fotografie und ihren Stellenwert vermitteln zu können.
Dueblin: Was hat Alfred Stieglitz, der bekannte Fotograf und Fotogalerie-Pionier, Ihrer Meinung nach für eine Bedeutung für die Fotografie?
Kaspar M. Fleischmann: Fotokunstgeschichtlich und geistesgeschichtlich gesehen ist Alfred Stieglitz eine nicht mehr wegzudenkende Schlüsselfigur in der Welt der Fotografie. Er hat sich schon früh mit unglaublich talentierten Fotografen umgeben, vor allem mit Paul Strand und Edward Steichen. Dieses Trio schrieb Fotogeschichte und hat in der Fotokunst bis heute eine enorme Bedeutung. Stieglitz hatte eine Vision. Er wollte die Fotografie als anerkannte und anderen Kunstrichtungen gleichgestellte Kunstform etablieren. Er war selber ein unglaublich guter Fotograf und brauchte die Fotografie schon sehr früh als Medium künstlerischen Ausdrucks.
1903 gründete er an der Fifth Avenue Nr. 291 in New York die legendäre „Galerie 291“. Er war mit Georgia O’Keeffe verheiratet, einer damals schon sehr bekannten Malerin. Er fing an, die Fotografie in seiner Galerie umgeben von Skulpturen, Malerei, Lithographien, Drucken sowie architektonischen Zeichnungen auszustellen. Auch die Literatur spielte in seiner Galerie eine grosse Rolle. Viele berühmte Schriftstellerinnen und Schriftsteller gingen bei ihm ein und aus. Mit dieser Art interdisziplinärer Ausstellungen und seinem kybernetischen Ansatz gelang es ihm, die Fotokunst in den USA einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Er wollte, dass alle verstehen, dass Fotografie etwas Eigenes ist. Dieses Ziel hat er zweifelsohne erreicht. Bereits ab 1918 war die Fotografie in den USA als eigenständige Kunstform etabliert.
Steichen wurde von Stieglitz nach Europa gesandt und hatte die Aufgabe, die besten Maler in die Fotoausstellungen in seiner Galerie zu integrieren. Strand hatte er mit ins Boot geholt, weil er ein begnadeter Techniker war. Er merkte, dass Strand den physischen Fotoabzug so zur Perfektion treiben konnte, dass dieser zu einem Monument wurde. Diese geballte Ladung von Fotokunst und Fotohandwerk war durchbrechend. Stieglitz brachte dann die Zeitschrift „Camera Work“ heraus. Heute gehört sie zu den wichtigsten Quellen für die Geschichte der Fotografie. Die interessantesten Bilder sind in der Zeitschrift mit einer fantastischen Qualität abgedruckt. Auch enthalten diese Hefte eine Vielzahl von Texten berühmter Schriftsteller.
Dueblin: Sehen Sie sich selber als eine Art Stieglitz in Europa? War er ein Vorbild für Sie?
Kaspar M. Fleischmann: Ich habe in einer Zeit, als man die Fotografie in der Schweiz als Kunstform noch nicht akzeptierte, in Zürich eine Galerie für Fotokunst eröffnet. Viele Menschen schüttelten damals den Kopf und verstanden mich nicht. Ich hatte bei der Eröffnung der Galerie absichtlich Ansel Adams ausgestellt, der damals mit fantastischen Abzügen von Landschaften die Aufmerksamkeit gewinnen konnte. Heute ist er ein absolut anerkannter Fotografieklassiker, dessen Landschaftsbilder für grosse Beträge gehandelt werden. Er hat mit seinen Landschaftsfotografien der High Sierras in den USA sogar bewirkt, dass gewisse Gebiete unter Naturschutz gestellten wurden. Seine Botschaft hatte also Auswirkungen bis in die Politik. Er war auch im Labor ein akribischer Künstler. Der Satz „The negative is the score and the print is its performance.” stammt von ihm. Die „Performance“ war für ihn also das, was man im Labor aus dem Negativ macht. Er war ursprünglich Musiker. Es zog ihn aber in die Natur und diese versuchte er mit seinen Bildern festzuhalten. Seine Bilder dürfen deshalb als musikalische Interpretationen von Orten in der Natur betrachtet werden. Es brauchte kein spezifisches Fotografiewissen, um seine Bilder zu verstehen. Deshalb war Ansel Adams für mich der beste Einstieg ins Galeriegeschäft. Die damals teuerste Aufnahme der Welt, die von Ansel Adams stammte, kostete übrigens 20’000 Dollar. Die Presse interessierte sich für diese Fotografie und kam deshalb in die Galerie. Viele Journalisten, die von Fotografie nicht viel verstanden, meinten, man könne unendlich viele identische Abzüge eines Negativs machen. Es gab sogar Menschen, die angesichts der hohen Preise gewisser Fotografien von Betrug sprachen. Die NZZ berichtete, dass man, wenn man denn in meine Fotogalerie gehen und die Ausstellung anschauen würde, wenigstens schöne Bilderrahmen sehen könne. Daraus können Sie ersehen, dass die ersten Jahre nicht sehr einfach waren.
Dueblin: Was zeichnete diese damals teuerste Fotografie aus, welche in Ihrer Galerie angeboten wurde?
Kaspar M. Fleischmann: Der Name des Bildes war „Moonrise Hernandez“. Es war eine Grabszene mit einem Mondaufgang im Hintergrund. Schon technisch war dieses Bild ein Wunderwerk, weil man sich nicht erklären konnte, wie jemand etwas so Perfektes überhaupt zustande bringen konnte. „Moonrise Hernandez“ von Ansel Adams ist in vielen Museen mit Fotografie in den USA zu sehen und gehört zu den wichtigsten Bildern der Landschaftsfotografie überhaupt.
Dueblin: Wie haben Sie es geschafft, in der Schweiz die Fotografie als Kunst zu etablieren?
Kaspar M. Fleischmann: Die Aufbauarbeit in der Galerie war, wie eben erwähnt, mit sehr vielen Hindernissen verbunden. Ich musste in den ersten Jahren zahlreiche Vorträge halten, war Gast bei Service Clubs und zeigte an speziellen Lunches einem interessierten Publikum Fotokunst. Auch habe ich Kataloge gedruckt und Führungen in der Galerie veranstaltet, immer mit dem Ziel zu vermitteln, warum die Fotografie Kunst ist und es verdient, ernst genommen zu werden. Auch heute, dreissig Jahre nach der Gründung der Galerie, Hunderten von Anlässen und über 140 Ausstellungen rund um die Fotokunst, wissen nur die wenigsten Menschen, dass bis dato in der Fotografie nur zwei Fälle von Fälschungen bekannt sind, ganz im Gegensatz zur Malerei, wo Tausende von Fälschungen im Umlauf sind. Ich spreche von der klassischen Fotografie und nicht von der digitalen Fotografie, wo „Fälschungen“ natürlich möglich sind. Wenn Sie heute beispielsweise ein Negativ von Stieglitz aus dem Jahre 1921 haben, können Sie das Bild nicht einfach im Labor abziehen und als echt verkaufen. Das Bild würde von Kennern sofort als Bild von heute und eben nicht als Originalabzug erkannt werden. Man kann die beiden Bilder nicht vertauschen, dies nur schon aufgrund des Alterungsprozesses, welcher sich nicht fälschen lässt. Dazu kommen die chemischen Entwicklungsprozesse von damals, die heute oft gar nicht mehr nachvollzogen werden können, eigene handbeschichtete Papiere aber auch Lichtquellen im Labor, die ganz anders waren als heute. Die Fotografen wandten beim Entwickeln ihre persönlichen Tricks und Methoden an. Diese „Geheimformeln“ für das Entwickeln hüteten sie wie ihren Augapfel, etwa so wie die Geheimformel von Coca Cola unter Verschluss gehalten wird.
Dueblin: Viele der bekanntesten Fotokünstler stammen aus Europa. Hier wurden auch die ersten Fotoversuche beispielsweise von Joseph Nicéphore Niépce gemacht. Das war 1826. Trotzdem konnte sich die Fotokunst in Europa wie bereits erwähnt erst Jahrzehnte nach deren Etablierung in den USA durchsetzen.
Kaspar M. Fleischmann: Das ist richtig und sehr paradox. Viele der grossen Fotografen sind Europäer. Sie sind aber in den USA entdeckt worden. Ich versuchte in den letzten Jahrzehnten, diese Ikonen wieder nach Europa zurückzuholen. Einige lebten in den USA, da nur dort ein ernsthaftes Interesse an der Fotografie bestand. Die Fotografien wurden dort in Galerien gehandelt und in Museen ausgestellt. Es gab viele Versuche, die Fotografie in Europa als Kunstform einzuführen. Nadar, alias Gaspard-Felix Tournachon, beispielsweise stieg damals in einem Heissluftballon über Paris auf und wurde fotografiert. Daumier schrieb 1896 in der Bildlegende:“ Nadar, élévant la photographie à la hauteur de l’Art.“
Diese frühen Versuche, die Fotokunst zu etablieren, scheiterten jedoch alle an einem sehr konservativen Denken über das Verständnis des Kunstbegriffs. Später gab es Versuche mit dem Pictorialismus. Es handelte sich um einen neuen Kunstgriff der Fotografen, die über der Geringschätzung ihrer Kunst frustriert waren. Sie versuchten, ihre Fotografien mit der Malerei zu verbinden und die Fotografie so als Kunst ins Licht zu stellen. Die Fotografien wurden ‚malerisch’ bearbeitet, im Labor ‚verweicht’ sowie unpräzise und warm gemacht. Die pictoriellen Fotografien gleichen einem gemalten Bild. Werke dieses Stils sind heute unter Sammlern sehr gesucht und es werden grosse Beträge dafür bezahlt. Aber auch der Pictorialismus scheiterte insofern, als dass die Fotografie in Salons immer noch ein Nischendasein pflegte.
Dueblin: Viele der berühmtesten Fotografen waren auch Maler, ich denke dabei etwa an Man Ray oder Henri Cartier-Bresson. Zeichnet diese Fotografen etwas Spezielles aus?
Kaspar M. Fleischmann: Das ist schwer zu sagen und kann nicht generell beantwortet werden. Ein gutes Beispiel für einen Künstler, der sowohl in der bildenden Kunst als auch fotografisch tätig war, ist Brancusi. Er war Bildhauer und Fotograf. Seine Fotokunst ist nur dann interessant, wenn man weiss, warum er eigentlich fotografierte. Er tat dies nur, weil er der Meinung war, dass man seine Skulpturen aus unendlich vielen Blickwinkeln anschauen könne, aber eine Perspektive allein die richtige und gültige sei. Diesen einzig richtigen Standort für die Betrachtung seiner Skulpturen konnte er dank der Fotografie zeigen und festhalten. Deshalb setzte er sich eingehend mit dieser auseinander und gehört heute zu den herausragenden Fotografen der Welt.
Dorothea Lange sagte einmal, dass es kein Zufall sei, dass ein Fotograf ein Fotograf werde, ebenso wie es kein Zufall sei, dass ein Löwenbändiger ein Löwenbändiger werde. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür, dass sich ein Mensch mit der Fotografie als Kunst auseinandersetzt und was unterscheidet ihn von einem Hobby-Fotografen, deren es viele gibt?
Jeder Künstler sucht den Ausdruck. Es geht um das Grundprinzip, dass jeder Druck den Ausdruck sucht. Die meisten Menschen verspüren einen inneren Druck, den sie gerne abbauen möchten, indem sie beispielsweise sportlich und/oder kreativ tätig sind. Dieser innere Druck ist beim Künstler oft stärker und auch spezifischer als bei anderen Menschen. Die Fotografie ist also eine Art Ventil, um diesen inneren Druck abbauen zu können. Der Fotograf will das, was er sieht, mit einem künstlerischen Akt ausdrücken, eben der Fotografie. Dabei müssen wir das Schauen und das Sehen unterscheiden. 99% der Menschen schauen. 1% der Menschen sieht. Der hervorragende Fotograf sieht. Er muss in der Regel mit Gegebenheiten arbeiten, die er nicht ändern oder beeinflussen kann. Er kann sie nur sehen. Gut sehen ist ein mentaler Akt und auch ein Herzensakt. Daneben braucht er seine Vision. Ein sehr guter Fotograf kann seine eigene Gefühlswelt und die ihn umgebende materielle Welt intellektuell in eine Vision umsetzen.
Dueblin: Sie haben das sehr schön erklärt, haben aber in Ihrer Erklärung die Technik nicht erwähnt. Es gibt Fotografen, die mit banalster Technik unglaubliche Bilder gemacht haben. Ich denke an Edward Henry Weston. Was spielt die Technik in der Fotografie für eine Rolle?
Kaspar M. Fleischmann: Ihre Aussage ist sehr richtig. Man sagt deshalb auch, wichtig sei der Mann hinter der Ausrüstung und nicht die Ausrüstung vor dem Mann. Das ist ein bedeutender Schlüsselsatz. Er trifft auch auf Edward Weston zu. Einige der bedeutendsten Fotografen haben mit ganz banalen technischen Hilfsmitteln die besten Fotografien gemacht. Die sehr guten Fotografen haben das Bild, das sie machen wollen, bereits in ihrem Kopf. Sie müssen dann die richtigen Handlungen vollziehen, um dieses ‚schiessen’ zu können. Es muss alles stimmen, vom richtigen Licht vor Ort bis hin zur Chemie, die für die Abzüge verwendet wird. Der Kunstfotograf wird also nur dann abdrücken, wenn er sicher ist, dass alle äusseren Voraussetzungen für das Bild, das er bereits im Kopf hat, erfüllt sind. Im Labor folgt sodann die entscheidende Interpretation des Negatives sowie deren Umsetzung durch die Hände des Künstlers. Das unterscheidet ihn vom Hobby-Fotografen und darin besteht natürlich auch ein wesentlicher Unterschied zur digitalen Fotografie.
Dueblin: Irgendwann in den Siebziger- und Achtzigerjahren kamen die ersten kleinen Handkameras in Umlauf. Heute besitzt fast jeder eine Digitalkamera. Mich würde es interessieren, ob dies Ihres Erachtens Auswirkungen auf die Menschen und die Gesellschaft hat, insofern, als man heute alles schnell ablichten kann und Millionen von Fotos geschossen werden? Führt das zu Bewusstseins- oder Wahrnehmungsveränderungen in unserer Gesellschaft?
Kaspar M. Fleischmann: Das ist ein sehr grosses Thema, das mich seit vielen Jahren beschäftigt. In meinem neusten Buch, das ich eben herausgegeben habe und in dem ich mich mit 30 Jahren Galeriearbeit auseinandersetze, habe ich geschrieben, dass wir in den nächsten 10 Jahren die Aufgabe haben, kristallklar zwischen der digitalen und der analogen Fotowelt zu unterscheiden. Die digitale Welt geht in die vom berühmten Physiker Hawkins beschriebene Richtung. Er sagt, dass alles immer schneller und gleichzeitig komplexer werde. Das digitale Fotografieren, wie wir es heute betreiben und beobachten, hat mit Geschwindigkeit und mit Masse zu tun. Dazu gesellt sich auch Oberflächlichkeit. Man sucht heute das gute Bild aus mehreren tausend Bildern aus.
Die analoge Fotografie hingegen funktioniert ganz anders. Bei ihr geht es um Langsamkeit und um das gezielte, sanfte und sauberere Vorgehen beim Fotografieren. Das digitale Bild haben Sie unmittelbar vor sich und können es problemlos löschen und noch mehrere Male wiederholen, wenn es Ihnen nicht gefällt. Beim analogen Bild haben Sie dieses vorerst im „Kasten“. Wenn eine Foto schlecht ist, wird sich das erst beim Entwickeln im Labor herausstellen. Darum geben sich die Fotografen, die analog fotografieren, sehr viel mehr Mühe und nehmen sich mehr Zeit. Das sind zwei ganz verschiedene Ansätze. Der neue Ansatz hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf andere Lebensaspekte. Er verändert die Qualität der Beobachtung und unsere Einstellung der Zeit gegenüber. Die Dimensionen der neuen Technik sind heute noch nicht ersichtlich. Es ist aber, als würden beim Zeichnen und Malen von einem Tag auf den anderen der Bleistift und der Pinsel ersetzt.
Dueblin: Viele Fotografen verstanden sich als Handwerker und nicht als Künstler. Ist das Fotografieren auch ein Handwerk?
Kaspar M. Fleischmann: Das Fotografieren auf höchstem Niveau bedarf handwerklichen Geschicks, Geduld und ist ein künstlerischer Akt. Das war immer so und wird sich nicht ändern. Die besten Fotografen waren tatsächlich ausgezeichnete Handwerker. Sie mussten etwas von einem Film auf Papier bringen. Die Abzüge, die sie hier in diesem Raum sehen, sind alles sogenannte Vintage Prints und deshalb auch sehr teuer. Der Vintage Print wird vom Fotografen, zur Zeit der Entstehung des Negativs, eigenhändig abgezogen. Mit der heute weitverbreiteten Digigrafie, wie ich sie nenne, im Gegensatz zur herkömmlichen analogen Fotografie, wird es zu grossen Veränderungen in der Fotoszene kommen. Es könnte in naher Zukunft schwierig werden, im Laden einen Film zu kaufen.
Dueblin: Was wünschen Sie sich für die Schweiz und die Fotografie und was möchten Sie in Bezug auf die Fotografie weiter erreichen?
Kaspar M. Fleischmann: Ich habe in den letzten Jahren sehr viel mit der Universität Zürich zusammengearbeitet. Dort habe ich – wie bereits erwähnt – mit der Dr. Carlo Fleischmann Stiftung einen Lehrgang für Theorie und Geschichte der Fotografie ermöglicht. In diesem Zusammenhang stehe ich auch mit dem Fotomuseum in Winterthur und dem Kunsthaus Zürich im Kontakt, denen ich ebenfalls schon früh die Bedeutung der Fotografie aufzeigen konnte. Ich würde gerne weiterhin die Galerietätigkeit aufrecht erhalten und vor Ort ein Zentrum für Kunst, Kultur, Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Fotografie kreieren, so dass Zürich in diesen Bereichen weltweit führend wird. Wir sind auf dem besten Weg, dieses Ziel zu erreichen. Ich arbeite daran, dass die Studierenden der Universität Zürich auch mit Originalen arbeiten können. In Seminaren und Workshops sollen sie den richtigen Umgang mit dem Material lernen. Es ist ferner möglich, über gewisse fotografische Themen zu dissertieren und die Archivierung und Pflege von Fotografien zu erlernen. Ich hoffe, dass sich eine Eigendynamik entwickeln wird und sich vielleicht auch einmal der Kanton und der Bund einbinden lassen werden. Bedingungen solcher Art machen ein Studium hier in Zürich heute schon sehr attraktiv. Ich wünsche mir, dass meine Vision vollends in Erfüllung geht, denn damit könnte ich das, was ich in den letzten drei Jahrzehnten in Bezug auf die Fotografie aufgebaut habe, konsolidieren und einen bleibenden Wert erschaffen. Ich wünsche mir zudem, dass die Schweiz eine Leaderstellung in Bezug auf die Kunst, die Forschung und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fotografie einnehmen kann.
Dueblin: Sehr geehrter Herr Fleischmann, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen und Ihren Projekten weiterhin viel Erfolg.
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Links
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